[EX16]Die Legende von Ogon (High Fantasy/ Sword and Sorcery)

Hier könnt ihr eure FanFictions, aber auch eure eigenen Prosas reinstellen.
Antworten
Benutzeravatar
El Granto
standhafter Schreiberling
standhafter Schreiberling
Beiträge: 32
Registriert: Sa 18. Jan 2014, 11:45

[EX16]Die Legende von Ogon (High Fantasy/ Sword and Sorcery)

Beitrag von El Granto »

Ich grüße euch!

Hierbei handelt es sich um eine Geschichte, die ich im letzten, nun defekten Forum veröffentlicht habe, und an der ich noch immer arbeite.
Was soll ich sagen, es ist pures Fantasy in einer fiktiven mittelalterlichen Welt, die vielen Herr der Ringe- und Game of Thrones-Fans gefallen dürfte. :)

Im Mittelpunkt dieser Geschichte stehen mehrere Figuren, und ich denke, es wäre schwer, dies alles in einem Klappentext zusammenzufassen, ohne irgendetwas wichtiges vorweg zu nehmen, also würde ich sagen lest einfach drauf los. :)

Ihr könnt HIER euren Senf dazu abgeben!

__________________________________________________________________

-1-

Das Erwachen

Es lag ein frischer, gutriechender und natürlicher Duft über den Wiesen und Hügeln des Weidenwaldes. Vögel, von ungeahnter Schönheit, sangen mit ihren lieblichen Stimmen die unterschiedlichsten Lieder. Zusammen ergab ihr Gezwitscher ein unverwechselbares Orchester, bestehend aus hellen und seichten Klängen. An den Anmutigen Eichen, Buchen und Weidenbäumen flogen die flinksten und schnellsten Bienen, Fliegen, und anderes Kleingetier, vorbei, mit einem leisen, aber dröhnenden Summen. Durch die Blätter und das Geäst drangen feine Sonnenstrahlen bis zum Grund des Plätschernden Baches hindurch, auf dessen Grund wunderschöne Kieselsteine starr und regungslos der Strömung standhielten. Leise, fast unhörbar, raschelten die Blätter über den Baumstämmen in der Brise des Windes. Zwei, Drei oder höchstens Vier Blätter rieselten bei den Böen herab, alle anderen jedoch waren noch fest verankert mit dem Holz, denn es ist Sommer. Die letzte Maiwoche, um genau zu sein.
Die schönsten Blumen sprossen am Wegesrand. Buschwindröschen, Schlüsselblumen und gelbe Hahnenfüße wuchsen wie die Weltmeister, des Weiteren waren die letzten Maiglöckchen, Grasnelken und die gelben Johanneskrautblüten sehr schön anzusehen. Abseits des Weges erstreckten sich, zwischen den mannshohen Grasbüschen, die unterschiedlichsten und schrillsten Pilzsorten, gepaart mit wunderschönen Farnen, und mit Moos bedeckten Ebenen, soweit das Auge nur reichen konnte.

Plötzlich erschien eine Gestalt über der Anhöhe, über die der Waldweg seinen Lauf nahm. Mit Pfiffen und heiterem Gesang tippelte sie von Kopfstein zu Kopfstein, immer mit Vorsicht und Bedacht. Behaglich tänzelte sie um Stock und Wurzeln herum. Sie trug ein altes, grünes Hemd, was den Anschein machte, als sei es einst weiß gewesen. Dazu hielt ihr Kopf einen Faserigen, mit Stofffetzen verkleideten Hut, den sie bei so manchem Sprung gut festhalten muss, damit er nicht davon segelt. Sie trug auch eine Hose. Diese war bräunlich, und dazu viel zu kurz. Und Schuhe? Ob man diese Lumpen Schuhe nennen konnte, blieb jedem selbst überlassen; Sie waren grün, wie das Hemd, das die Gestalt trug, und übersät mit Flecken und Löchern, wie der Hut, den sie trug. Mit einem gewagten Hechtsprung überschritt sie den Bach, und summte anschließend weiter, während sie sich hüpfend davon bewegte.

Diesmal führte es die Gestalt abseits der Wege, zwischen Gras und Baum hindurch. Den Weg, den sie nun einschlug, führte vom Pfad weg, sah aber aus, als hätte es schon öfters jemanden hierhin verschlagen. So manches Gebüsch und Geäst schien hier zertreten und übertrampelt. Plötzlich erreichte die Gestalt, nach weiterem Hüpfen und Tanzen, eine breit ausgelegte Lichtung, die sich weit erstreckte. Zur Rechten der Gestalt befand sich ein weiterer kleiner Fluss, der höchst wahrscheinlich ein Ausläufer des Baches am Wegrand war. Auf der anderen Seite, links von der Gestalt aus, lag ein riesiger, bemooster Felsen, der nach hinten in ein weiteres Waldstück mündete. Zwischen Bach und Berg, in der Mitte dieser Freifläche, stand eine kleine, leicht eingefallene Holzhütte. Eine krumme, aus Holzplanken bestehende Tür, die leicht offen stand, (vermutlich weil man sie nicht mehr schließen konnte) machte es möglich, einen Blick ins Hüttchen zu werfen. Direkt daneben befindet sich ein großes Loch, das wahrscheinlich ein Fenster darstellen soll. Nebst Tür und „Fenster“ ist auf dem Dach ein Eisenrohr vorzufinden, welches, mit einem Kamin im inneren der Hütte verbunden, als Schornstein diente.
Vor dem Haus angekommen, zog die Gestalt sich den Hut vom Kopf, und zu sehen war ein grünliches, knolliges und dickliches Gesicht. Der Mund, der bloß als feiner Strich zu erkennen war, fügte sich zu einem närrischen Grinsen. Kurz darauf öffnete das Wesen seine Augen. Sie waren giftgrün, noch viel grüner als die Haut der Kreatur, und viel leuchtender und glänzender. Die Ohren waren spitzer als so manches Messer, und die Fingernägel länger als so mancher Dolch. Der Hut diente wohlmöglich als Sonnenschutz, denn Haare hatte er keine auf dem Kopf. Es war wahrlich kein schöner Anblick, denn es handelte sich um Egrin, den Kobold vom Weidenwald.

Als er das Häuschen betrat, folgen seine Schuhe, mit zwei Tritten in die Luft, quer durch den Raum und landeten Zielgenau in einem Fach in einer ärmlich zusammengenagelten Holzkiste. Müde schmiss er sich auf seinen Holzstuhl und hielt ein Nickerchen. Nebenbei pfiff und summte er die Melodie der Vögel, doch er wurde zunehmend leiser, denn er glitt in die Welt der Träume.
Um ihn herum, im kompletten Haus verteilt, Hingen die verschiedensten Mäntel, Hemden, Schürzen und Jacken allerlei, bestehend aus den exotischsten und außergewöhnlichsten Stoffen und Pelzen. Es war kaum zu glauben, wenn man sich den mickrigen Egrin ansah, aber er gehörte zu den besten Schneidern des ganzen Landes. Aber warum trug er diese üblen, dreckigen und alten Kleidungsstücke? Ohne jede Frage waren Egrins Hände die begabtesten, die man von der Válinküste bis zu den roten Dünen finden konnte. Es war ihm möglich, mit nur kurzen Blicken die perfekte Kleidergröße für jede erdenkliche Kreatur zu finden. In schnellster Eile nähte, stickte und häkelte er die besten und schönsten Schuhe, Hemden und Hosen. Sein Problem war jedoch, dass er seine eigene Größe nie in seinen Stoff umsetzen konnte. Mal waren die Schuhe zu klein, mal das Hemd zu weit, und oftmals riss die Hose beim ersten Tragen. So entschloss er sich schon vor Jahren, einfach immer das Selbe zu tragen.

Letztendlich wurde aus Egrins Pfeiffen und dem Summen ein dröhnendes Schnarchen. Während seines Schläfchens kamen drei Vögel, eine Drossel, eine Taube und eine Amsel, an Egrins Hütte vorbei. Angelockt vom Geschnarche, das der Kobold verursachte, blickten sie flatternd durch das Fenster, und sahen den Kobold dort friedlich ruhen. Egrin, stets ein treuer Freund der Natur, merkte gänzlich nichts von der Vogelversammlung, die sich vor seinem Haus befand. Mit Gezwitscher und Geschnatter versuchten sie, den Kobold aus seinen Träumen zu reißen. Mit lauter Kehle und hastigen Bewegungen, und nervenaufreibendem Geflatter strengten sie sich unaufhörlich an, doch der grüne Halbling regt sich nicht, bis auf seine Nase, die sich röchelnd beim Atmen auf- und ab bewegte. Wenn er doch nur geahnt hätte, was diese Plagegeister wollten! Doch auch wenn Egrin aufgewacht wäre, hätte er die Vögel nicht verstanden, denn selbst erfahrene Vogelflüsterer wären bei dem wirren und eiligen Geschnatter verzweifelt geworden. All ihr Gequietsche und Fiepsen klang wie ein wirrer Brei aus Satzbruchstücken und einem unaufhörlichen, unrhythmischen Pfeifen. Als sie nach einer gefühlten Ewigkeit (Es handelte sich um fünf Minuten) sich damit abfinden mussten, dass ihre grellen Laute den Kobold nicht aus seinem Schlaf reißen konnten, flatterten sie flink durch das Fenster ins Häuschen, und schauten sich flatternd nach einer Möglichkeit, Egrin zu wecken, um. Kleinlaut blickten die Vögel rasch um sich, und wurden beim Anblick der unzähligen Kleidungsstücke plötzlich ganz starr, doch ohne weiteres großes Zögern machten sie sich daran, den müden Kobold wieder in die Welt der Lebenden zu locken. Sie gaben sich unendlich viel Mühe, und strengten sich an, als ginge es um Leben und Tod. Sie piekten ihm in die Nase, in die Zehen, machten Lärm, schmissen ihn mit Steinen ab, und machten noch viel mehr Lärm.

Schon gar verzweifelt, kam der Amsel, Merúl war ihr Name, eine Idee: Sie suchte den Raum nach dem schönsten, saubersten und am wertvollsten wirkenden Mantel ab. Nach abgehackten und wild herumwirbelnden Blicken fand sie, was sie suchte. Der Mantel befand sich am anderen Ende der Hütte, und hing behaglich an einem morschen Holzkleiderständer. Geschützt wurde das Meisterstück aus Stoff durch einen alten, faltigen Ledermantel, der komfortabel über den Mantel gelegt wurde. Die edle Jacke selbst bestand aus mehreren Stoffarten, aus den verschiedensten Farben, die durch ein unbeschreiblich schönes Muster miteinander im Einklang waren. Gar betäubende Wirkungen entfaltete der Blick auf die Farbmuster. Dazu waren die einzelnen Farbschichten mit Stickmustern, Ketten und Glitzereffekten verschönert worden. Beim genaueren Betrachten konnte man genau erkennen, dass jeder Faden und jede Masche perfekt angeordnet waren. Nichts an dieser Klamotte wirkte ungenau oder gar hässlich.
Merúl selbst zweifelte beim Anblick des Mantels an ihrem Plan, weil die Schönheit des Selben sie so fesselte. Nach der kurzen Betrachtung flatterte sie geschwind zum Kleiderständer, packte den verschrobenen Ledermantel, und zog ihn mit ihrem Schnabel herunter. Schon fast einschüchternd wirkte die nun komplett sichtbare Jacke, die prachtvoll leuchtend und nun ungeschützt war. Nachdem der steife Ledermantel zu Boden fiel, regte sich der, Kobold, als würde er etwas von all dem bemerken, und sein Schlaf wirkte auch nicht mehr gänzlich so entspannt. Merúl bemerkte, dass sie schwerere Geschütze auffahren muss, damit der Kobold aufwacht. Also nahm sie all ihren Mut zusammen, führte ihren Schnabel zur mittleren Naht, und klemmte ihn unter einen Faden.

Keine Sekunde später, vom einen Moment zum anderen, sprang Egrin auf, und landete direkt vor Merúls Schnabel. „Was in aller Welt soll diese Unordnung und dieser Vandalismus in meinem Heim, und vor allem an meinem besten Stoff?“ schrie der grüne Winzling. Eingeschüchtert flatterten die Vögel davon, in die andere Ecke der Hütte. Mit finstrer Miene drehte Egrin sich wieder den Vögeln zu. Zwischen ihren zitternden Schnäbeln brachten sie bloß ein, zwei leise Piepser raus, die Egrin mit seiner Fähigkeit, Tierstimmen zu verstehen, mit den Worten entzifferte: „Wir mussten dich wecken, oh Egrin! Eigenartiges passiert im Walde! Wir sahen uns gezwungen, dich zu kontaktieren!“.
Während Egrins grimmiges Gesicht zum eher fragwürdigen Dreinblicken wurde, antwortete er den Vögeln: „ Eigenartiges? Erklärt, ihr Vögel, was passiert Eigenartiges?“. Die immer hektischer werdenden Vögel wollten nicht länger ins Detail gehen und keine Zeit verschwenden, und sagten so im Chor: „Keine Zeit für Worte! Keine Zeit! Du musst dich aufmachen, dorthin, wo es geschieht!“.
Da Egrin relativ schnell bemerkte, dass es keinen Sinn mache, mit den Vögeln zu diskutieren, nahm er seine Schuhe, schnürte sie zu und schnappte sich seinen Wanderstock, der gleichzeitig als seine Waffe diente, weil er ja nicht wusste, was auf ihn zukommt. Egrin trat in Eile aus dem Haus, und man sah ihm Müdigkeit Lustlosigkeit an. Die Vögel waren bereits aus dem Fenster geflogen und schlugen kräftig mit ihren Flügeln, und plapperten munter aber besorgt vor sich hin. Der Kobold war sichtlich schnell entnervt, und folgte trampelnd dem Zwitschern. Seine Schritte ähnelten seinem anfänglichen Getänzel in keinster Weise mehr, auch kein Hopsen oder Pfeifen war mehr aus Egrins Mund zu hören.
Die Vögel wurden immer schneller, und Egrin rannte den Plappermäulern angestrengt hinterher.

