Kapitel Eins - Erkenntnisse
Tori Zanil lag in seiner Hängematte auf seinem Balkon und ließ sich die Sonne auf die Brust scheinen. Doch das hatte nicht viel Wirkung, außer, dass er einen Sonnenbrand bekam. Und das schon seit Jahren. Mit seinen 23 Jahren war er immer noch so blass wie ein Aristokrat. Es war zwar eine vornehme Blässe, aber dennoch eine Blässe. Tori nahm an, dass das genetisch bedingt war. Vielleicht hing es damit zusammen, dass er ein Mischling war. Zu einem Teil ein Japaner, zum anderen ein Deutscher. Eigentlich hatte sich Tori noch nie Gedanken um seine Herkunft gemacht. Es war ihm egal gewesen, schließlich lebte er hier und jetzt und war mit dem Leben zufrieden, was er führte.
Nein, das war nicht wahr. Er war nicht zufrieden. Er war genervt. Nach dem Tod seines Vaters hatte er sich noch weiter zurückgezogen, als er es eh schon bereits getan hatte. Keine Freunde. Nur Arbeit. Wobei das eigentlich nicht das Problem war. Er mochte es alleine zu sein und seine Ruhe zu haben. Er hatte mit anderen Menschen schon immer schlechte Erfahrungen gemacht. Immer dann wenn er sich öffnete und es zuließ, dass man ihm näher kam, wurde er verletzt. Also hatte er es sich zu Eigen gemacht, dass er zu anderen immer freundlich war, trotzdem aber niemanden an sich heran ließ.
Das wahre Problem lag bei seiner Mutter. Sie war verrückt. Versteckte sich hinter Vorhängen, führte Selbstgespräche, beobachtete andere Leute und war aggressiv zu ihm, während sie sich anderen Personen gegenüber vollkommen normal verhielt. Tori hatte es bereits in Erwägung gezogen sie in eine psychologische Anstalt einweisen zu lassen, doch hatte er es bis jetzt noch nicht getan. Vielleicht hinderte er sich selber daran, weil er dachte, dass es doch seine Mutter sei. Seine Gefühle hinderten ihn bestimmt nicht daran, denn er hatte keine für sie übrig. Seine Mutter war ihm gleichgültig. Schließlich war sie nicht seine leibliche Mutter, sondern nur seine Adoptivmutter. Welch ein Glück, so war er sich sicher, dass er diesen Wahnsinn wenigsten nicht vererbt bekommen hatte.
Tori wurde etwas schwindlig, als er versuchte aus der Hängematte herauszukommen. Kurz drehte sich alles und er fand sich auf dem Boden wieder. Allerdings war er auf allen Vieren gelandet, wie eine Katze. Das war eine Fähigkeit, die er schon seit seiner Kindheit hatte. Wann immer auch er von irgendwo herunter fiel, er landete immer auf seinen Armen und Beinen. Als Kind hatte er es auch so gemacht, dass er sich auf den Zaun der Veranda gelegt und ausgestreckt hatte, wie eine Katze. Ab und an machte er das sogar heute noch.
Er stand auf, lehnte sich über die Brüstung und sah nach unten in den Garten. Seine roten und weißen Edelrosen blühten gerade in voller Pracht. Ein schöner Anblick, empfand er. Dabei viel ihm das seltsame Erlebnis ein, dass er während seiner Operation gehabt hatte. Diese lag nun auch schon elf Tage zurück. War das wirklich geschehen oder nur eine Illusion gewesen? Eine Wahnvorstellung, eine Vision; schlicht und einfach nur ein Traum? Irgendwie empfand Tori diese Erfahrung als real und dennoch gleichzeitig auch als unwirklich. Es war ein seltsames Gefühl.
Langsam ging er vom Balkon zurück ins Wohnzimmer und setzte sich dort auf den bequemen Fernsehsessel. Jedes mal wenn er zur Ruhe kam und versuchte zu Meditieren, dann durchzuckte etwas seinen ganzen Körper. Auch diesmal war es so. Tori stand wieder auf und ging hinaus. Barfuß und nur mit einer kurzen Hose bekleidet ging er spazieren. Hinterm Haus und an den Nachbarhäusern vorbei, überquerte er eine Wiese, passierte drei kleine Fischweiher und tauchte in dem anschließenden Wald ein.
Es war frisch und die Sonne drang nicht ganz durch das Blätterdach hindurch. Einige kleine Steine und Tannenzapfen pieksten Toris Ferse, doch das war er gewöhnt und ignorierte es. Einige Schritte weiter blieb er stehen, weil ein Geräusch seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Ein Mann kam von einem abzweigenden Nebenweg herab. Er hielt genau auf ihn zu. Tori kannte ihn nicht und als er näher kam, zeigte sich, dass dessen Gesicht androgyn war, während sein Körper äußerst männlich wirkte.
„Hallo.“ Grüßte der Mann.
„Mahlzeit.“ Grüßte Tori zurück.
