[P12] X/O: Gefangen
X/O: Gefangen
Vorschaukapitel
Ein verirrter Sonnenstrahl kitzelte Torii aus dem Schlaf. Er hatte sich vor weniger als vier Stunden hingelegt, als er von seiner Arbeit nach Hause gekommen war. Doch jetzt, aufgewacht, konnte er nicht mehr einschlafen. Zumal er wusste, dass es draußen bereits helllichter Tag war. Die Bettdecke zurückschlagend und seine Augen massierend sah er auf die Uhr. Es war bereits 16 Uhr Nachmittags. Als er den nicht ganz heruntergelassenen Rollladen des Fensters nach oben schob, merkte er, dass die Sonne bereits daran war wieder hinter dem Horizont unterzugehen. Der Himmel hatte sich orange verfärbt und die Wolken glommen in einem schwachen Hauch von rot.
Verschlafen und noch etwas wackelig auf den Beinen ging Torii nur mit Shorts bekleidet ins Bad und wusch sich gründlich. Obwohl er kaltes Wasser benutzte und ein wenig fror, so fühlte er sich immer noch nicht ausgeruht oder ganz wach. Der ganze letzte Monat hatte an seinen Kräften gezehrt. Die Schweinegrippe hatte die Firma in der er arbeitete erreicht und nicht wenige Leute erwischt. Obwohl der Verlauf der Krankheit nicht schwer war, so mussten die Infizierten doch zu Hause bleiben. Was natürlich für die Gesunden, darunter auch Torii, bedeutete, dass sie mehr arbeiten mussten. Für Torii war es natürlich etwas schlimmer, da er ein Springer und deswegen vollkommen überlastet war. Er musste quasi drei Kollegen auf einmal ersetzen, die jetzt unter Quarantäne standen. Was soviel bedeutete wie, dass er mehrmals in der Woche die Schicht wechseln musste. Das hatte seine Kräfte sehr schnell schwinden lassen.
Mit einer langen Wüstentarnhose und einem kurzen schwarzen T-Shirt bekleidet machte Torii sich erst einmal einen schwarzen Tee. Er lehnte sich an den Küchentisch und ließ den Tee ziehen, während er die Zeitung vom heutigen Tag las. Es war nicht wirklich etwas dabei, was ihn interessierte. Dennoch blätterte er kurz durch, um zu sehen, welch schlechte Taten einige Menschen nun wieder verbrochen hatten.
Eine Uhr piepte mehrmals von irgendwoher und Torii wusste daher, dass es nun 17 Uhr war. Die Sonne strahlte golden und ihre Scheibe war bereits zur Hälfte hinter dem Horizont verschwunden. Torii legte die Zeitung bei Seite und trank den heißen Tee mit einem Zug aus. Die Tasse stellte er aufs Spülbecken, denn zum Abwaschen hatte er derzeit keine Lust. Das wollte er später erledigen. Jetzt aber beabsichtigte er sich etwas anderem zu widmen. Dem Spaß.
Der Anzug war eng, aber das musste so sein. Jeder einzelne Muskel war zu erkennen, selbst einige Sehnen. Torii hatte sich seinen tiefschwarzen Motion-Capture-Suit angezogen, der mit seinen leuchtenden weißen Punkten und Linien seine Gelenke und Muskeln überzog. Mit dem MCS war es möglich den Avatar, den man in einer virtuellen Welt verkörperte, zu steuern. Obwohl der Anzug einen Hauch von Futuristik mitbrachte, so war es doch nicht möglich Dinge wie Schmerz oder Berührungen zu simulieren. Vielleicht irgendwann mal, aber das würde wohl noch so einige Jahre oder Jahrzehnte auf sich warten lassen. Torii setzte sich seine Virtuelle-Realitäts-Brille auf, obwohl sie noch nicht eingeschaltet war. Ein Doppelklick auf das X/O Symbol auf dem Bildschirm des Tablet PCs und das Programm fragte nach, ob die VR-Soft- & Hardware aktiviert werden sollte. Ein bestätigender Klick später befand sich Torii bereits in einer künstlichen dreidimensionalen Welt.
Eine blaugrüne Welt schwebte durch die Finsternis des Weltalls. Es war die Erde. Der Torus -ein gewaltiges Ringkonstrukt, dass vor allem zur Abwehr diente, aber auch Wohnungen und Grünanlagen beherbergte- blinkte. Das Spiel lud.