Es ging über Stock und Stein, und zuerst verfolgten sie den Weg zurück, den der Kobold zu seinem Häuschen zurückführte, doch hinter dem Bach, über den Egrin sprang, lenkten die Vögel scharf an einer großen Eiche vorbei, und schlugen eine Richtung ein, der er selbst nur selten folgte. Nach seinem fließenden Hopsen, wurde Egrin langsamer, und er hüpfte nun mit Bedacht über die Steine und Wurzeln, denen er auf dem unbekannten Pfad begegnete. Er spürte deutlich, dass dieser Weg nicht oft eingeschlagen wurde.
„Nicht so schnell, ihr flinken Viecher!“ grölte der Kobold den Vögeln hinterher, so sehr es auch seiner angestrengten und ausgetrockneten Kehle wehtat, die flatternden Tiere schienen dies jedoch nicht zu hören, und plapperten weiter vor sich hin. Für eine kurze Zeit verlor Egrin die drei aus den Augen, doch hüpfend, schneller als er sonst hüpfte, holte er seine Geflügelten Kameraden ein. Als er sie erreichte, wurde es ruhiger um die Vögel. Sie flatterten in der Luft, ohne Geräusche von sich zu geben. Ohne das Zwitschern und Schnattern, und ohne das wilde Flattern.
Es war Egrin nicht bewusst, was die Vögel dringendes zu melden hatten, aber er kannte diesen Ort. Er kannte ihn schon, bevor er den Weidenwald bewohnte. Er besuchte ihn nicht oft, es war ihm nicht geheuer, diesen Ort zu betreten. Was der grüne Schneider vor sich sah, war ein alt anmutender Tümpel, gezeichnet von der Zeit, umgeben von Ruinen altertümlicher Bauten, aus alten Epochen, die von Ranken und Gestrüpp überwachsen Waren. Wenn man die Trümmer dieser alten Bauwerke genauer betrachtet, erkennt man Schriftzeichen und grobe Linien in die grauen Steine eingemeißelt. Doch diese Überbleibsel waren nicht der Auslöser für die Panik der Tiere. Inmitten des Teiches brodelte und blubberte es Gewaltig, als würde das Wasser Kochen, oder als würde eine riesige Ansammlung an Luft ans Ufer strömen. Nebenher ist ein unangenehmes und eindringliches Dröhnen zu spüren, wenn man dem Teich näher kommt. Wellen und Schaum peitschten auf, und werden an Land gespült. Das Unkraut und Gesträuch, das an den Ruinen hochwächst, bleibt nicht von Spritzern verschont, so sehr brodelte das Wasser.

Nachdem Egrin und seine gefiederten Freunde den Schauplatz ausgiebig begutachteten, konnten sie ein unheimliches Leuchten am Grunde des Teiches erblicken, dass langsam, aber sicher, anfängt, heller zu werden. Folglich erreichte das Lichtspektakel seinen Höhepunkt, und es wurde dermaßen hell, dass der Kobold und die Vögel sich die Augen zukneifen mussten. Schließlich mussten sie sich hinter eines der Bauwerke verstecken, dass anmuten ließ, als sei es einst eine Mauer oder eine Wand gewesen. „Bockmist noch eins, so etwas hab ich in meinen 500 Lebensjahren noch nie gesehen!“ sagte Egrin, und versuchte, mit seinen Worten das Rauschen des Brodelnden Wassers zu übertreffen. Die Vögel wurden hektischer, und schließlich hielten sie es nicht mehr aus, und es packte sie die bloße Panik, und sie Flatterten nach oben, zu den Baumkronen, und beobachteten das Geschehen zitternd mit einem Sicherheitsabstand. Egrin, dem es nicht möglich war, in die Lüfte aufzusteigen, blieb kauernd am Boden liegen, und hält sich die Ohren zu, da das Dröhnen erhebliche Ausmaße angenommen hat, sodass selbst der Boden zu Beben begann. Die Ruinen und Mauern fingen an, Risse zu bekommen und zu Staub zu zerfallen, Blätter wurden von den Zweigen und Ästen gerissen, und die Einwohner des Waldes, seien es Eichhörnchen oder Kaninchen, verließen diesen Ort panisch.

Und plötzlich, kurz bevor die Felswände komplett zu Staub zerfallen, hörte das Lichterschauspiel auf, und vom einen Moment zum anderen herrschte beängstigende Ruhe. Egrin öffnete langsam seine Augen. Er nahm seine Hände von seinen Ohren und schnappte sich leise seinen Wanderstock, der ihm während des Bebens aus den Händen glitt, und nun neben dem Mauerwerk lag. Als er den Stab mit seinen langen Koboldfingern erreichte, erhaschte er einen Blick auf den Tümpel, in dem sich dieses Spektakel abspielte. Das Wasser war bereits wieder spiegelglatt und Klar.
Die Gräser und Sträucher um den Teich herum waren nass, und durch die Wucht des Brodelns in alle Himmelsrichtungen ausgelegt. Doch dies bemerkte Egrin kaum, denn sein Hauptaugenmerk lag auf einer Gestalt, die durch diesen eigenartigen Vorgang in den Wald gefunden hat.

Sie tropft, ist klatschnass, und es macht den Anschein, als sei sie aus dem Wasser gekrochen. Sie lag auf dem Bauch, die Beine steckten noch im Wasser. Sie trug einen bleichen, dünnen Anzug, der anmuten ließ, als sei es eine Mischung aus einem Schlafanzug und einem Sträflingshemd. Sie schien geschwächt, denn sie ließ Schmerzensschreie- und Stöhne von sich. Egrin konnte das Gesicht der Gestalt nicht erblicken, denn sie lag mit gesenktem Kopf auf dem Boden.

Über die hohen Grasbüschel hinweg, die den Kopf der Figur verdeckten, konnte der Kobold nur die kastanienbraunen Haare des Wesens erkennen. Als Egrin sich seinen Stab mit zitternder Hand schnappte, schien das fremde Lebewesen den grünen Schneider zu bemerken, und es blickte auf. Geschwind versteckte Egrin sich hinter dem Stein, und hielt seinen Wanderstock fest zwischen seinen Fingern. Angsterfüllt bewegte er sich keinen Millimeter, und Angstschweiß lief von seiner Stirn an seinen ovalen, knallgrünen Augen und seiner knorpeligen Nase vorbei, bis zu seinem spitzen, knolligen Kinn. Seine Handflächen zitterten, doch er übte mehr Druck auf den Stock zwischen seinen Fingern aus, um zu versuchen, starr sitzen zu bleiben. Er fühlte jeden Pulsschlag, und jeder Atemzug wehte wie eine Böe durch seine Lungenflügel. Ihm schossen Dutzende Bilder und Gedanken durch den Kopf. „Was ist das für ein Ding, und durch was für ein unheiliges Ritual ist es in meinen Wald gekommen? Ist das einer von diesen ungesitteten, und nach Fäulnis stinkenden Ogern? Wollen diese eroberungslustigen Monstren jetzt auch mein Territorium einnehmen und es das ihre nennen? Das kann eigentlich gar nicht der Fall sein, Oger haben meist Glatzen. Ist es ein Golem, eines von den Magiern und Alchemisten geschaffenes Wesen, dass einzig und allein den Zweck erfüllt, Krieg zu führen? Nein, das kann es auch nicht sein. Golems sind generell aus Gestein geformt, und tragen Kriegsgewänder und Rüstungen, und nicht solch eine Klamotte.“
Die Neugierde drängte den Kobold, und er fühlte sich gezwungen, einen erneuten Blick zu wagen. Er hielt seinen Wanderstab schlagbereit, und bewegte sich auf seinen Knien von der Mauer weg, bis sein Kopf an der Seite hinausragte. Just in diesem Moment stand die Gestalt vom Boden auf, und Egrin bekam es direkt zu Gesicht: Es handelte sich um einen stattlichen Burschen jungen Alters, athletisch und muskulös anmutend, wie Egrin bemerkte. Doch eine Sache fiel besonders an dem jungen Mann auf: Er war ein riesiger, knapp drei Mann großer Koloss, neben dem Egrin wie ein Kleinkind wirkte.

Unwissend und ahnungslos blickte der Riese wild um sich. Er schien orientierungslos und unwissend, und als hätte er keinen blassen Schimmer, wo er sich gerade aufhielt. Als sein Blick das Mauerwerk traf, hinter dem der Kobold sich verbarg, versteckte Egrin sich rasch hinter dem Stein, um nicht von dem Hünen entdeckt zu werden.
„Wer bist du? Was willst du hier?“ fragte Egrin, der immer noch hinter dem Fels hockte.
Zuallererst bekam er keine Antwort, da der große Kerl nach wie vor verwirrt schien.
„Mein, mein Name ist Ogon. Wo bin ich hier? Und wer spricht da?“ erwiderte er schließlich. Egrin, der stets von Panik ergriffen war, schlich behutsam hinter ein anderes steinernes Überbleibsel, damit der Riese nicht herausfinden konnte, von wo die Worte des Kobolds kamen. Als er eine andere Mauer erreichte, und sich duckte, gab er Ogon eine Antwort:
„Du befindest dich im Weidenwald, oder bessergesagt, in meinem! Ich habe mich selbst zum Wächter dieses Ortes ernannt, und seit ich hier bin, herrscht ein friedvolles Klima, und das soll auch so bleiben. Sag, woher kommst du, und was ist deine Absicht?“
Während Egrin über den Boden kroch, antwortete der Riese: „Ich weiß es selbst nicht. Ich… War einfach hier. In diesem Teich bin ich aufgewacht. Alles, was vorher geschehen ist, ist mir ein Rätsel.“

„Also, du willst mir sagen, dass du ohne jede Erinnerung an diesem Ort hier auftauchst? Das soll ich dir glauben? Ich kenne diesen Ort im Walde gut genug, und ich meide ihn nicht ohne Grund.“ Sagte der Kobold, der langsam immer schneller um die Felsen und Steine rumschleicht. „Ich schwöre es! Mit wem auch immer ich da sprechen mag, ich habe keine Ahnung was ich hier suche, geschweige denn, wie ich durch dieses Wasser herkam!“
Egrin blieb stehen. Bei all seinem Misstrauen, und seiner Angst, stellt er sich wieder auf seine Füße, schlängelt sich zwischen den Steinen hindurch, und steht hinter dem Riesen.
„Für einen Menschen bist du ganz schön groß geworden.“ Sagte er, und Ogon erschrak und drehte sich um. „Ihr… Ihr seid ein Kobold!“ „Gut erkannt, Junge. Was bist du genau?“
Ogon blickte auf sich und seine unvorteilhaften Kleider hinab. „Ich bin ein Riese, wie ihr scheinbar bemerkt habt. Ich komme aus dem Hause Dondur, dem letzten großen Riesengeschlecht weit und breit.“ Daraufhin nahm Egrin den Hut von seinem Kopf, und blickte zu Boden. „Dondur… Der Name sagt mir etwas… Aber nur im Entfernten. Und du weißt nicht, was du hier suchst, geschweige denn, wie du hier hergekommen bist?“
„Nein. Wenn ich darüber nachdenke, erscheinen Bilder, ruckartig und kurz. Ich denke, dass dies etwas mit meinem Auftauchen hier zu tun hat, es sind aber bloß Bruchstücke meiner Erinnerung.“ Lautete die Antwort Ogons.

„Gut, aber es muss doch irgendeinen Punkt geben, an den du dich erinnern kannst! Was ist das letzte, was du noch von deiner Vergangenheit weißt?“ Entgegnete ihm Egrin.
„ Wenn ich genau drüber nachdenke, ist das schon eine ganze Weile her…“ Sagte der Riese, und runzelte nachdenklich die Stirn. Er schloss die Augen, und versuchte sich an alles, jede erdenkliche Erinnerung, zu klammern, und sie zu erläutern. „Ich sehe eine Stadt. Ein Schloss. Verwinkelte Gassen. Kleine und große Häuser, Ställe und Höfe. Eine Brücke, Wasser und… Schwerter. Klingen, die aufeinandertreffen. Schmerz- und Kampfgeschrei. Eine Schlacht! In der Stadt!“. „Das ist ja schon mal einiges…“ Erwiderte Egrin. „Hast du mitgekämpft, in dieser Schlacht?“. „Ich sehe vieles, aber nicht mich… Ich weiß es nicht, ich muss es aber gesehen haben!“. „Gut… Und wie sieht dein Plan aus? Wo willst du hin, und was willst du als Nächstes machen?“ Fragte Egrin den verwirrten Ogon. „Ich weiß es nicht… Ich schätze, ich werde diese Stadt suchen, um Antworten zu finden.“

„Ich könnte dir bei der Suche helfen. Ich habe genug Ausstattung daheim, um dich für die Reise vorzubereiten.“ Ein Grinsen breitete sich auf dem Gesicht Ogons aus. Doch dieses Grinsen wurde kurzerhand zu einem misstrauischen und ungläubigen Dreinblicken. „Du… Würdest das für mich tun? Obwohl du mich nicht kennst?“ Fragte er den kleinen Schneider. „Als Wächter des Weidenwaldes sehe ich mich gezwungen, als Gastgeber zu fungieren und Neuankömmlingen die Ankunft und die Abreise zu erleichtern. Mit anderen Worten: Ja. Und übrigens, in diesem Aufzug kann ich dich nicht in die weite Welt hinausschicken. Der Schneider in mir hat nämlich auch ein Wörtchen mitzureden.“
„Ihr seid Schneider?“ Fragte Ogon, während Egrin seinen Hut aufsetzte, losschlenderte, und dem Riesen den Weg zu seiner Hütte zu zeigen. „Ja, ein sehr begabter, um nicht in Selbstlob zu versinken, aber ich schätze mich als ein sehr Talentierter Finger an der Nähmaschine ein.“
Einen Moment tritt Ruhe ein, und Ogon und Egrin lauschen den Vögeln, die nach der Unruhe im Wald wieder munter und begeistert begannen, Lieder und Melodien zu singen. „Diese drei Vögel verfolgen uns schon, seit wir losgegangen sind.“ Bemerkte Ogon. „Du, oder besser gesagt, dein Erscheinen haben aber auch ganz schön erschreckenden Eindruck bei den Waldbewohnern hinterlassen. Um ehrlich zu sein, dieses Trio hat mich erst auf die Unruhe aufmerksam gemacht.“

