Sie brauchten drei Wochen, um alles für Sandras Ausflug zum Mond fertigzustellen. Schließlich hatten sie ihre einhundert Bücher, aber davor mussten sie zuerst einmal eine Maschine finden, die ohne direkte Verbindung zu ihrem Hersteller auskam. Sandra hatte nämlich zugegeben, dass Peter mit seiner Theorie einer globalen Verschwörung nicht wirklich danebenlag. Es gab tatsächlich hochentwickelte, rasend schnelle Computer, die jegliche digitale Kommunikation mithörten, verdächtiges Verhalten bemerkten und die Forces alarmierten.
Peter hatte versucht, Sandra davon abzubringen, die Reise alleine zu unternehmen, doch am Ende hatten sich seine beiden Ehefrauen gegen ihn zusammengerottet. Sandra allein mochte, auch wenn man ihre genetische Veränderung aus der Ferne erkennen konnte, lange genug am Leben bleiben, um mit dem Computer oder der Besatzung der Station zu reden. Mit einem weiteren "Werwolf" an Bord, würde man ihr Shuttle wohl schon lange abschießen, bevor es den Mond erreichen konnte.
Zwei Tage vor dem nächsten Vollmond trafen sie sich zu einer langen Liebesnacht auf Sandras Wasserbett.
"Wisst ihr was?", meinte sie danach. "Selbst, wenn ich das Buch nicht hätte, könnte ich wohl mit meinen neuerworbenen Fähigkeiten eine Revolution auf dem Mond auslösen. Zumindest eine sexuelle."
Peter stöhnte auf.
Angelina lehnte sich über ihn, der sie beide in den Armen hatte und gab Sandra einen innigen Kuss. "Sie würden dich nicht nahe genug heranlassen aus Angst, du würdest sie alle korrumpieren. Wie könnten sie denn nach so etwas an die Arbeit zurückkehren?"
Sie würden sie schon aus dem Grund nicht in ihre Nähe lassen, das wusste Sandra, weil sie sie alle anstecken würde. So schön das auch wäre, sie musste mehr als vorsichtig sein, was sie dort sagte oder tat.
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Als Sandra auf der Ilhéu das Rólas vor der afrikanischen Küste ankam, wartete ihr kleines Raumschiff zum Mond schon auf sie. Nicht viel größer als ein Lastwagen stand es aufgerichtet hundert Meter entfernt vom Aufzug.Ihr Blick ging automatisch nach oben. Als sie vor zwei Jahren auf der Erde angekommen war, hatte sie die dünnen Stränge aus Nanofäden nicht richtig sehen können, die sich senkrecht in den Himmel erstreckten. Nun waren ihren Augen so gut, dass sie ihnen bis fast in den Weltraum folgen konnte.
36.000 Kilometer über ihr schwebte ein riesiger Felsbrocken knapp außerhalb des stationären Orbits und lieferte damit das Gegengewicht, um die Stränge unter Spannung zu halten.
Sie hatte für die Reise ein zusätzliches Sicherheitspaket beauftragt. Das hieß, dass sie in einem Raumanzug steckte, der um einen Kern aus dreilagigem Graphen gebaut war. Dieser Kern war nur einen halben Nanometer dick, und dennoch konnte nichts Kleineres als eine Atombombe oder ein interplanetarer Meteor ihn zerstören. Nichts Größeres als ein einzelnes Atom konnte ihn durchdringen, ganz sicher kein DNS-Strang.
Das Lebenserhaltungssystem des Anzugs war gut für vierundzwanzig Stunden im All, oder unbegrenzt, solange sie sich in der Reichweite einer der Energiesatelliten im Orbit zwischen Erde und Mond aufhielt.
Objektiv gesehen, konnte sie der Anzug auch nicht retten, wenn etwas mächtig genug war, das Shuttle zu zerstören, in dem sie flog, und genauso objektiv war schon seit fast hundert Jahren überhaupt kein Mensch mehr im All gestorben, aber Menschen handelten ja nicht immer objektiv; viele trugen Raumanzüge während einer Reise durch den Weltraum.
Die Tatsache, dass all dies hier ein Design aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert war, machte Sandra klar, wie sehr die Kreativität auf der Erde verschwunden war. Vom ersten Flugzeug bis zum ersten Mensch auf dem Mond waren gerade einmal sechzig Jahre vergangen. Von Neil Armstrongs berühmtem ersten Schritt bis zur Konstruktion des Aufzugs nur weitere sechzig.
Danach … nichts. All die technischen Spielereien, die sie benutzten, waren vor der Infektion erfunden worden.
"Guten Morgen, Ms. Miller", begrüßte sie das Shuttle mit einer weiblichen Stimme. "Ich habe meine Startvorbereitungen abgeschlossen und all meine Systeme sind grün. Unser Startfenster öffnet sich in zweiundfünfzig Minuten. Möchten Sie etwas zu trinken, um die Zeit zu überbrücken?"
"Danke, Pilot", grüßte sie zurück. Es war nicht wirklich notwendig, zu einem Computer höflich zu sein. Dennoch schien es ihr richtig. "Ich möchte einen Whisky, pur, kein Eis oder Wasser."