Während es das tat, wurden einige Regeln des Spieles eingeblendet. So sollte man nicht absichtlich die Verbindung trennen, das Spiel unnormal beenden oder den PC ausschalten. Auch sollte man sich anständig und stets immer höflich verhalten, sowie sich hilfsbereit geben. Weitere Regeln und hilfreiche Tipps konnte man innerhalb des Spiels in der Enzyklopädie nachschlagen.
Eine Warnung erschien in roten Lettern: Wer sich nicht an die Regeln hielt, würde ohne große Vorwarnung aus dem Spiel gelöscht werden. Das Spiel hatte geladen.
Torii bestätige mit einem Nicken. Noch immer über der Erde schwebend öffnete sich erneut ein Fenster, indem er seinen Nicknamen und Passwort eingeben musste. Schon wurde er nach erfolgreicher Verifizierung zum Status seines Avatars weitergeleitet. Der blauhäutige Teladi passierte gerade mit einem selbstentworfenen Jäger, des Typs Sparverius, den Sektor Ausbeute des Molochs, um zu handeln. Hilbilis Destructulus Zuzaimei I., so sein eingegebener Name, war vor wenigen Minuten von einem Solarring gestartet und hielt nun auf den Planeten Sturzgeschäft zu.
Torii drehte den schwarz-weißen Jäger, der tatsächlich die grobe Form eines Falken besaß, einmal um die Längsachse und bewunderte die rot-blauen Muster, die er nach Beendigung der Konstruktionsphase aufgesprayt hatte. Torii akzeptierte den Status seines Avatars und wurde nun endgültig ins Spiel integriert.
Es war für Torii selbst nach so langer Zeit immer noch gewöhnungsbedürftig mit den drei Klauen eines Teladis zu arbeiten, anstatt mit fünf Fingern eines Menschen. Doch dies war nur in den ersten paar Augenblicken der Umgewöhnung so. Schon nach wenigen Tastendrücken an den Konsolen des Jägers hatte die Gewohnheit wieder Einzug gehalten. Torii hatte den Autopiloten wieder aktiviert, der bei seiner Übernahme automatisch deaktiviert worden war. Da es noch ein paar Minuten dauern würde, bis der Planet erreicht war und die KI den automatischen Landeanflug beginnen würde, hob Torii seinen linken Arm, was auch Zuzaimei dazu veranlasste und tippte mit seiner Rechten auf dem Armband ein paar Befehle ein. Vor seinem Gesicht öffnete sich ein holographisches Fenster, indem er seine Nachrichten ansehen konnte, die er während seiner Abwesenheit bekommen hatte. Doch bevor er Anfing diese durchzuarbeiten fragte er sich, wieso mit dem letzten Update die Anzahl der Sektoren auf 5.153.632 erhöht wurde. Gut, es gab eine Gesamtspieleranzahl von über 35 Millionen, aber die tummelten sich größtenteils in den Kernsektoren, um für die Nichtspielercharaktere Aufträge zu erledigen oder auf den Handelsstationen um miteinander zu reden, was dem Non-VR-Chatten am nächsten kam. Vielleicht hatten die X/O-Programmierer mal wieder ein großes Event im Hinterkopf oder sie hatten einige mehr oder minder seltene Artefakte in den neuen Sektoren versteckt. Aber, wer konnte schon in die Kopfe dieser Leute blicken?
Torii war so sehr in Gedanken gewesen, dass er nicht mitbekommen hatte, dass der Autopilot bereits den Jäger auf
einem Raumhafen gelandet hatte. Zudem hatte er die an ihn gerichteten Nachrichten immer noch nicht überflogen, geschweige denn gelesen.
„Unwichtig. Nicht interessant. Hmm. Naja.“
Die meisten Nachrichten hatten kaum mehr als unterhaltsamen Wert oder bezogen sich auf Anfragen von anderen Spielern, die Hilfe beim Spiel brauchten und wissen wollten wann wieder ein Seminar zu Selbigen in der realen Welt stattfand. Tori brauchte nur wenige Minuten um alle Nachrichten zu beantworten, während er unterdessen bereits den Befehl dazu gegeben hatte die Energiezellen zu ent- und Sonnenblumen wieder einzuladen.
Der Vorgang des Ent- und Beladens dauerte kaum so lange wie die Beantwortung der Nachrichten. Kaum hatte Torii das Nachrichtenholo geschlossen, schon erklang ein heller Gong, der ihn darauf aufmerksam machte, dass er gerade eine neue Nachricht erhalten hatte. Da er gerade eh nicht schwer beschäftigt war und der Autopilot den Start vom Planeten übernahm, öffnete Torii seinen Posteingang erneut und war überrascht, dass die Nachricht mit wichtig gekennzeichnet war. Vor allem da er den Absender kannte und von diesem eigentlich nie eine solche Einstufung bekam. Nach dem Lesen der Nachricht fragte sich Torii was los war. Er war durchaus neugierig geworden. Der Inhalt der Mail sagte nicht viel mehr aus, als das er so schnell wie möglich auf die Handelsstation Enterfalle im Sektor Blaufeuer kommen sollte, da es etwas sehr wichtiges zu besprechen gab.