Sie erreichen nun einen Pfad aus Pflasterstein, der neben dem Bach entlang verläuft, der zum Haus des Kobolds führt. „Sagt, sind Kobolde nicht selten in solchen Gefilden? Suchen Wesen wie ihr nicht wärmere und trockenere Gebiete auf?“
„In der Tat, Riese. Ich bin im Kreise meiner Vertrauten und Verwandten tatsächlich ein Einzelgänger, oder wie ich es zu sagen pflege, etwas Besonderes. Meine Eltern, und Gebrüder, bewohnen die roten Dünen, sie leben also ganz am anderen Ende der Welt. Den Weidenwald habe ich entdeckt, als wir meinen Vetter Grill besuchten, der in den Buckelländern lebt, also gar nicht weit von hier. Außerdem lebt ein Cousin von mir in Valinstadt, liegt eine Woche Fußmarsch südlich von hier. Und wo kommst du ursprünglich her, wenn ich fragen darf? Du weißt doch bestimmt noch den Ortsnamen deiner Geburt, oder wo du gewohnt hast, oder?“. Ogon blickte zu Boden. „Nein, das weiß ich nicht. Seit ich mich daran erinnern kann, lebten wir dort, wo unsere Füße uns hintrugen. Wir waren Nomaden, hatten keinen festen Wohnsitz, oder etwas Vergleichbares. Wir lebten in einer Art großen Familie, ohne, dass wir alle miteinander verwandt waren, abgesehen davon, dass wir alle Riesen waren.
Wir wanderten durch Dörfer und Städte, über Berge und Täler, trafen Menschen, die uns vergötterten, aber ebenfalls welche, die uns verabscheuten. Wir halfen ihnen, Häuser zu bauen, Streit zu schlichten oder Feinde in die Flucht zu schlagen. Wir kamen ganz schön weit rum, doch selten wusste ich, wo wir waren. Mein Vater, Baldren, war der Führer unserer Gemeinschaft. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, weitere Wesen unserer Art zu finden und aufzunehmen, da wir Riesen schon immer eine Randgruppe waren. Das ist so ziemlich der größte Teil von dem, woran ich mich erinnern kann, Kobold.“

Die beiden erreichten nun die Stelle des Bachs, an der sie das Gewässer überqueren mussten, um zu Egrins Waldhäuschen zu gelangen. Wieder einmal wurde der Größenunterschied zwischen den beiden deutlich, denn um über den Bach zu gelangen, benötigt Egrin einen gekonnten Hechtsprung, während Ogon ihn mit einem kleinen Schritt zu überqueren wusste. Das Geäst und das Dickicht wurden enger und tiefer, und der Riese musste in einer niedrigeren Haltung durch den Wald, während Egrin vor ihm, tänzelnd und springend, und schnell, wie immer, den Weg weist.
Nach einem wilden Marsch durch Gebüsche und Blätter, erreichen Egrin und Ogon die Waldlichtung. Nachdem engen Marsch durch die Wildnis fühlte der Riese sich wieder frei, und genoss es, nicht weiter von Bäumen, Büschen, und anderer Natur, eingeengt zu sein. Egrin bat Ogon zu sich hinein, doch schnell bemerkten die beiden, dass Ogon viel zu groß ist, um sich zu Egrin in die Hütte zu gesellen.

Letztendlich blieb dem Riesen nichts anderes übrig, als seinen Kopf durch das kleine Fenster zu stecken, um einen Blick in das Haus zu werfen, und er erblickte die Vielzahl an Kleidungsstücken, die Egrin anfertigte. „Wie du sehen kannst, bin ich ein recht fleißiges Kerlchen, was mein Handwerk angeht.“ Betonte der Kobold, während er schwungvoll seine Schuhe auszog. Er ging nun zu seinem kleinen Nachttisch, und holte einen eisernen, prachtvoll glänzenden Schlüssel zwischen einigen Putzlappen und Handtüchern hervor. Dann trat er ein Stück Teppich zur Seite, und eine Holzlucke war auf dem Boden sichtbar geworden. Schnell öffnete Egrin das Türchen, und zu sehen war ein kleiner Kellerraum, vollgestellt mit Zetteln, Akten und Kleinteilen. Der Kobold stieg eine kleine Treppe hinab, vorbei an Kisten und Truhen, die meist größer waren, als der Schneider selbst. Im Zentrum der Abstellkammer war eine Bronzene, aus Drähten, Zahnrädern und Eisenstangen bestehende Nähmaschine. Egrin durchsuchte Schubladen, Schränke und Kommoden. „Suchst du etwas Bestimmtes?“ fragte Ogon. „Mein Urgroßonkel Bartin hat mich vor ein paar Jahren mal hier besucht. Er ist Kartograf, und zusammen haben wir eine Karte vom Weidenwald und dem anliegenden Gebiet erstellt. Wenn ich bloß wüsste, wo ich die Karte gelassen hab!“
Während Egrin sich weiter umsah, bemerkte er, wie Ogon die Nähmaschine staunend betrachtete. „Sie ist wunderschön, nicht? Ich habe sie selbst gebaut, zusammen mit Eglar, meinem kleinen Bruder, der zusammen mit meinem alten Herrn in Dornún wohnt. Sie gehören zu den besten Mechanikern jenseits der Sumpftäler.“ Erzählte Egrin stolz.
„Ich merke schon, Egrin, du hast einen beachtlichen Stammbaum.“ Antwortete Ogon.
„Da hast du nicht ganz unrecht, werter Ogon. Wenn man so bedenkt, haben wir Kobolde schon viel Erwähnenswertes geleistet.“

„Gibt es auch Krieger unter euch?“ fragte Ogon den Schneider. Einen kurzen Moment kam kein einziger Ton mehr aus der Abstellkammer. „Jetzt wo du es sagst, nein, mir sind keine wahren Kämpfer unter den Kobolden bekannt. Wir beschäftigen uns mit Dingen, die uns und unsere Umwelt bereichern, doch die Kunst des Krieges und des Kämpfens ist uns fremd. Man überlege auch, wie unnütz ein Kobold auf dem Kriegsfeld wäre, mit unseren dünnen Fingern könnten wir kein anständiges Schwert in der Hand halten, und für einen Konflikt wären wir nicht standhaft genug, von unserer Größe ganz zu schweigen…“ antwortete Egrin nachdenklich. „Da scheinst du nicht ganz unrecht zu haben, Kobold. Aber sag mir, warst du je in einen Kampf verwickelt?“ entgegnete ihm der Riese. „Nun, weißt du, Ogon, wir Kobolde haben ein perfektioniertes Gespür dafür, wann Situationen zu brenzlig für unser Gemüt werden. Dann helfen uns unsere Flinken Füße, und wir können mit einer unwahrscheinlichen Schnelle Gefahren überwinden. Das ist uns angeboren, für das Kämpfen wurden wir nicht geschaffen. Was nicht heißen soll, dass ich mich nicht zu verteidigen weiß!“

Egrin stopfte seinen Kopf wieder zwischen Zettel und Altpapier. Es schien fast, als würde er gänzlich in einem Haufen aus Blättern und Notizen verschwinden, doch dann sprang der Kobold auf, mit erhobenen Händen, und einem unverwechselbaren Jubeln: „Ha! Da ist sie ja, direkt neben meinem Reisepass, den mir meine Tante Fari vor Jahren ausgeschrieben hat!“
Geschwind kletterte der Schneider die winzigen Holzstufen hoch, und mit wenigen Bewegungen war die Bodenlucke zu, und der Teppich lag wieder Flach auf den Holzplatten. Der Kobold zog sich die Schuhe an, verließ das Haus, und breitete die riesige Karte auf einem Baumstumpf aus. Mit großen Augen begutachtete Ogon den Plan, den Egrin und sein Urgroßonkel erstellt haben. Sie war an den Rändern leicht vergilbt, kleine Falten und Risse waren an vielen Stellen bemerkbar. Egrin wischte mit seinen Händen eine Menge staub vom Papier, sodass eine große Staubwolke sich den Weg durch die Lichtung bahnte. Ein Käfer lief über die Karte, doch ein Atemstoß des Kobolds genügte, und das Insekt segelte durch die Luft. Oben auf dem Plan stand in großer Schrift das Wort „Fartaris“, dies war der Name des Landes, indem sich der Weidenwald befand. Der Wald nahm gut ein Drittel des ganzen Landes in Anspruch. Östlich vom Weidenwald befanden sich etliche Seen, in deren Mitte ein großes Gewässer war. Auf diesem Wasser war die Insel Arthá, auf der sich die Hauptstadt von Fartaris befand, Gromburg, die Stadt, die auch „Fackel des Nordens“ genannt wurde. Im nördlichen Teil der Karte lag das Grollgebirge, und südlich, unterhalb des Weidenwaldes, floss ein Fluss, der Drosselbach, neben dem sich die Stadt Harin befand.
„Gromburg!“ rief Ogon. „Gromburg, dieser Name sagt mir etwas. Vielleicht ist das ja die Stadt, die ich in meinen Träumen sah.“
Der Kobold sprang auf, reib sich die Hände, und sagte: „Hah! Da haben wir es doch! Dein Reiseziel!“
„Gromburg, das wird es sein!“ sagte der Riese unaufhörlich. „Könntest du mich auf dem Weg aus dem Weidenwald hinaus begleiten, Egrin?“ fragte Ogon. „In der Tat, mein großer Freund. Aber nicht nur das, Ogon. An deiner Kleidung muss ich noch so einiges Korrigieren und Verbessern!“ antwortete Egrin, während er mit einem Grinsen seine Hände rieb, woraufhin der Riese bloß fragwürdig dreinblickte. Egrin hüpfte Kichernd in seine Hütte, als Ogon fragte: „Inwiefern meinst du denn, ‘Verbessern‘?“
Ogon folgte dem Schneider, der jedoch nicht auf die Frage des Riesen einging. Es klimperte und knatterte im Haus des Kobolds, und kaum versah sich der Riese, kam Egrin mit Bergen an Stoffen, Fäden und anderem Atelier aus der Hütte heraus. „Sieh dich doch an, Riese! Wollt ihr etwa in diesem Aufzug die weite Welt aufsuchen? Ich hoffe nicht!“ entgegnete ihm der Kobold. „Du willst doch nicht als Witzfigur in Gromburg erscheinen.“

Egrin kramte und wühlte in den Wäschebergen, während er zu Summen begann. Dann blickte er zu Ogon, und beobachtete ihn aus verschiedenen Blickwinkeln. Er rannte geradezu um den Riesen herum, und aus dem Summen wurde eine laute Melodie. Er fing an, um Ogon herum zu hüpfen, maß mit seinen Augen und seinen Händen Längen und Breiten aus, huschte mit Fäden und Stoffen um Ogon herum, kletterte an seinen Armen hoch, und stand auf seinen Schultern. Ogon blieb nichts anderes übrig, als still und starr da zustehen, und den begeisterten Schneider seine Arbeit machen zu lassen.
Egrin war bereits so in seine Arbeit vertieft, dass wenn man ihn ansprechen würde, man nur ein stutziges Brummen als Antwort bekäme. Die Aktion des Schneiders ging noch eine Weile, und nachdem er gefühlte hunderte an Kleidung, Pelzen, Flicken, Leder und anderen Dingen benutzte, die der Kobold aus seinem Keller auftreiben konnte, um Ogon einzukleiden.
„Und… Mein Meisterwerk ist vollendet!“ Gab Egrin selbstlobend von sich. Er ging einige Schritte rückwärts, und Ogon schien wie ein neuer Riese zu sein; Anstatt einen übergroßen Schlafanzug trug er ein dunkelblaues Hemd, gepaart mit einer schulterfreien, schwarzen Lederweste, und einer grauschwarzen Hose. Außerdem waren seine Kleidungsgegenstände ausgestattet mit Gürteln und Taschen. Dazu kamen braune Stiefel, die Egrin noch fertigstellte.
„Wie gefällst du dir?“ fragte der Kobold, während er ihm die Stiefel übergab. „ich finde es großartig, Egrin. Ich weiß nicht, wie ich es dir danken kann.“
„Verlasse einfach meinen Wald, dann sind wir Quitt, du Unruhestifter.“ Sagte Egrin lachend.
„Nein, um ehrlich zu sein, hatte ich den Stoff sowieso übrig, und es ist besser, dass er sinnvoll verarbeitet wird, anstatt dass er in meiner Bude versauert.“

Ogon war noch lange damit beschäftigt, seine neue Ausstattung genauer zu begutachten. Er bewegte sich viel, und merkte, wie gut sich die Kleider an seinen Körper anpassten, fast wie eine zweite Haut. Er kam aus dem Staunen über Egrins Künste nicht mehr heraus, so beeindruckt war er von den Kleidern. Der Kobold verschwand in seiner Hütte, und traf letzte Vorbereitungen für die Abreise. Unter seinem Bett holte er einen Rucksack hervor, und von dem Kleiderständer nahm er einen lilafarbenen Mantel. Kurzerhand griff er nach seinem Wanderstab, den er an die Wand lehnte, und er klappte hinter sich die knackende und quietschende Holztür zu. „Ich habe alles bereitgestellt, wir können losgehen!“ ließ er verkünden. Ogon machte sich bereit, und begann, die Lichtung zu verlassen. „Stopp!“ hörte er den Kobold rufen. „Wir können noch nicht los! Der Mantel, den ich mitnehmen wollte, er ist zu groß für mich.“
„Wie kann das sein?“ Fragte Ogon. „Du bist ein Meisterschneider, wie kannst du so etwas falsch machen?“
Egrin blickte demotiviert zu Boden. „So gut ich für die anderen auch sein mag, wenn ich etwas für mich anfertige, passt es nicht! Entweder es ist zu groß, zu klein, oder es sitzt nicht richtig.“ Ogon überlegte kurz, doch es kam ihm eine Idee: „Warum schneidest du die Langen Ärmel nicht einfach ab?“
Egrin blickte ungläubig auf. „Und dann? Dann ist er unten rum auch noch zu lang.“ Gab er deprimiert von sich. „Dann schneidest du unten rum auch noch was ab.“ Antwortete der Riese. Egrin blickte überrascht auf. „Auf… Auf die Idee bin ich sonst nie gekommen… Sonst schmeiße ich die Sachen immer weg, wenn sie nicht passen! Ich danke dir, Ogon! Du, mein lieber, bist ein schlaues Köpfchen!“

Eilig wie der Wind rannte Egrin in sein Hüttchen. Ein schnippeln war zu hören, ein wenig Rumkramen, und der grüne Schneider kam mit grinsender Miene und perfektioniertem Mantel aus der Tür. „Wofür ist der Rucksack gedacht?“ fragte Ogon. „Der ist für unseren Proviant, du Einfallspinsel!“ Antwortete Egrin. Fragend blickte Ogon auf die Tasche. „Aber die ist leer. Wo ist denn unser Proviant?“ Fragte er den Kobold. Egrin lachte daraufhin bloß, und fing an, lautstark zu pfeifen, so laut, dass der Riese sich die Ohren zuhalten musste. Eine bizarre Melodie entstand, und zwischen den Bäumen kamen Scharen von Vögeln, Kaninchen, Eichhörnchen und sogar Käfer hervor, die allesamt Nüsse, Beeren, Körner und anderes Essbares mit sich trugen. Egrin hielt seinen Rucksack offen, und die Tiere begannen reihenweise ihre Mitbringsel in den Rucksack zu tun. „Ich schätze, wir werden gut versorgt sein.“ Sagte Egrin daraufhin mit einem fiesen Lächeln. „Egrin, du strotzt nur so vor Überraschungen.“ Antwortete Ogon staunend und mit großen Augen. „Ich hoffe doch, dass es sich dabei nur um positives handelt.“ Warf der kleine Schneider lachend ein.