"Gern geschehen. Ich habe Single Malt, Bourbon und Irish. Was würden Sie bevorzugen?"
"Glenfiddich, wenn du hast, bitte."
Natürlich hatte sie. Es war schon vorteilhaft, dass sich der Luxus von Menschheit auf ihre Raumschiffe erstreckte.
Das Shuttle war eigentlich ein zweistöckiges Lebenserhaltungssystem mit acht Sitzen, angeflanscht an einen großen Linearmotor, der für die Beschleunigung und das Bremsen am Aufzug sorgte.
Sie war der einzige Passagier an Bord. Abgesehen von Forces auf Urlaub und der gelegentlichen immunen Frau benutzte niemand diese Shuttles. Fracht wurde in ähnlichen Raumschiffen transportiert, wobei eine gleich große Frachteinheit das Passagierabteil ersetzte.
Eine Uhr zeigte ihr die Zeit bis zum Start. Da sie den Aufzug in der Mitte der Mondrückseite erreichen wollte, musste Pilot warten, bis die Erde sich soweit gedreht hatte, bis ein Ausklinken im richtigen Moment ihr Shuttle in die korrekte Richtung für ein Rendezvous mit dem interplanetaren Antrieb fliegen ließ.
*
"Legen Sie Ihr Glas bitte in die Recyclingbox", sagte Pilot nach fünfzig Minuten. "Wir starten in zwei Minuten.""Gibst du mir bitte die komplette Aussicht während des Flugs?"
"Natürlich. Viel Spaß!"
Das Abteil begann sich zu drehen. Kurz darauf lag sie auf dem Rücken. Im selben Moment, als die Beschleunigung einsetzte, verschwanden die Wände.
Zu ihren Füßen sah sie die Stränge des Aufzugs, an denen entlang das Shuttle sich bewegte. Hinter ihr fiel die Erde immer schneller zurück. Vor ihr veränderte sich der Himmel von blau nach schwarz und die Sterne erschienen.
Und da war der Mond. Sie sah viel größer aus als von der Erde aus, und Sie war nahezu voll. Ein Monat zuvor war Sandra noch ein Mensch gewesen. Und nun stand Sie vor Sandra, Xochiquetzal, die schönste aller Göttinnen, Ichpochtli, die furchtlose Jungfrau, lächelte auf das ängstliche Mädchen herab, das durch den Weltraum flog.
Plötzlich fühlte Sandra sich zu Hause, angenommen, geliebt. Zu guter Letzt war sie sich vollständig sicher, dass sie das Richtige getan hatte. Wenn nur …
Es schien ihr, als wäre gar keine Zeit vergangen, bis Pilot sich das nächste Mal meldete. "Bitte überprüfen Sie Ihre Sitzgurte; ich beginne mit dem Rendezvousmanöver."
Mit einem Mal verschwand der Druck der Beschleunigung. Sandra fühlte sich als schwebte sie frei im Weltraum.
Dann bedeckte ein großer Schatten die fast dunkle Erde hinter ihr. Das Gefährt, das an ihr Shuttle andockte, war im Prinzip ein großer Tank und ein Plasma-Antrieb mit einem einfachen Navigationscomputer.
Es war fast nicht zu spüren, als die beiden Raumschiffe sich zu einem einzigen vereinigten, und dann beschleunigten, schwächer als zuvor. Nichtsdestoweniger würde sie in sechs Stunden den Mond erreichen.
Es würde wohl eine weitere Stunde dauern, bis das Shuttle am oberen Ende des Mondaufzugs andockte — der Antrieb blieb im Orbit — in der Mitte der Mondrückseite.
Da der Mond nicht rotierte, gab es dort keinen stationären Orbit. Die einzig möglichen Plätze, um ein Gegengewicht für den Aufzug in Stellung zu bringen, waren die sogenannten Lagrange-Punkte, an denen sich die Schwerkraft von Erde und Mond aufhob. L1 lag vor dem Mond, L2 in einer geraden Linie dahinter, beide etwa 60.000 Kilometer vom Mond entfernt. L3 lag auf der gegenüberliegenden Seite der Erde.
Die anderen beiden solchen Punkte L4 und L5 lagen auf der Spitze jeweils eines gleichseitigen Dreiecks, dessen Grundlinie von Erde und Mond gebildet wurde, fast 400.000 Kilometer vor, beziehungsweise hinter dem Mond auf dessen Umlaufbahn.
Nur L1 und L2 waren vernünftig für einen Aufzug, und L2 war damals ausgesucht worden, mit der Mondbasis genau unter seinem Fuß.
*
Sandra musste geschlafen haben, denn als sie das nächste Mal nach draußen blickte, hing das Shuttle schon an den Strängen des Aufzugs und war auf dem Weg zur Mondoberfläche.Keine Sonne beleuchtete ihren Weg, keine Lichter verrieten die Existenz der Station, die komplett unter der Oberfläche lag.
Nichts bereitete sie auf den Moment vor, da das Shuttle sanft landete. Jetzt fühlte sie sich federleicht in der niedrigen Mondschwerkraft.
Das Passagierabteil drehte sich wieder und ihr Sitz stoppte in aufrechter Position. Der Flug war vorbei; der Mond wartete auf die junge Frau.