Der Antrieb brüllte auf, als Torii ihn unter Volllast setzte und auf das Sprungtor zuraste, das sich in der Sektormitte befand. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern bestand dieses Sprungtor nicht aus einem Ring und zwei Auslegern, Sondern hatte drei Ausleger, die nicht miteinander verbunden waren und aus denen jeweils wiederum drei Stabilisatoren ragten. Im Gegensatz zum früheren Konzept, dass ein Sektor ein bis maximal sechs Sprungtore besaß –Ost, West, Süd, Nord, Oben und Unten-, die jeweils zu einem Nachbarsektor führten, musste bei so vielen Sektoren eine neue Konzeption her. Diese bestand eben darin, dass es nur noch mehr ein Sprungtor pro Sektor gab, dieses aber in einen überdimensionalen Raum führte. Da es noch keinen offiziellen Namen dafür gab und nicht mit anderen Dimensionsräumen, wie dem Sub- oder Hyperraum verglichen werden konnte, nannten ihn die meisten Spieler schlicht und einfach Überlichtraum. Im englischen LightSpace, kurz Lice genannt, hatte sich dieser Ausdruck bald bei allen Spielern durchgesetzt. Zu deren Freude konnte der Lice ebenfalls befolgen werden. Der Überlichtraum stellte sich als blauweiße Dimension dar, in der es massenhaft Stürme gab, die nicht ungefährlich werden konnten. Doch wenn man sich an die Navigationsbaken hielt, konnte man diese Dimension sehr wohl unbeschadet passieren. Natürlich entgingen so abenteuerunlustigen Piloten, die Entdeckung von Artefakten oder gar neuen Sektoren.
Torii fand das Konzept gut. Schließlich musste man nicht mehr tausende von Sektoren durchqueren, was einen Spieler Heidenzeit kostete, sondern auch in Ladeorgien ausartete. Natürlich brauchte man nun im Überlichtraum auch eine gewisse Zeit bis man sein Ziel erreicht hatte, aber das war es wert. Vor allem, da man seinen Kurs ändern konnte und auch neue Wege für die Kriegsführung bot. Oh, was hatte Torii schon alles im Überlichtraum gesehen. Ganze Flotten, die einen Sprungwirbel bewachten und so eine Sektorblockade durchführten. Aber wehe man blieb zu lange im Lice. Dann war es unumgänglich, dass sich ein Sturm bildete und einem das Schiff oder gar die ganze Flotte zerstörte. Das war auf die Antriebssektion eines Schiffes zurückzuführen, die durch ihre Interferenzen diese Stürme erzeugten. Naja, eigentlich war es von den Programmieren so eingestellt worden, damit sich nicht jemand unendlich lange im Überlichtraum verstecken konnte oder eine Sektorblockade für immer dauerte.
Ein Aufblitzen von weißer und blauer Energie riss Torii aus seinen Gedanken. Es hatte sich ein Energiewirbel innerhalb des Sprungtores gebildet. Der Jäger des Sparverius-Typs wurde durch die gravimetrischen Kräfte weiter beschleunigt. Da kam im selben Moment ein gigantischer Zerstörer aus dem Wirbel und war auf direktem Kollisionskurs mit dem kleinen Jäger. Doch weder der Pilot des Jägers, noch der Captain des Zerstörers konnten ausweichen. Das mussten sie auch nicht. Denn sie befanden sich in Phase. Der Jäger glitt durch den Zerstörer hindurch und verschwand im Lice, während der Zerstörer seinen Weg fortsetzte.