Gemeinsam verließen die beiden die Lichtung, und marschierten heiter den gewohnten Weg entlang, am Fluss vorbei, geradewegs den Gepflasterten Weg entlang.
Egrin breitete währenddessen die Karte aus, die er mitgenommen hatte. Er betrachtete den Weidenwald, und erzählte die erwähnenswertesten Dinge, die er über den Wald weiß: „Wir befinden uns im mittleren Teil des Waldes. Ich habe genau beim Mittelpunkt mein Häuschen gebaut, um an jedem der verschiedenen Orte gleichentfernt zu sein. Hier oben, beim Grollgebirge, dem nördlichsten Teil des Waldes, herrschten einst die Trollbrüder. Sie waren zu viert, zwei regierten über die Berge, die an den Wald grenzen, und die anderen beiden teilten sich den nördlichen Weidenwald. Doch irgendwann fingen sie an zu streiten, der eine wollte die Berge, der andere das Grün, und wie man die Trolle und ihre Intelligenz kennt, haben sie sich gegenseitig zerfleischt, anstatt einfach zu tauschen. Ich denke, du kennst die Leier mit den Trollen. Das geht nie gut aus. Derzeit leben dort die verschiedensten Tiere, ich kenne viele von dort. Nur selten trauen sich noch Trolle und anderes Unwesen in die Wälder. Hier, im Osten, ist es am düstersten, die Bäume am dichtesten, und ebenfalls unwahrscheinlich gefährlich: Hier bin ich öfters mal dem einen oder anderen Troll begegnet, und das nicht ganz ohne Kampfhandlung. Wenn du diesen Ort aufsuchen solltest, hüte dich vor den dicken, schwungvollen Bäumen, die ein leises Summen von sich geben, denn wenn du dich einmal versiehst, fressen sie dich!
Der Süden bietet nicht viel Spannendes, viel Wasser, viele Hügel, und Wiesenlandschaften. Ab und an sind hier Menschen anzutreffen, denn der Süden des Waldes ist eine weit verbreitete Touristenattraktion. Und zu guter Letzt, der Westen, unser Reiseziel: Hier, am Rande des Waldes, ist die Heimat von Yra, der Waldhexe. Sie kann dir bei deiner weiteren Reise helfen, sie kann dich mit Waffen und genügend Proviant, mehr, als ich und meine Kumpanen dir jemals bieten könnten, ausstatten. Sie ist eine alte Freundin von mir, und nebenbei sehr hübsch anzusehen. Sie lebt in einem Turm auf einem Hügel, der zwischen den Bäumen herausragt. Du wirst ihn nicht übersehen können, wenn wir diesen Weg weitergehen.“
„Und diese Hexe…Yra… Wie kann sie mir bei meiner weiteren Reise behilflich sein? Hat sie zufälligerweise besonders große Pferde, auf denen ich reiten kann?“ Fragte Ogon.
„Nein, sie ist im Besitz von Reisespiegeln, die sie teilweise selbst erschaffen hat. Das sind Spiegel, die als Tore dienen. Mit denen kann sie dich an die Orte deines Wunsches transportieren.“

Die Zeit verlief wie im Sande, die Sonne verschwand langsam hinter den Baumkronen, und lange, rötliche Schatten wurden geworfen. Die Grillen wurden lauter, und im Dickicht konnte man vereinzelt Glühwürmer erkennen, insofern man gut geschulte Augen hatte. Kaum mehr ein Vogel begegnete den zweien, dem Egrin mit wilden Pfiffen hätte grüßen können. Als der Mond aufging, der die obersten Zweige wie feine Schatten darstellen ließ, und die Blätter grell durchleuchtete, erreichten Ogon und Egrin eine mit Gras bedeckte Anhöhe, unter der sich ein kleiner Höhlenspalt befand.
„Ich denke, es ist Zeit, Rast zu machen, und unseren müden Knochen eine Pause zu gönnen.“ Sprach Egrin mit erschöpfter Stimme, und einem anschließendem, lauten Gähnen. Sie kletterten in die Höhle, legten sich in das weiche Gras, und gaben sich ihren Träumen hin. Es wurde finster im Wald, und das einzig sichtbare waren die Sterne.

Zuletzt geändert von El Granto am So 19. Jan 2014, 12:35, insgesamt 1-mal geändert.
Benutzeravatar
El Granto
standhafter Schreiberling
standhafter Schreiberling
Beiträge: 32
Registriert: Sa 18. Jan 2014, 11:45

Re: [EX16]Die Legende von Ogon (High Fantasy/ Sword and Sorc

Beitrag von El Granto »

-2-

Gromburg

Raivyn von Shireheard konnte kaum Schlaf finden, als die hölzernen Räder der Kutsche über die Schroffen Kopfsteine fuhren. „Junge!“, hörte er seine Mutter Levita keifen. „Du sollst nicht auf dem Weg nach Gromburg schlafen! Sonst sieht deine Frisur wieder aus, als ob auf deinem Kopf ein Sturm gewütet hätte! Und wir wollen ja nicht, dass du vor Prinz Galin und dem König aussiehst wie ein wilder Barbar!“
Zu gern hätte er jetzt mit jenem genannten Barbar getauscht. Er wollte lieber mit Schwert und Schild kämpfen, anstatt mit seinen Eltern zu verreisen, denn wenn Raivyn eines war, dann ein Träumer. Er war 19 Jahre alt, und steckte seinen Kopf am liebsten in Abenteuerbücher, anstatt in politische Abhandlungen.
Obwohl es für seine Eltern immer wichtiger wurde, dass auch er Verantwortung übernahm, denn Familie von Shireheard besaß ein riesiges Plantagenunternehmen, wodurch sie ein hohes Ansehen in Fartaris genossen. Jedoch interessierte ihn nichts weniger, als das Ernten von Äpfeln und das Heranziehen von Tomaten.

Ein Diener richtete Raivyns schwarzen Haare. „Sind wir bald da?“, fragte Raivyn mit müder Stimme. „Wir haben soeben den Drosselbach passiert. Heißt, wir sind in weniger als drei Stunden angekommen.“, antwortete sein Vater, Derio, der mit seinen breiten Armen den Diener wegschob, um seinem Sohn in die Augen zu sehen. „Und denkt daran, ihr beiden, wenn wir da sind, setzt immer ein freundliches Lächeln auf. Wir müssen mit aller Kraft versuchen, bei dem Königshaus zu punkten, du weißt, wie wichtig uns das ist, nicht wahr, Raivyn?“, gab Levita lautstark und hektisch von sich. In der Kutsche knarrte und rumpelte es, weswegen Levita des Öfteren in den Spiegel blicken musste, um sich die Haare zu richten. Sie hätten auch die Strahlenbahn (Ähnlich einer Eisenbahn), oder die Luftschiffe benutzen können, doch diese „Neumodischen Erfindungen dieser Technikbesessenen Jugend“ sagte ihnen gar nicht zu, sie setzten lieber auf altmodischere Methoden. Dennoch mochte Frau Shireheard nicht auf die modernsten Kosmetikartikel verzichten.

Ein wenig aufgeregt war Raivyn jedoch schon. Er sollte in wenigen Stunden schon Prinz Galin und dem König, Helmm II, gegenüberstehen, den herrschenden Köpfen Gromburgs. Wenn er diese Namen hörte, dachte Raivyn an jene schicksalhaften Tage, die Gromburg und Fartaris für immer verändern sollten:

Vor acht Jahren wurde ein verheerender Anschlag auf die Hauptstadt von Fartaris verübt, und zwar von Ranghuls, Horden von Untoten, die vom Hexer Horx wiederbelebt wurden. Die Einwohner Gromburgs, an deren Spitze Galin und sein Leibwächter, Faaron Wilbur, standen, setzten sich zu Wehr, und konnten die Angreifer in die Flucht schlagen.

Raivyn versank immer weiter in solchen Gedanken, einzig die Worte, die seine Mutter und sein Vater ihm eintrichterten, hielten ihn davon ab, weiter zu träumen. Sie waren nämlich nicht ohne Grund auf der Reise nach Gromburg. Die Blaublütenmonate standen an. Dabei handelte es sich um eine alte Tradition, die besagte, dass das Volk neue Thronfolger wählen musste, wenn die Himmelssträucher in den königlichen Gärten blühten. Zu diesem Zeitpunkt kann sich jede Adelsfamilie mit ihrem Nachwuchs bewerben, und acht Teilnehmer, vier Jungen und Vier Mädchen, werden zu diesem Wahlverfahren auserkoren.
Raivyn ist einer von ihnen, und er konnte es kaum mehr hören, wie oft seine Eltern ihm Ratschläge erteilten, wie er sich zu verhalten habe, um den Leuten zu gefallen.

Was ihn außerdem nervös machte, war die Gattin, die er zugesprochen bekommen sollte. Denn alle vier Knaben, die an diesem „Wettkampf“ teilnahmen, sollten mit einem der vier weiblichen Anwärter auf den Thron liiert werden, und wenn Raivyn vor einer Sache Angst hatte, dann waren es Mädchen.
Er schreckte vor keiner Kreatur aus den gruseligsten Abenteuerromanen zurück, aber bei der Kontaktaufnahme mit weiblichen Lebewesen bekam er keinen Ton heraus.

Die Stunden vergingen, und das dichte Geäst, welches sich neben der Straße befand, wurde immer dünner. Die Wege wurden breiter, man traf auf andere Kutschen, und die Schilder der ersten Gasthäuser, die über den Fußwegen prangten, wurden sichtbar.
Hinter den Hügeln konnte man bereits das Wasser sehen, welches sich als ein breiter Fluss entpuppte, der in den Riesigen See mündete, auf dem sich die Inselstadt Gromburg befand.
Sie sah aus der Ferne unfassbar Riesig und prunkvoll aus, und mit den großen Türmen auf dem Herrscherpalast, fast wie ein überdimensionaler Pokal.
Sie überquerten die Leonardsbrücke, die einzige beständige Verbindung zum Festland, und vor ihnen Baute sich der riesige Palast wie ein Gigant auf. Vor den Toren wurden sie prächtig empfangen, und zwar von Galin, seinem Leibwächter Faaron, und dem König höchst persönlich. „Seid gegrüßt. Es ist uns eine Ehre, euch zu diesem Anlass begrüßen zu dürfen.“, Sagte der König. „Fühlt euch heimisch, vielleicht wird dies auch bald eure Heimat sein.“, fügte Galin hinzu. Seine blonden Locken und sein Bart ergrauten, und er sah nicht mehr so aus, wie der Held aus den Geschichten, die man sich erzählte. Auch Faaron schien alt geworden, und er trug eine Augenklappe, die er aufgrund einer Verletzung, die er aus dem Krieg gegen die Ranghuls davongetragen hatte. Als Raivyn seine Helden betrachtete, konnte er den Konflikt von damals glatt vor seinem geistigen Auge sehen:

Galin, der sein blutiges Schwert mit seinen zitternden Fingern umklammerte, und Faaron, mit Pfeil und Bogen bewaffnet, der mit dieser Waffe umgehen konnte, als ob er damit geboren wurde, wurden von dem Untoten Heer bereits bis zu der Schlossbrücke zurückgedrängt. Einen nach dem anderen schlugen sie zurück, doch die Meute schien nicht weniger zu werden. Die Kämpfer stoppten für einen Moment ihr Gefecht, denn sie nahmen etwas Ungewöhnliches wahr.
Etwas, dass kaum einem Ranghul entsprach: Ein grobes Stapfen, ein tiefes Schnaufen, und ein Gelächter, von tiefer Stimme, tiefer, als jede Steinschicht unter der Erde. Klimpern, schroff und unangenehm, Knacken, lauter als brechende Knochen, und ein fauliger Geruch, schlimmer, als der Tod. Zwischen den Untoten kam ein Koloss hervor, der aufgestemmt doppelt so groß wie ein Normalwüchsiger war.
Es handelte sich um niemand geringeren als Gremgol, den Ranghulkönig höchstpersönlich, der sich den Thronfolger selbst vornehmen wollte. Zwischen seinen rissigen, vertrockneten und blutverschmierten Lippen breiteten sich seine riesigen Zähne aus, und formten sich zu einem eiskalten grinsen. Galin, der Thronfolger, blickte voller Furcht, aber trotzdem entschlossen, zurück zu dem Unwesen, als Faaron sich schützend vor ihn stellte. „Nein“ gab Galin von sich. „Schütze mich nicht. Wir werden ihn gemeinsam niederschlagen!“, und Galin stellte sich neben Faaron.

Aus Gremgols Lächeln wurde ein finsteres Kichern. Er nahm voller Freude seinen Morgenstern zur Hand, den er hinter sich herzog, und holte mit seinen toten Armen aus. Galin gelang es jedoch, das Todeswerkzeug mit seiner königlichen Klinge abzuwehren, sodass die Kugel in den Boden schlug. Gremgol versuchte es mühselig aus dem Stein zu ziehen, doch Faaron nutzte diese Zeit, um den Untoten mit seinen Pfeilen zu beschießen. Sie schienen den Ranghulkönig zu besiegen, doch Gremgol holte mit seinen riesigen Pranken aus, an denen er eiserne Kampfkrallen trug, und Faaron und Galin mussten zurückweichen, was dem Untoten Zeit verschaffte, seine Waffe aus dem Gestein zu befreien, und so kämpften sie sich bis zu den Schlosstoren vor.