„Da zweifelt wohl jemand seinem jenseitiges Erlebnis. Nicht wahr?“
„WER sind sie?“ Fragte Tori erschrocken und korrigierte dann seine Frage, als ihm bewusst wurde, was sein Gegenüber gerade gesagt hatte. „WAS sind sie?“
Der Mann lachte und ging dabei durch einen Stapel aufgeschichteter Baumstämme, so als wäre er ein Geist.
„Wir haben nicht viel Zeit. Ohne einen materiellen Körper ist es nicht einfach diese Form beizubehalten.“
Ohne einen materiellen Körper? Tori war für kurze Zeit perplex, fasste sich aber schnell wieder und verarbeitete das, was ihm gesagt wurde.
„Oh, wie ich sehe hast du eine bemerkenswerte Auffassungsgabe.“
„WER oder WAS sind sie?“
„Jessie. Macht es klick?“
Das tat es wirklich. Tori konnte sich plötzlich wieder an jedes Detail dieses Erlebnisses erinnern. So, als wäre es gerade erst eben passiert.
„Ja. Ich erinnere mich wieder. Bist du ein Mann oder eine Frau?“
„Kommt auf das Leben an. Wie du weißt ist der Tod, wie die Menschen ihn sich vorstellen, nicht das was er zu sein scheint. Die Seele verlässt den Körper und kann dann frei von allen körperlichen Beschränkungen auf die Reise gehen. So war es schon immer.
Ich erkenne einen Gedanken in dir. ‚Da oben müsste es schon ziemlich voll sein.’ Aber dem ist nicht so. Die Zahl der Seelen steigt nur sehr langsam. Seit Anbeginn der Erdgeschichte und des damit einhergehenden Evolutionsprozesses haben sich die Seelen aller Lebewesen in einem Kreislauf der Reinkarnation befunden. Ja, du erkennst richtig. Immer und immer wieder wird die Seele neu geboren und durchläuft dabei den Prozess des Lernens und Wachsens. Mal als Mann, mal als Frau, mal als Tier oder Pflanze. Egal als was. Es ist einem jeden frei gestellt, als was er wieder geboren werden möchte. Mit jedem Lebenszyklus erlangt die Seele mehr und mehr Wissen.
Du fragst dich sicherlich, ob du auch schon mehrere Leben hinter dir hast. Ja, dem ist so. Es ist alles in deiner Seele gespeichert. In dieser Epoche nennt man so etwas ähnliches wohl genetisches beziehungsweise eidetisches Gedächtnis. Das Wissen der Vorfahren und der vorhergehenden Leben.
Um deine Frage nun zu beantworten. Ich bin genauso ein Mann, wie auch eine Frau. Genauso wie du. Es kommt auf das Leben an, das man führt.“
Tori hing an den Lippen von Jessie, sog das Wissen quasi in sich auf. Er war zwar im Sinne des Christentums auf römisch katholische Weise getauft und erzogen worden, doch hatte er nie an so etwas wie Gott oder Teufel geglaubt. Auch wenn seine Eltern ihn als Kind immer dazu gezwungen hatten mit in die Kirche zu kommen. Damals war ihm immer vom Weihrauch schlecht geworden und er hatte Durchfall bekommen. Einige der alten Frauen hatten damals zu ihm ‚bäh’ gesagt, was wohl darauf hinauslief, dass sie ihn für einen Dämonen hielten. Die Kirche war etwas, was er schon seit Kindestagen nicht begriff. Sollte es tatsächlich einen Gott geben, egal welcher Religion, wozu brauchte man eine Kirche? Wäre dann nicht Gott in einem? Wäre man dann nicht immer mit ihm verbunden? Wozu sollte man Geld an die Kirchen zahlen? Weder Gott noch Teufel brauchen Geld. Man selbst braucht kein Geld im Jenseits. Für Tori war das schon immer ein Rätsel gewesen und ein Punkt, weshalb er nie mehr in die Kirche gegangen war, als man ihm die freie Wahl gelassen hatte. Für ihn war das Konzept der Kirche dermaßen falsch, wie des Himmels Banner blau und weiß war.
Jessie breitete seine Arme aus und wurde dabei unklarer. Sein astraler Körper verschwamm zusehends und bevor er ganz entschwunden war, rief er noch etwas.
„Öffne der Menschheit die Augen, damit sie die Wahrheit erkennt!“
Tori stand ganz alleine im Wald. Wie lange er dastand vermochte er nicht zu sagen. Ihm gingen viele Gedanken durch den Kopf. Wichtige. Unwichtige. Theorien. Phantasien. Alles mögliche. Mit einem Mal kam wieder Leben in ihn und er drehte sich um, ging nach Hause. Auf dem Weg schlug es wie ein Blitz in seinem Bewusstsein ein. Wie sollte er bewerkstelligen, dass die Menschen sich von ihren Pseudo-Glaubensrichtungen abwandten, denen sie schon seit Jahrhunderten, ja gar schon seit Jahrtausenden huldigten? Und noch etwas donnerte mit aller Gewalt in sein Bewusstsein: Erwartete man von ihm so etwas wie eine neuer Messias zu sein?