Bei solchen Situationen schoss Torii immer noch Adrenalin durch den Körper. Früher war es so gewesen, dass bei der Benutzung eines Sprungtores der Spieleravatar sterben konnte, wenn er mit dem Sprungtor oder einem anderen Schiff kollidierte. Da es aber bei der Heerschar von Spielern und Nichtspielercharakteren nicht ausblieb, dass so etwas mehrmals täglich passierte und die Beschwerden darüber ins Unermessliche stiegen, hatten sich die Programmierer dazu entschlossen einen phasenverschobenen Bereich bei Sprungtoren einzuführen. Wenn man nun in diesen Bereich eintrat, dann wechselte man in eine Art Geistermodus, der die Kollisionsabfrage mit anderen Objekten außer Betrieb setzte und man somit quasi unverwundbar wurde. Einige Spieler wollten diesen Bereich natürlich ausnutzen, um nicht angegriffen zu werden, aber das funktionierte nicht, da gravimetrische Verzerrungen ein Schiff entweder in den Sprungwirbel zogen oder vom Phasenbereich wegdrückten. Wie schnell Torii mit seinem Jäger durch den Lice glitt wusste er nicht. Es gab von Fans diverse Berechnungen, die einen Wert von tausendfacher Lichtgeschwindigkeit bis unendlich ergaben. Es war wirklich interessant, für was Spieler und Fans so alles Zeit und Mühe aufbrachten, obwohl es doch eigentlich nicht wichtig war. Für das Spiel an sich wohlgemerkt. Doch für die Atmosphäre waren unwichtige Details manchen entscheidend. Torii schaute aus dem Cockpit und betrachtete die Energien, die eine Art Tanz aufführen zu schienen. Er sah auf den bordinternen Chronometer und war überrascht, dass bereits eine ganze Realstunde vergangen war. Erst jetzt fiel ihm ein, dass er seinem Kontakt noch keine Antwort geschrieben hatte. Das holte er schnellsten nach, obwohl er sicher war, dass sein Kontakt bereits wusste, dass er auf dem Weg war. Schließlich hatte er ihm ja auch seinen Aktivcode gegeben. Mit ihm konnte ein Spieler sehen, wann ein anderer Spieler eingeloggt war und wo sich der Avatar dieser Person aufhielt. Den Aufenthaltsort des Avatars konnte man auch bestimmen, wenn dessen Spieler ausgeloggt war. Der Aktivcode war durchaus ein Geheimnis, das man bewahren musste. Aber es gab genügend zwielichtige Gestalten, die diese Codes sammelten und in der Realwelt für Geld verkauften. Man konnte noch sehr davor warnen, es gab immer wieder Spieler, vor allem Neulinge, die zu gutmütig waren und ihren Code herausgaben. Gut, dieser Code hatte nichts mit dem Einlogg-Prozess zu tun, weshalb Benutzername und Passwort nicht berührt wurden. Aber der Code war unerlässlich für den Mailkontakt unter Spielern. Wer den Code eines anderen Spielers nicht hatte, der konnte ihm auch keine Nachricht schicken. Glücklicherweise konnte man auch Personen blockieren, die einem unerwünschte Nachrichten schickten.
Torii trat aus dem Überlichtraum aus und fand sich mitten in einer Schlacht wieder. Die Nachricht seines Kontakts, dass er warten und man einen anderen Treffpunkt ausmachen sollte, kam zu spät.
Intermezzo
Es war düster. Die wenigen blauen Strahlen vermochten den Saal nicht zu erhellen. Stille herrschte hier, wie auf einem Friedhof. Obwohl es wohlig warm war, kroch ein jedem die Kälte durch das Rückgrad. In der Mitte des Saales schwebte eine kleine rote Kugel, deren Aura wie Feuer pulsierte.
Jemand berührte sie. Eine Nachricht erklang: „Ich habe ihn gefunden.“
Glossar:
MCS: Motion-Capture-Suit. Ein hautenger Anzug der dazu dient die Bewegungen des Spielers auf den Avatar im Spiel zu übertragen. Der Anzug simuliert auch Berührungen. Allerdings nur in schwacher Form.
VRB: Virtual-Reality-Brille. Die Brille vermittelt dem Spieler den Eindruck, dass er sich direkt im Spiel befindet. Zudem beinhaltet sie ein Mikrophon, das einem erlaubt mit anderen Spielern zu reden.
Solarring: In X/O das Äquivalent zum Sonnenkraftwerk in den Offlinespielen. Ein gigantischer Ring aus Kollektoren, die um eine Sonne angebracht wurden. Bei weitem effektiver als die veralteten SKWs.
Überlichtraum: Ein neues Konzept, dass die Sektor-zu-Sektor Verbindung überflüssig macht. In der englischen Sprache wird er Light Space genannt und mit Lice abgekürzt. Er wird blauweiß dargestellt und in ihm toben viele wilde Stürme. Über den Überlichtraum kann jeder Sektor von jedem anderen Sektor aus erreicht werden. Wirbel zeigen auf, wo sich ein Sprungtor befindet und mit intaktem Navigationssystem (sprich Galaxiekarte) weiß man auch wohin der Wirbel führt.
Sprungwirbel: Ein Wirbel im Überlichtraum, der einen zeigt, dass sich hier ein Sprungtor befindet, das passiert werden kann.