Galin, der ermüdet vom Kämpfen zu Boden fiel, schien Gremgols Morgenstern endgültig zum Opfer zu fallen, doch Faaron schmiss sich mit ganzem Körpereinsatz vor den Prinzen, und letztendlich wurde der Bogenschütze von der gesamten Wucht der Waffe getroffen. In einem Riesigen Bogen flog er von der Brücke, auf der sie sich befanden, und fiel in eine Schlucht voller Dornsträucher und spitzer Zweige. Galin schien dem Tode nun endgültig ausgeliefert zu sein. Er krabbelte geplagt von Schmerzen zu seinem Schwert, dass er nach einem Schlag des Untoten verlor, und umklammerte es angestrengt mit seinen Fingern. Mühsam stand er auf, während Gremgol voller Freude an dem Tod und der Zerstörung auf ihn zu stapfte. Er hob ein gefühltes letztes Mal seine riesigen, blutigen Arme in die Luft, ließ seine tödliche Waffe hinter seinem Rücken baumeln, während Blut leise an den Körpern der beiden herunterlief, und ein kaum Wahrnehmbares Geräusch aus Lärm und Klimpern aus der Innenstadt zu hören war, welches auf Krieg und Schmerz zu schätzen war. „Winsle, Thronfolger! Geh auf die Knie!“, schrie Gremgol siegessicher. „Nein“ gab Galin von sich. „Entweder sterbe ich im Kampf, oder du kannst gleich in deine tote Heimat umkehren!“
In seinem Stolz verletzt setzte der Ranghulkönig nun alles daran, den Prinzen umzubringen, also rannte er wie geschwind, mit Waffe im Ansatz, auf Galin zu, doch er schien jemanden zu vergessen:

Faaron, der in das Gestrüpp gefallen war, klammerte sich fest an seinen Bogen, und konnte einen Pfeil aus dem Gebüsch ziehen, der mit ihm von der Brücke fiel. Der Bogenschütze sah sich um, und umgeben von all dem Geäst und Morast, erblickte er ein Loch im Dickicht, durch dass er bis zur Brücke sehen konnte. Er hörte Gremgols Kriegsschreie, und er ahnte, dass der Ranghul nun zum finalen Schlag ausholte. Also nahm Faaron seinen letzten Pfeil, spannte seinen Bogen, und schoss durch das Loch, durch das er blicken konnte, und hoffte, den Ranghulkönig zu treffen. Und, wie durch ein Wunder, traf der Pfeil den Untoten direkt in sein linkes Auge, kurz bevor er Galin hätte erschlagen können. Geschwächt fiel Gremgol vor Galin auf die Knie, verlor seine Waffe, und heulte förmlich vor Qualen. Der Thronfolger, überrascht von der Wendung der Situation, nahm sein Schwert, setzte es an, und richtete Gremgol hin.
Faaron, der eigentliche Held der Schlacht, verlor ein Auge, als er in den Graben fiel, und er erhielt freudig den Spitznamen „Astauge“ im Königshaus.

„Du musst Raivyn von Shireheard sein.“, sagte Galin, und er riss Raivyn aus seinen Träumen. Nach der herzlichen Begrüßung versuchte Levita sofort auf Galin einzusprechen, dieser ignorierte sie jedoch, und ging auf Raivyn zu. Kurz darauf rückte er ein paar Wörter raus. „Wie hat es sich angefühlt… Als ihr den Ranghulkönig niedergestreckt habt?“, fragte er interessiert, aber eingeschüchtert. Daraufhin schlug Levita den Jungen mit ihrem kleinen Spiegel an den Arm. „Bist du noch bei Verstand?! Weshalb belästigst du den Thronfolger mit solch unsittlichen Fragen?!“ versuchte sie ihm zuzuflüstern. „Diese Frage war keineswegs unsittlich“, verteidigte Galin Raivyn. „Es fühlte sich schrecklich an. Doch gerade dieser Schrecken befriedigte meine Wut, die ich bekam, als ich auf die Stadt nieder sah, und bemerkte, wie sie litt.“
„Wahnsinn…“, sagte Raivyn beeindruckt. „Kommt, gehen wir hinein“, sagte der König. „Uns erwartet ein Festmahl.“

Stumm folgte Raivyn dem Thronfolger. Ihm lagen dutzende Fragen auf der Zunge, doch seine Faszination ließ seinen Mund erstarren. Sie gingen über die Brücke, durch das Schlosstor, und betraten den Palast. Überall liefen Knechte und Diener zwischen den Stühlen und Tischen hindurch, um den Saal für das Erntefest zu schmücken, dass diesen Abend anstand. Einige Gäste haben bereits Platz genommen, der Raum war aber noch so gut wie leer. Auf den länglichen Tischen waren Blumensträuße und Vasen in den buntesten Farben dekoriert. An der Decke wurden Kronleuchter angebracht, und behutsam wurden die Kerzen entzündet. Aus den Seiteneingängen kamen Köche, die Getränke, Fässer, Besteck und Tabletts voller Köstlichkeiten auf die Tische stellten. In der Mitte der Tische wurden riesige Schweinebraten platziert, der mit einer deftigen Kräutersauce gewürzt wurden. Um den Braten herum lagen kleine Schüsseln, in denen sich ein feinschmeckender Salat befand. Um den Tisch herum wurden noch viele weitere Speisen aufgebaut, und Raivyn fühlte sich zwischen den Dienern und Köchen, als würde er ihnen den Platz wegnehmen, also wendete er sich von den Tischen ab.

Als sie den Saal passierten, meldete der König sich erneut zu Wort: „Setzt euch, solange noch Platz da ist. Heute Abend wir der Saal aus allen Nähten platzen!“
Familie von Shireheard schaute sich nach einer guten Sitzgelegenheit um. Wie gewohnt, versuchte Levita im Mittelpunkt zu stehen, und suchte sich einen Platz, der so nah wie möglich an dem König war. Als der König dies sah, musste er einige Worte einwerfen: „Oh, nein, nein, nein! Entschuldigen sie, die Plätze am Königstisch sind allesamt reserviert. An meine Onkel und Tanten, und Vettern und Neffen, müssen sie wissen. Ach, da fällt mir doch soeben ein, dass Raivyns zukünftige Gattin bereits eingetroffen ist. Sie können sich doch bereits zu ihr und ihrer Familie gesellen, damit, wenn die Blaublütenmonate anfangen, sie bereits miteinander warm geworden sind!“

Als Raivyn diese Worte hörte, lief es ihm eiskalt den Rücken runter. Als würde eine üble Meute Oger vor ihm stehen, und ihn zu Hackfleisch verarbeiten wollte. Oder, als wenn Mutter Levita ihn dabei erwischte, wie er anstatt sein Zimmer aufzuräumen, seinen Kopf in Abenteuerbücher steckte. (In seinem Falle waren die beiden Szenarien mehr als nur vergleichbar)

„Oh, sie ist schon da… Verdammt! Was zum Henker soll ich denn zu ihr sagen! Ich hätte etwas aufschreiben sollen, bevor wir hier her gefahren sind!“, dachte er nervös und schwitzend. „Oh, wie reizend!“ sagte Levita überrascht. „Dann lernst du ja doch schon deine zukünftige Gattin kennen. Wo sitzt sie denn, wenn ich fragen darf?“
„Gewiss!“, sagte der König erfreut. „Dahinten, am linken Tisch von hier. Das ist Familie Harve, aus dem Landkreis Grefel. Sie werden sich bestimmt auf Anhieb anfreunden. (Ach ja, und für ihren Sohn wird sie sehr hübsch anzusehen sein)“

Diese Worte machten Raivyn nur noch viel unsicherer. Mit jedem Schritt, den sie nun auf Familie Harve zugingen, bekam Raivyn mehr Panik. Er hatte schon so viele Romane gelesen, über Abenteuer, über Schlachten, und über Spuk. Er wusste, wie Krieger mit Schwertern umgingen, er wusste, welchen Zauberspruch man aufsagen musste, wenn ein Troll einem gegenüber stand. Aber Mädchen? Er sprach nur selten mit „solchen Geschöpfen“. Er kannte auch nicht viele. Klar, da gab es Bertha, das Hausmädchen. Gut, sie hätte seine Großmutter sein können, aber immerhin war sie ein weibliches Wesen. Und Velissa, die, die in der Bäckerei arbeitete, und dem am Nächsten kam, was Raivyn attraktiv nannte. Er besuchte oft ihre Bäckerei, und meist waren die Backwaren nur eine Nebensache. Sie verstanden sich gut, sie redeten sogar lange miteinander. Man konnte sagen, Raivyn war faul wie sonst nichts, aber die einzige Aufgabe, die er jeden Tag übernahm, war der Gang zur Bäckerei.

Doch hierbei handelte es sich nicht um eine Hausfrau, oder eine Backwarenverkäuferin, nein, hierbei handelte es sich um eine Dame in genau seinem Kaliber. Was, wenn sie ihn für einen totalen Versager hielt? Oder wenn ihm irgendetwas peinliches passierte? Er musste sich einfach von diesen Gedanken losreißen, den schüchternen und selbstzweifelnden Raivyn hinter sich lassen.
„Vielleicht hat sie ja dieselben Ansichten wie ich“, dachte er hoffend. „Vielleicht haben ihre Eltern sie auch bloß hergezerrt, weil sie hinter dem Geld und dem Ruhm her sind.“

„Sie müssen die Harves sein, stimmts?“, fragte Levita einladend. „Ja, schön sie zu sehen, Frau… Shireheard, nehme ich an?“
Levita bejahte die Frage, und schob Raivyn grinsend in den Vordergrund. „Das ist er, unser Sohn Raivyn, und gleichzeitig ihr zukünftiger Schwiegersohn!“, lachte sie hervorhebend.
Raivyn sah nun Herr und Frau Harve, und sie wirkten beide sehr dünn und ärmlicher, als würden sie überhaupt nicht in die Runde passen, die sich hier vorfand. Natürlich hatte Raivyn vorher über die Familie seiner zukünftigen Frau recherchiert, und wie es schien, sind sie keine Landbesitzer, sie haben keinen großen Titel und sind auch keine geschulten Magier. Sie haben wohl einfach eine Menge Geld geerbt, und das war alles. Raivyn war es einfach nur peinlich, wie seine Mutter sich wieder verhielt. „Oh, ein hübscher Bursche! Ich denke, du willst sicherlich deine zukünftige Lebensgefährtin kennenlernen.“, warf Frau Harve ein. Kaum konnte Raivyn antworten, schon kam sie in sein Blickfeld, die Frau, vor der er sich so fürchtete.

Sie hatte welliges, braunes Haar, glänzende, blaue Augen, und Lippen, perfekt geformt und rot wie Blut. „Guten Tag.“, sagte sie zurückhaltend. „Mein Name ist Lera Harve. Es freut mich dich kennenzulernen.“
Sie hielt ihm die Hand hin, damit er sie schütteln konnte, doch er konnte nicht reagieren, so gebannt war er von ihrer Schönheit.
Erst ein paar Sekunden verzögert, und durch einen Tritt von Mutter Levita gegen den Knöchel, wachte Raivyn aus seinem vertieften Blick auf. „R- R- Raivyn, ich, ich heiße Raivyn! Raivyn von Shireheard!“
Und dies war einer von den Momenten, die Raivyn besser machen wollte.

Und es lief den ganzen Abend lang so. Er blickte sie an, und wusste nicht was er hätte sagen sollten.
Die Sonne ging hinter den Fenstern langsam unter, die restlichen Gäste trudelten ein -es waren Unmengen-, und nach einem Trunkspruch und einem Herrenwitz des Königs ging die Feier richtig los: Es wurde getrunken ohne Ende, es wurden Unmengen an Speisen verzehrt, ob nun Gemüse, Fleisch oder Gebäck. Es wurde ausgiebig getanzt, geschunkelt und gelacht.
Es schien aber nicht sehr aufregend für Raivyn und Lera zu sein. Sie saßen unsicher dort nebeneinander, und sie wussten, dass sie für die Zukunft bestimmt sein sollen, wenn sie das Publikum begeistern. Eine gute Stunde saßen sie noch schweigend dort, dann blickte Lera in Raivyns Augen, packte seine Hand und flüsterte: „Komm mit.“

Gemeinsam schlängelten sie sich durch die Menge, und sie erreichten einen Durchgang. Es war ein Korridor, an dessen Ende sich eine Wendeltreppe befand.
„Wo willst du hin?!“, fragte Raivyn, doch Lera antwortete nicht. Sie bestiegen die Treppe, und sie waren nun in einem langen Flur, der wohl der Zugang zu den Schlafzimmern war. Lera holte einen Schlüssel aus ihrer Tasche, und öffnete eine der Türen, die sich an der Seite befanden. Raivyn, der immer noch ahnungslos war, fragte sich, ob sie… Nun ja, ob sie hier…
Aber bevor Raivyn diesen Gedanken zu Ende denken konnte, schloss Lera die Tür hinter sich, und sagte: „Endlich weg von dieser versoffenen Masse.“
„Und was machen wir jetzt hier?!“, fragte Raivyn daraufhin. Plötzlich zog Lera ihr Kleid aus, und Raivyn machte Augen, als ob ein fleischfressender Kobold vor ihm stand. Lera erwiderte diesen Blick, jedoch mit fragwürdiger Mimik, und sagte zu Raivyn: „Was ist los? Dreh dich gefälligst um, verdammt!“
„Oh, ich, entschuldige ich dachte… Nichts.“, antwortete Raivyn peinlich verlegen.
„Was dachtest du?“
„Ich dachte… Weiß ich nicht, entschuldige…“
„Oh Himmel, du dachtest, dass wir jetzt…“
„Nein, sowas hätte ich nie gedacht…“
„Wie auch immer, ich wollte mir nur etwas gemütlicheres anziehen.“
Irgendetwas ist geschehen, dachte Raivyn. Das ist nicht mehr das schüchterne Mädchen, dass er kennenlernte, dachte er. Sie wirkte… Härter.
„Du kannst dich wieder umdrehen.“, gab sie nach ein paar Sekunden Bescheid. Sie trug nun nicht mehr ihr Kleid, sondern eine Hose und ein weißes Hemd. Dazu ein paar schwarze Stiefel, und ihre Haare trug sie nicht mehr offen, sondern in einem Zopf.
„Donnerwetter, das ging aber schnell.“, sagte Raivyn dazu. Lera antwortete nicht, sondern öffnete das Fenster, und kletterte hinaus. Erschrocken fragte Raivyn: „Was machst du denn da?!“, doch Lera war zu beschäftigt, als dass sie antworten konnte. Als sie auf dem Vordach stand, sagte sie: „Ich will mir die Stadt ansehen. Da drinnen ist es mir zu langweilig.“
Raivyn sah sie an, wie sie gekonnt auf das nächste Dach kletterte. Daraufhin fragte sie: „Was ist los? Kommst du mit, oder willst du mir bloß hinterher gaffen?“

Er überlegte kurz, doch ihm ging es genau so, es nervte ihn bloß, seine Mutter anzusehen, wie sie versuchte, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, also kletterte er ebenfalls hinaus zu ihr, und sprang hinter ihr her. Sie lief davon, sprang hin- und her, kletterte Mauern hoch, überwand Straßenschluchten, dicht gefolgt von Raivyn, der kaum fassen konnte, was sie hier taten. Sie konnten auf fast jede Straße blicken, konnten alle feiernden Bewohner beobachten und die schönen Festwägen erblicken. Schließlich blieben sie auf der Spitze eines hohen Hauses stehen, und sie konnten auf die ganze Stadt niedersehen.

„Unglaublich, hier ist es wunderschön.“, sagte Raivyn begeistert. Eine Weile schwiegen sie, es war aber ein schöneres Schweigen, als das in dem Festsaal. Wenn er sie ansah, fand er den Gedanken gar nicht so schlimm, sie zu heiraten. Dann überwand er die Stille, und fragte sie: „Weshalb bist du hier? War es dein Wunsch, oder der deiner Eltern?“
Kurz hielt sie inne, dann antwortete sie: „Es war der Wunsch von uns dreien.“
„Wenigstens das…“, sagte Raivyn. „Meine Mutter war es, die herkommen wollte. Ich hätte ruhig auf unserer beschaulichen Plantage bleiben können. Ich hasse es, wie sie versucht mein Leben zu bestimmen!“

Doch jetzt, wo er sie kennengelernt hatte, war er doch ziemlich froh, hier zu sein, aber natürlich traute er sich nicht, dies laut vor ihr auszusprechen.
„Gut, dass du so eine Einstellung hast. Ich habe eigentlich auch keine Lust, später zu regieren. Denn wenn ich ehrlich zu dir bin, was ich, glaube ich, sein kann, kann ich dir anvertrauen, weshalb meine Eltern und ich wirklich hier sind.“, sagte Lera daraufhin.
Gespannt blickte Raivyn zu ihr. „Was? Weshalb seid ihr denn hier?“, fragte er.
Nach Verzögerung kam sie zu Wort: „Meine Eltern und ich… Wir sind nicht vom Adel, wir sind Diebe. Wir haben uns unseren Rang gestohlen. Wir wollen hier nur wegen dem Geld gewinnen, und wenn wir es haben, verschwinden wir wieder, so schnell, wie wir können.“

Das konnte Raivyn nicht fassen. „Was? Das glaub ich nicht… Ihr seid Diebe? Und was, wenn Galin und der König es herausfinden?“, fragte er hektisch.
„Niemand weiß es, außer du, meine Eltern, und ich. Und wenn irgendjemand mit der Sprache rausrückt,“, betonte sie, „Dann werde ich höchst persönlich dafür sorgen, dass dieser Jemand Schmerzen erleiden wird.“
Es war Mitternacht. Das Erntefeuerwerk wurde gezündet. Die Dächer erstrahlten in prachtvollen Lichtern. Der Himmel funkelte, und es waren kaum mehr die Sterne zu sehen. Zwischen den Gassen hörte man Menschen laut jubeln und Feiern. Lera stand auf, und ging den Weg zurück zu ihrem Fenster.
„Was ist los, ‘Schatz‘? Komm mit, unsere Eltern suchen uns bestimmt schon. Und morgen steht uns ein harter Tag bevor, wir lernen nämlich unsere Konkurrenz kennen.“, sagte sie, während ihre Haare im Funkenregen der Feuerwerksraketen glänzten.

Benutzeravatar
El Granto
standhafter Schreiberling
standhafter Schreiberling
Beiträge: 32
Registriert: Sa 18. Jan 2014, 11:45

Re: [EX16]Die Legende von Ogon (High Fantasy/ Sword and Sorc

Beitrag von El Granto »

-3-

Donnergrollen

Als die Sonne gerade einmal so hoch war, dass sie über die obersten Zweige der Baumkronen scheinen konnte, war Egrin bereits eine Weile wach. Er säuberte seine Kleider, schrubbte den Dreck von seinen Schuhen und richtete seine Hutkrempe. Außerdem machte er sich genauere Gedanken, welchen Weg sie am besten einschlagen sollten, damit sie Yras Haus am gemütlichsten erreichen. Er verbrachte viel Zeit damit, die Karte genauer zu studieren, die er mit im Gepäck hatte, und er sprach mit Tieren, die ihn an diesem Ort begegneten.
Als er letztendlich mit diesen Tätigkeiten fertig war, weckte er Ogon, der noch tief und fest im Gras lag und friedlich schlief.

„Na los, wach schon auf, Riese!“, grummelte der Kobold. „Nun werd‘ schon wach! Wenn wir heute noch Yra einen Besuch abstatten wollen, müssen wir uns zügig ranhalten. Es ist bereits nach acht, und gefrühstückt wird auf dem Weg.“
Aus allen Träumen gerissen, erhob sich Ogon aus dem weichen Grasbett. Er zog umgehend, aber dennoch mit müden Augen, seine Stiefel und seine Lederweste an. Er rubbelte mit seinen großen Händen ein paar Grashalme von seiner Hose und seinem Hemd. Anschließend ging er mit Egrin zum Bach, der sich vor dem Hügel befand, und spülte sein Gesicht mit dem klaren Wasser ab.

„Sag, Egrin, bist du schon lange wach?“, fragte Ogon unwissend. Daraufhin nahm Egrin seinen Hut ab, und antwortete: „Lange? Lange wäre untertrieben! Während du noch in deinen Träumen lagst, habe ich durchaus wichtige Vorkehrungen für unsere Unternehmung getroffen. Und damit alles nach Plan läuft, müssen wir uns auch schon auf den Weg machen.“
Gesagt, getan, und so tranken sie noch einen Schluck von dem kalten Wasser aus dem Bach, und gingen los.
Egrin ging mit flotter Sohle einige Schritte voraus, und studierte die Umgebung, um sich ein genaues Bild von ihrem Weg zu machen. So verließen sie die Lichtung, in der sich die Anhöhe befand, und folgten einem Pfad, der seitlich des Baches seinen Lauf nahm. Pollen flogen in Scharen durch die Luft. Sie wurden von dem milden Wind aufgewirbelt, und glänzten prächtig im Sonnenlicht, das über die Baumkronen zu ihnen herunter schien. Egrin traf einige seiner Waldfreunde; Ob nun Rehe oder Vögel, dieser Ort schien wie eine Hochburg dieser Fabelwesen.
Sie trafen sogar ein Pferd, Fali war sein Name, und es staunte nicht schlecht bei dem Anblick des Hünen. An einem Ausläufer des Baches trafen sie außerdem Herrn Fahlstamm, einen Biber, den Egrin bereits eine halbe Ewigkeit kannte. Er lud die beiden Gefährten zu einem Tee in seinem Damm ein (Der bekanntlich exzellent schmeckte), doch Egrins Zeitplan ließ eine derartige „Zeitverschwendung“ nicht zu, da sie am selbigen Tag noch die Dame Yra erreichen wollten.

Auf ihrer Reise fingen sie an, zu plaudern, über den Wald und die Welt. Egrin fing an, über seinen unnormal großen Verwandtenkreis zu sprechen, und Ogon hörte still zu. Bald jedoch änderte sich das Themengebiet ihres Dialogs, als Ogon fragte: „Dieser Ort, an dem ich… Aufgetaucht bin, was für ein Ort war das? Du meintest, du kennst diese Stelle des Waldes.“
Man merkte schnell, dass es nicht das Lieblingsthema des Kobolds war, doch er versuchte trotzdem, dem Riesen eine Antwort zu geben.

„Dieser Ort, er gehörte einst zu einer Gruppe von Orten, die es schon gab, bevor dieser Wald existierte. Was du sahst, waren bloß verfallene Ruinen, Trümmer einer einst prächtigen Stätte.
Eine uralte Zivilisation errichtete diese Plätze, und das Wasser, aus dem du emporstiegst, ist kein gewöhnliches Wasser. Es handelte sich dabei um eine Art Portal, welches die früheren Erbauer nutzten, um zwischen den heiligen Stätten hin- und her zu reisen.“, gestand er dem Riesen. Ogon schaute den kleinen Schneider verblüfft an, und blieb stehen.

„Moment, Portale?! Könnte ich dann nicht einfach wieder in den Teich steigen, um zurückzugelangen?“, fragte er unwissend. Egrin jedoch versuchte ihn vom Gegenteil zu überzeugen. „Nein, nein, nein! Das ist nicht so einfach, du kannst dich nicht einfach in diesen Tümpel stellen und hoffen, dass der Moder dich wieder einsaugt, es muss einen Magischen Vorgang geben, der dieses Portal aktiviert, das benötigt Unmengen an Zauberkraft, und für dieses Gebiet gibt es nur wenig Spezialisten. Außerdem gibt es dutzende von diesen Portalen, wer weiß, wo du landen würdest, bei einem derartigen Durcheinander im Wald.“

Man merkte, wie es Ogon störte, dass er nicht wusste, wie er zu seinem Ursprungsort zurückkehren konnte, und nicht wusste, weshalb er bei diesem Portal erschien. Er versuchte jedoch, sich einen Reim aus alledem zu machen: „Das heißt, ich muss an einem dieser Orte gewesen sein, und von dort aus muss mich jemand mit Kenntnissen dieser Magie hierher, in den Wald, Transportiert haben.“
Egin fiel auf, wie Ogon sich in dieses Thema rein steigerte. Er versuchte ihn, mit etwas anderem abzulenken. „Nun, wie hast du eigentlich geschlafen, Ogon?“, fragte Egrin. „Hast du irgendetwas geträumt?“
„Oh ja, ich habe viel geträumt. Ich träumte von einer Stadt bei Nacht. Diese Stadt wirkte einerseits wundervoll und prächtig, überall in den Fenstern funkelte Licht, von Kerzen und Fackeln, doch andererseits sahen die Häuser und Straßen verfallen und Zerstört aus. Ich weiß nicht, ob das Gromburg sein sollte, auf jeden Fall machte es einen verfallenen Eindruck.“, antwortete der Riese ausführlich.

Egrin lachte daraufhin bloß kurz. „Also, von allem, was ich über Gromburg gehört habe, passt das am wenigsten zu dem Bild, was ich von der Stadt im Kopf habe.“, antwortete er. Ogon blickte demotiviert zu Boden. „Ach Egrin, ich hoffe bloß, das meine Reise ein Ziel findet. Hoffentlich führt mein Weg nach Gromburg nicht ins nichts.“, sagte er dem Kobold traurig.
„Ach was! Mach dir doch nichts aus diesem blöden Traum. Dein Kopf denkt halt manchmal Unfug, so ist das eben. Meiner ist auch nicht anders, ich meine, ich kann für jede größe und jede Breite die richtige Klamotte entwerfen, aber was ist mit mir? Sieh mich an. Ich lauf‘ in den letzten Fetzen rum, wenn mir nicht ein genialer Denker wie du einen entscheidenden Tipp gibt. Und so wahr mein Name Egrin ist, ein Riese wie du wird einen Platz auf der Welt haben, und wer sollte den finden, wenn nicht du?“
Diese Worte ermutigten Ogon ungemein, und automatisch begannen seine Füße sich wieder einen Schritt nach dem anderen, den Weg zu bahnen.
„Das ist der Ogon, den ich kenne!“, rief Egrin erfreut. Nun begannen die beiden Kumpanen, Lieder zu pfeifen und zu summen, und sie schlenderten den Weg entlang, bis sie auf einer Anhöhe einen riesigen Felsen erreichten, der locker doppelt bis dreifach so groß wie Ogon war.

„Das, Ogon, ist der Weidenbrocken. Der größte Stein jenseits von Harin. Es heißt, dass einst ein steinerner Troll über diesen Landstrich herrschte, und hier seinen prächtigsten Felsen ablegte, um sein Revier zu markieren. Von Oben aus kann man den ganzen Westlichen Weidenwald überblicken.“
Wie auf Kommando nahm Ogon den Schneider auf seine Schulter, und in wenigen Momenten war der Stein erklommen. „Verdammt, ging das schnell!“, rief der Kobold, der erschrocken seinen Hut auf seinem Kopf festhielt.

Auf der Spitze standen sie nun, um sich blickend, und von der Schönheit des Waldes, den sie nun überblicken konnten, überwältigt. Doch dann sah der Kobold etwas: Über den Baumkronen im Osten braute sich eine dunkle Wolke zusammen, die sich finster den Weg über den Wald bahnt. Donnergrollen war zu hören, und kleine Blitze waren zu vermerken. Der Wind wurde langsam stärker, und die Äste der Bäume unter ihnen fingen an, im Wind zu wehen. Blätter lösten sich aus dem grünen Dickicht, und flogen wild am Felsen vorbei.
„Dann hatte der Uhu also doch recht.“, sagte Egrin. „Was?“, fragte Ogon daraufhin unwissend. „Womit hatte er recht?“

Danach holte Egrin etwas weiter aus: „In letzter Zeit geschehen sonderbare Dinge im Wald. Nicht etwa dein Auftauchen hier, nein, schon seit längerer Zeit erzählen mir die Tiere aus dem Osten, dass sich dort unheimliche Dinge abspielen. Stürme sollen dort aufziehen, von erschreckender Größe, und dröhnendes Donnergrollen, welches den Tieren Angst macht. Vor ein paar Tagen sagte ein Uhu sogar zu mir, dass solch riesige Wolken den Himmel verdunkeln. Ich hielt diese Erzählungen meist für Spukgeschichten, denn es regnet oft zu dieser Jahreszeit im Wald. So etwas habe ich jedoch nur selten im Weidenwald gesehen.“
Der Wind wurde Stärker, er dröhnte in den Ohren der beiden Kumpanen, und vereinzelte Regentropfen waren zu bemerken.

„Was meinst du, worum handelt es sich bei diesem Sturm? Um eine Laune der Natur?“, fragte der Riese unwissend. „Oh nein, Ogon. Ich denke, es handelt sich um etwas weitaus schlimmeres. Ich habe die Vermutung, dass Hexerei dahinter steckt.“, antwortete Egrin, der noch immer finster das graue Wolkenbett betrachtete.
Als der Begriff „Hexerei“ fiel, musste Ogon sofort an die Dame denken, die sie aufzusuchen versuchten, weshalb er direkt fragte: „Hexerei? Ist diese Yra nicht eine Hexe? Könnte das nicht etwas mit ihr zu tun haben?“
Der Kobold grübelte, doch nach kurzer Zeit antwortete er Ogon: „Oh nein, Yra würde so etwas nicht tun. Sie ist eine gute Hexe. Das ist bestimmt bloß ein Tölpel der sich in Wettermagie versucht.“

Anschließend wurden die beiden Zeuge, wie ein riesiger Blitz in das grüne Meer aus Bäumen schlug, und ein Trommelfellbeanspruchendes Donnern darauf folgte. Der Wind nahm unaufhaltsam zu, und ein warmer Regen prasselte auf den Felsen. Die tückische Kombination aus Wind und Feuchte führten dazu, dass Egrin ruckartig ausrutschte, und fast von Stein flog, doch Ogon ergriff seine Hand. „Nichts wie runter hier!“, schrie der Kobold panisch, und aus dem stehgreif heraus nahm der Riese Egrin auf die Schulter, und er kletterte geschwind am Stein herunter. Der Regen wurde so Doll, dass sie kaum ihr eigenes Wort verstehen konnten, doch zwischen dem lauten plätschern einigten sich die beiden Gefährten, einen Unterschlupf aufzusuchen.
So rannten die beiden geschwind von Hügel herunter (Ehrlich gesagt wurden sie beinahe herunter gespült, so sehr nahm der Regen zu), und fanden ein Erdloch unter einer Wurzel eines riesigen Baumes. Egin war es möglich, sich gemütlich unter die Erde zu pflanzen, Ogon jedoch musste sich durch seine Größe zwanghaft zusammenfalten, damit er Rast fand. Der Regen dauerte bloß einige Minuten, und aus einem monströsen Monsun wurde ein leichter Nieselregen.

Der Himmel war noch immer verdunkelt, und es wirkte, als würden die düsteren Wolken brodeln. Nach einer Weile krochen sie aus dem Loch. Der Boden war weich, und man versank beinahe in der Erde. Zwischen den Blättern konnte man den grauen Himmel betrachten, und die Wolken zogen wie ein reißender Fluss vorbei. Als Ogon und Egrin wieder auf den Füßen waren, betrachteten sie das Wolkenbett mit Ehrfurcht. Auf einmal wurde das Brodeln lauter, und es entstand ein unangenehmes Beben. Wind zog auf, und zwar in gesteigerter Form, und auf einmal bildete sich ein Unheimlicher Wirbelwind um Ogon. Der Riese erschrak vollkommen, denn der Sturm war so stark, dass er von seinen Füßen gerissen wurde, und komplett in die Luft flog.

Er wirbelte koordinationslos durch die Lüfte, er wusste nicht, wo oben und unten waren, bloß ein angsterfülltes Schreien konnte er herauspressen. Schließlich wirkte es, als würde er in der Luft stehen bleiben, und an einer Stelle schweben. Plötzlich formte sich die Wolke über ihm zu einem undefinierbaren Gesicht. Einzig Mund und Augen waren erkennbar.
Wie aus dem nichts sagte das Wesen: „Ogon… Du! Wohin?!“, mit einem dramatisch aggressiven Unterton.

Ogon selbst, der nun nicht wusste, was er sagen sollte, schwieg für eine Weile, doch dann bemerkte er, wie Äste und Baumstämme um ihn herumwirbelten. Mit einer hastigen Bewegung griff er nach einem Stock, und warf ihn umgehend mitten in das Wolkengesicht. Ein Schrei war zu hören, dann löste sich das instabile Gesicht auf. Ogon fiel herunter, und landete zwischen Zweigen und Ästen. Es war eine weiche Landung für ihn, er hatte Glück. Zwischen den Stämmen fiel er auf den weichen, feuchten Boden. Aus den Büschen kam Egrin hysterisch angerannt. „Oh, Ogon! Was zum Henker war das denn?“, fragte er, als er sorgend das Gesicht des Riesen betrachtete. Ogon selbst, der anscheinend zu schwach, und vor allem zu verwirrt war, um zu antworten, lag einfach da, und versuchte, seine Augen aufzuhalten, doch es gelang ihm nicht. Egrin versuchte sorgsam den Kopf von Ogon zu halten, und griff eine Flasche Wasser aus seinem Rucksack. Nachdem der Riese einen ordentlichen Schluck getrunken hat, kam er wieder zu sich, und konnte seine Augen öffnen.
„Na los, Ogon, sag etwas!“, rief Egrin hilflos. „Irgendetwas!“

Ogon hustete. Schließlich öffnete er nach einem langen Keuchen seine Augen. „Es… Ist alles in bester Ordnung mit mir.“, versicherte er dem Kobold beruhigend, der sich über das Lebenszeichen des Riesen freute. „Nun richte dich erst mal auf. Was ist da oben geschehen? Das sah nicht nach einem normalen Unwetter aus.“, sagte Egrin. Mühsam stand Ogon auf. Er taumelte ein wenig, doch eine Eiche diente ihm als Stütze. Zu aller erst musste der Riese einen klaren Kopf bekommen, bevor er antworten konnte:

„Es…war das unheimlichste, was mir je widerfahren ist. Ich wurde von den Winden geradezu… hochgepeitscht. Es fühlte sich nicht an, als hätte der Sturm mich mitgerissen, nein, es schien, als würde irgendetwas an mir zerren, mich mitziehen. So wurde ich bis über die Baumkronen geschleudert, bis ich irgendwo in der Wolkenansammlung stehen blieb. Dann geschah jedoch das Unheimlichste: Die Wolken formten sich zu einem Gesicht. Es fragte mich, wohin ich gehe, denke ich. Anschließend ergriff ich einen umherfliegenden Ast, und warf ihn nach der komischen Fratze. Diese löste sich daraufhin auf, sie verpuffte geradezu, und mein Standpunkt in der Luft hielt mich nun nicht mehr, als würde mich eine monströse Hand loslassen. Nun, so bin ich hier gelandet.“

Die beiden Reisenden wagten einen Blick in den Himmel, und wie es aussah, verschwanden die dunklen Wolken komplett. Es wirkte geradezu, als lösten sie sich auf, und aus ihnen wurde der blaue Himmel. „Seltsame Dinge geschehen in meinem Wald.“, sagte Egrin. „Das kann ich nicht zulassen. Wir müssen schleunigst Yra erreichen, sie weiß sicher, was hier geschieht.“
„Aber Egrin…“, entgegnete ihm Ogon. „Es ist meine Schuld. Ich muss aus dem Wald heraus, dann bist du mich und dieses Unwetter los. Es wollte nur mich.“
„Nein, nein, nein! Du bist ein Gast meines Waldes, verstehst du? Ich bin verantwortlich für diesen grünen Fleck, also werde ich mich höchst persönlich um dieses Problem kümmern!“, sagte der Kobold daraufhin schnaufend.
Ogon, der nun wieder fest auf beiden Füßen stand, antwortete daraufhin: „Dann würde ich es begrüßen, wenn wir uns nun auf dem Weg zu der Dame machen.“, und Egrin ließ sich das nicht zweimal sagen.

Der Boden war noch feucht und klebrig von dem überraschenden Platzregen. Die Blätter, die sich am Wegrand befanden, waren vom Dreck auf dem Boden bespritzt worden, so doll prallten die Regentropfen auf. Die Sonne schien zwischen die Äste und Zweige, und malten ein wunderschönes Licht- Schattenbild auf den Boden. Die helle Sonne schien so stark, sodass die nasse Erde innerhalb von wenigen Stunden wieder komplett trocken war.
Der Tag ging dahin, und langsam nahm die Nacht ihren Anfang.
Ogon und Egrin, immer noch am Wandern, erreichten eine große Wiese, als die Sonne unmittelbar hinter den Bäumen verschwand, und der immer dunkel werdende Himmel das kleine Funkeln von Sternen zuließ.

An einer Stelle blieb Egrin, der voranging, stehen. Er nahm seinen Hut ab, und blickte auf einen Berg, auf dem ein dunkler Turm stand. Ogon stellte sich neben den Schneider, und folgte seinen Blicken zu dem Hügel.

„Das ist er, der Turm der Hexe.“, erzählte Egrin staunend. Wie eine riesige, düstere Kerze ragte der Turm in die Höhe. Aus Fenstern, die von dem Feld aus, auf dem die beiden Gefährten standen, nur als schmale Streifen zu erkennen waren, funkelte grelles Licht.
Nach einem Moment des Starrens machten Ogon und Egrin sich auf den Weg, sie wollten schließlich am selben Tag noch den Turm erreichen, und sie mussten noch das Waldstück bis zum Berg durchqueren.
Ab dort führte kein Weg mehr weiter, sie mussten sich ohne einen wegweisenden Pfad bis zur Hexe durchschlagen.

Die Luft in diesen wirren Wäldern war stickig und warm, vergleichbar mit Urwäldern sogar. An jeder Ecke und in jedem Loch hörte man die verschiedensten Kleintiere, wie sie ihre unterschiedlichen Geräusche von sich gaben. Überall flog etwas, überall Krabbelte es auf dem Boden und in den Baumrinden. Ogon und Egrin mussten mit Vorsicht durch das Areal streifen, denn der Boden ist ein wirres Gebilde aus Baumwurzeln und Steinen, die einen geradezu verlocken, über sie zu stolpern.

Es war für beide schwierig, durch diesen Hain zu wandern; Ogon hatte einen bestimmten Vorteil, da er ein Riese war, und die Wurzeln für ihn kein Problem waren. Seine Größe jedoch führte dazu, dass sein Kopf auf gleicher Höhe mit den Ästen der dichten Bäume war, und er, wenn er nicht aufpasste, gegen sie schlug. Egrin hingegen wies Vorteile durch seinen kleinen Körper auf: Er brauchte seine Konzentration nicht damit verschwenden, auf Äste und Zweige zu achten. Er war auch genug damit beschäftigt, über die Wurzeln und Steine zu hüpfen, die Ogon mit seinen großen Füßen gar niedertrampeln konnte.
Die Sonne verschwand bald gänzlich in den wirren Wäldern, sodass sie eine immer geringer werdende Lichtquelle darstellte. Sie hinterließ einen düsteren, undurchsichtigen Fleck Natur, der wirkte, als sei er ein riesiger Busch. Es wurde den Gefährten immer schwieriger, sich durch das Dickicht zu schlagen, da die Schwierigkeit sich durch das nicht vorhandene Licht ungefähr verdoppelt hat.

Endlich, nachdem sie sich angestrengt durch das Grün schlugen, erreichten sie etwas, was einer Lichtung ähnelte. Der Himmel war finster, wie eine schwarze Wand. Der Wald spiegelte diese Dunkelheit wieder, und Grashalme und Zweige wurden von den Sternen gräulich erhellt.
Egrin setzte sich auf einen umgeknickten Baumstamm, um seine geschwächten Beine zu schonen, als er zu Ogon, der sich an einen Baum lehnte, sagte: „Sicherlich sind wir bald da. Wir sind dicht am Hügel, wie es aussieht. Die Masse an Bäumen wird weniger.“
Jeder nahm eine Nuss und einen Schluck aus seiner Flasche, und sie schlossen für einen Moment ihre Augen. Kurz darauf, zu Egrins und Ogons Pech, werden die beiden von einem Hilfeschrei aus ihrer Entspannungsphase gerissen. Und wie aus dem Nichts knackte es einmal laut, und eine Rehartige Gestalt stolperte mitten in die Lichtung, vor die Füße von Egrin und Ogon.

Einen Augenblick lang starrte es überrascht die beiden an, doch dann bekam es einen Ton heraus: „Egrin, bist du es wirklich? Hier? Wie wundervoll dich zu sehen!“, zwischendurch hächelte es wild.
Egrin antwortete: „Hobb, was ist denn mit dir los? Du blutest ja!“
Daraufhin zitterte Hobb, blickte nach hinten, und fing an zu flüstern: „Seltsames geschieht, Egrin! Dunkle Mächte suchen den Wald auf! Tiere werden angegriffen, dunkle Gestalten werden gesichtet! Viele sind drauf und dran, den Wald zu verlassen. Sogar Elegar, der Hase, hat seinen Bau zurückgelassen, und plant, nach Vogelsbek umzuziehen!“

„Und wer hat dir diese Schmerzen zugefügt?“, fragte Egrin, der langsam wütend wurde.
„Es war eine Gestalt, die aussah, wie ein wandelnder Schatten, als bestünde sie aus Rauch. Ich begegnete ihr unten am Bach, als ich für Mutter Wasser holen wollte. Es schien, als suche sie nach etwas. Es murmelte auch die ganze Zeit etwas vor sich hin, ich konnte aber nichts verstehen. Als es mich dann erblickte kam es geschwind auf mich zu, und ich rannte, so schnell ich konnte. Es packte mich an meinem Hinteren Beinen, doch zum Glück gelang es mir, zu entkommen. Wer weiß, was das Ding mit mir angestellt hätte…“
„Das glaube ich ja wohl nicht, wer wagt es bitteschön, in meinem Wald Unruhe zu stiften?!“, rief Egrin tobend.

Fest umklammerte der Kobold seinen Wanderstock. Mit stampfenden Schritten ging er auf das Loch zu, aus dem Hobb gefallen ist, und ruft: „Ich werde das nicht zulassen! Ich werde diesen Unhold schnappen! Was denkt er eigentlich, in wessen Wald er sich befindet?“
„Nicht so schnell, Egrin! Du weißt doch gar nicht, womit wir es hier zu tun haben!“, warnte Ogon überrascht von der ruckartigen Aktion des Kobolds, und folgte ihm, um ihm entweder zu helfen, oder ihn aufzuhalten (Er konnte sich noch nicht recht entscheiden).
Egrin kletterte durch das Geäst, dicht gefolgt vom Riesen. „Ich bin der Wächter dieses Waldes, also ist es meine Aufgabe, für Ordnung zu sorgen!“, antwortete er dem Riesen, während er im Schnellschritt weiterging.

Es war ein Fehler Egrins, ein großer, während des Sprechens nach hinten zu sehen, denn kaum hatte er seinen Satz beendet, stellte sich ihm eine Wurzel in den Weg, und der kleine Schneider fiel einen Abhang hinunter. Er trudelte und drehte sich, doch schaffte es nicht, sich wieder auf die Beine zu stellen. Mit einem letzten Sturz fiel der Kobold mit dem Kopf voraus vor einen kleinen Fluss. Er konnte von Glück sagen, dass er sich nicht verletzt hat, jedoch ärgerte er sich fluchend, als er sah, dass sein Hut in das Wasser fiel. Er war bereit, aufzustehen, um sich seinen Hut zu holen, doch ein leises, anhaltendes Donnern, fast wie das Brodeln, während Ogons Ankunft im Wald, machte sich in den Koboldohren breit.
Er blieb liegen, als hätte dieses Geräusch ihn in eine Starre versetzt. Gespannt blickte Egrin in der Gegend herum, um den Auslöser dieses Geräusches ausfindig zu machen, doch von seiner Position aus war sein Blickfeld eingeschränkt. Dazu kam noch der Hut, der direkt vor seiner Nase lag. Eine kalte Brise kam auf, und der Hut trieb von Egrins Kopf weg, sodass der Schneider die gesamte Fläche überblicken konnte.

Direkt vor ihm baute sich nun das Zentrum dieses Lärms auf: Es handelte sich um einen aufrecht stehenden Schatten, dessen Silhouette unaufhörlich vibrierte. Sein Körper wirkte wie eine flache Scheibe, nur der mysteriöse Rauch, der an seinem Torso und seinen Gliedmaßen haftete, ließ ihn breiter und fülliger erscheinen. Der Rauch war ständig in Bewegung, wie ein reißender Fluss, der sich über der ganzen Gestalt erstreckte.
Plötzlich formte sich aus den Rauchwolken ein Mund, der sich über dem Kopf ausbreitete.
Es hörte sich an, als würden dutzende Stimmen auf einmal anfangen zu reden, doch wie aus dem nichts wurde es still, und eine einzige Stimme sagte: „Wo ist der Riese?!?“

Aus der Hecke kam Ogon gesprungen, der bereits in Sorge war, dass Egrin etwas zugestoßen war. Zuerst erblickte er den Kobold, und seine Sorgen schienen davon zu fliegen, doch dann sah er die dunkle Gestalt, und er erschrak.
Die finstere Stimme fixierte sich wieder, und sie sagte: „Da bist du!“
Dann kam der Schatten in einer unglaublichen Geschwindigkeit auf Ogon zugerast, und noch bevor er die schwarze Gestalt abwehren konnte, umklammerte sie den Riesen. Es schien, als wäre die Schwärze zu einer Art Flüssigkeit geworden, die sich an Ogon festsaugte.

Die Wolken, die an der Gestalt hafteten, schienen sich auch an dem Riesen zu fixieren.
Schreiend versuchte Ogon, das Wesen von sich zu reißen, doch es gelang ihm bloß, einige Fetzen des Wesen zu entreißen. Anschließend fing die schwarze Gestalt an, laut zu kreischen.
„Ogon! Ich helfe dir!“, rief Egrin in Panik, und eilte zu dem Riesen. Er versuchte voller Angst, mit seinem Wanderstock das Wesen zu bekämpfen.
Es war keine leichte Aufgabe für den Kobold, da Ogon sich wie wild bewegte, und er durch seine Größe nicht der perfekteste Kämpfer war, doch es gelang ihm ein glücklicher Treffer: Er traf mit seinem Stock das Wesen an einer Stelle, von der er das Wesen einfach weg reißen konnte.

Es flog im hohen Bogen in das Wasser, in dem es zappelte wie ein Fisch. Egrin riss und zerrte an seinem Stock, aber die dunkle Gestalt wollte sich nicht vom Stock lösen. Schließlich, nach einer hechtenden Bewegung nach oben, löste sich der Stab, aber nicht nur aus dem Wesen, sondern auch aus Egrins Händen, sodass der Wanderstock hoch über die Bäume wegflog.
Das Schattenwesen baute sich vor dem Kobold wie eine düstere Wand auf, und es blieb dem Schneider nichts anderes übrig, als rückwärts nach hinten zu gehen, und auf ein Wunder zu hoffen.
Dieses Wunder existierte, ja, und zwar in der Form eines Riesen, namens Ogon. Er kam nach vorn gestampft, mit einem Riesensprung über den Kobold, und rempelte das schwarze Viech um. Es schleuderte so hoch durch die Luft, sodass es gegen einen Baumstamm prallte, der sich gegenüber vom Wasser befand.
Es schien, als sei die Gestalt beim Aufprall zerschellt, denn überall um den Baum herum lagen rauchende, schwarze Haufen herum. Diese sammelten sich jedoch wieder, und formten wieder den alten, dunklen Körper. Dieser schien nun noch aggressiver, denn nun riss sie das Maul noch weiter auf, und kreischte noch lauter.

Diesmal bildeten sich um den Geist schwarze Wirbelstürme, die sich in Kreisen um ihn bewegten. Nacheinander schoss er sie per Handbewegung auf die erschrockenen Gefährten. Diese versuchten nun, so gut wie möglich auszuweichen, sie sprangen, duckten sich, und wichen zu den Seiten aus, doch nacheinander wurden sie getroffen, und sie stürzten zu Boden.
Humpelnd blieben sie kurzzeitig liegen, doch dann mussten sie sich hinter einem umgekippten Baumstamm verstecken, um zu überlegen, wie sie gegen das Wesen vorgehen müssen. Der Geist beschoss sie weiter, sie mussten schnell handeln.
Wie aus dem nichts kam dem Riesen eine Idee, und er erklärte sie dem Schneider.

„Bist du sicher, Ogon? Ist das nicht zu gewagt? Ich meine, wir geraten exakt in die Schussbahn dieser abscheulichen Kreatur…“, antwortete Egrin unsicher.
„Vertrau mir, Egrin“, sagte Ogon, während ein weiterer Wirbelsturm das Gehölz traf.
Sie warteten kurz, dann zählte Ogon runter, und schließlich sprangen beide über den Stamm und rannten aus verschiedenen Richtungen auf das dunkle Wesen zu.
Zuerst schien der Geist überrascht, doch er handelte umgehend; Er breitete beide Arme aus, und schoss in beide Richtungen mit seinen tödlichen Winden. Knapp konnten beide ausweichen, doch die Natur überstand die Angriffe nicht. Wieder einmal mussten die Bäume und Büsche an den Attacken leiden.

Ogon und Egrin rannten unaufhörlich weiter, bis sie schließlich beide direkt bei der Gestalt standen. Er schoss wieder mit seinen Stürmen, aber diesmal hechteten die beiden hinter die Gestalt. Der Geist, der dort nun stand, übersah, was er diesmal mit seinen Angriffen traf:
Er schoss direkt auf zwei dicke Eichen, die nun über ihm zusammensackten, und ihn begruben. Schnell nahm Ogon weitere Trümmerteile des Waldes, die dem Geist zum Opfer fielen, Stämme, Wurzeln, Steine und sonstiges, und schmiss es auf die Bäume, die auf der Gestalt lagen.

Voller Panik entfernten sie sich nun einige Schritte von dem Haufen, unter dem nun der Geist lag. Sie atmeten laut, hatten weit aufgerissene Augen, und waren mucksmäuschenstill.
Sie warteten, ob sich etwas unter dem Haufen regte. Sie warteten eine gefühlte Minute, und es tat sich nichts.
Plötzlich fingen beide an zu jubeln, zu lachen, und feierten ihren Sieg. Sie lagen sich in den Armen, und pöbelten den Holzstapel an, unter dem der Geist nun begraben lag.
„Das hat man davon, wenn man sich mit dem Wächter des Weidenwaldes anlegt!“, pöbelte Egrin lautstark. „Na ja, mit ihm… Und seinem Helfer!“
Egrin rannte los, nahm sich einen herumliegenden Stock, und schlug auf den Haufen, während er sagte: „Was dachtest du, wen du hier vor dir hast, hm? Ein paar hohle Oger, zwei herumstreunende Taugenichtse? Nein, du hast gescheitert, und das nicht vor irgendwem, sondern vor Egrin, dem besten Schneider weit und breit, und seinem Kumpanen, dem zu groß geratenen Hünen, Ogon!“, und als er diesen Satz beendete, schlug er so sehr auf das Geäst, dass der Stock zerbrach. Dann fing der Haufen an, zu vibrieren, so ähnlich, wie die schwarze Aura vibrierte, als sie vor Egrin stand.
Aus dem Brodeln wurde ein massives Wackeln. Der ganze Haufen rüttelte nun so sehr, dass einige kleine Zweige wegflogen.
„Das… War ich nicht, oder?“, fragte der Kobold, der plötzlich eingeschüchtert da stand.
„Nein, das warst du sicher nicht… Und das ist kein gutes Zeichen!“, rief Ogon daraufhin.

Nun drohte ein gewaltiger Ast auf den Kobold zu stürzen, und Ogon rannte zu ihm, um ihn zu schützen. „Egrin, pass auf!“, schrie er, als er ihn ergriff, und ihn zur Seite warf.
Danach explodierte die gesamte Ansammlung an Hölzern, und zu sehen war ein immer noch vor Wut tobender, dunkler Geist.
„Och, nein…“, flüsterte Egrin, und ließ seine Schultern hängen. „Wir sind so gut wie Tot.“
Es blieb ihnen nichts anderes Übrig, als sich auf eine erneute Kampfhandlung vorzubereiten, also ballten Ogon und Egrin ihre Fäuste, und sahen der Kreatur in ihre nicht vorhandenen Augen. Sie waren kurz davor, loszurennen, um ihr letztes zu geben, doch urplötzlich fingen die Bäume um den Geist herum an, grell weiß zu glitzern, sodass nur noch die schwarzen Silhouetten der Bäume und der Kreatur zu sehen waren.

Der Geist schrie auf und krümmte sich vor Schmerzen, doch auch Ogon und Egrin waren ein so helles Licht zu so später Stunde nicht gewöhnt, weshalb sie ihre Augen zukneifen mussten.
„Verschwinde aus unserer Welt, elender Tárax!“, rief eine wunderschöne Stimme energisch.
„Sollen deine Flüche auf ewig im Intermend ruhen!“
Zwischen den Pflanzen kam eine große, dünne Gestalt hervor. Sie trug ein schwarzes Kleid, dass aussah, als wäre es aus schwarzen Spinnenweben gemacht. Ihre Haut war blass, sah schon fast tot aus, doch ihre Gesten waren mehr als lebendig. Die Haare der Gestalt waren glatt und grau, und in ihren Augen schimmerte es rot.
„Hahah!“, lachte Egrin (wieder einmal) siegessicher. „Das ist sie, Yra, die Hexe!“
Der dunkle Geist versuchte mit letzten Kräften, Yra zu bekämpfen, doch jeder Angriff wurde von der Hexe durch ihren Zauberstab mit Leichtigkeit abgewehrt.
Die Hexe sagte einen Zauberspruch auf, du in wenigen Sekunden schrumpfte die Gestalt zu einer glänzenden, kleinen Kugel zusammen, während Egrin Siegessicher die Aktion der Hexe betrachtete.

Benutzeravatar
El Granto
standhafter Schreiberling
standhafter Schreiberling
Beiträge: 32
Registriert: Sa 18. Jan 2014, 11:45

Re: [EX16]Die Legende von Ogon (High Fantasy/ Sword and Sorc

Beitrag von El Granto »

-4-

Zu Gast bei einer Hexe

Yra nahm den Geist, der nun zu einer Kugel geformt wurde, und steckte ihn in eine Tasche, die sie sich umgehängt hatte.
„Yra, wie wundervoll, dich zu sehen.“, sagte Egrin. „Ich und mein Gefährte, wir waren bereits auf der Suche nach dir.“
„Egrin, dich hier anzutreffen ist seltsam… Und auch noch zu dieser späten Stunde. Was liegt dir denn auf dem Herzen? Und viel wichtiger, wer ist denn dein großer Freund?“, antwortete die Hexe überrascht.
„Den großen Burschen, den du hier vor dir siehst, das ist Ogon, ein Riese.“, erzählte Egrin, während er auf Ogon zeigte. Interessiert schlenderte die Hexe leichtfüßig nach vorn, um Ogon genauer zu betrachten. „Ein Riese… Wahnsinn. Riesen sind seltene Exemplare geworden.“, flüsterte sie zu sich selbst. Ogon erschrak leicht, als er hörte, dass Riesen selten seien.
Yra schlich weiter um den Riesen herum, dieser wusste jedoch nicht, wie er auf das Beobachten der Hexe reagieren sollte.

„Was… Was meint ihr mit selten?“, fragte er anschließend unwissend. Yra blieb stehen. „Mit selten meine ich, dass ich seit dreißig Jahren keinen einzigen mehr gesehen habe. Weder hier im Wald, noch in den Gebieten drum herum. Wie bist du überhaupt hier hergekommen?“, antwortete sie. „Das kann ich mir selbst nicht erklären. Ich war an einer dieser… Tore, die Damals benutzt wurden, um zu verreisen. Von dort tauchte ich auf, ohne Erinnerung an irgendetwas, was vorher geschah.“, gestand er ihr.
Die Hexe blickte ruckartig auf. Sie schaute Egrin an. „Ihr wart dort? Diese Orte sind gefährlich. Selbst Leute, die in Magie geschulter sind, als ich, können die Gefahr dieser Stätte nicht erfassen.“, antwortete Yra. „Was hätte Ogon tun sollen? Er weiß ja nicht mal, wie er an diesen Ort gelangt ist!“, warf der Kobold ein. „Nun, woher willst du das wissen? Kanntest du ihn bereits, bevor er auftauchte? Du weißt doch gar nichts über ihn… Wer weiß, vielleicht kommt er ja aus einem Tor aus den Gefilden im Norden?“, fragte die Hexe.
„Im Norden? Was ist dort?“, fragte Ogon.

„Was im Norden ist? Dort lauert nichts als der Tod. Ranghuls, düstere, verfluchte Untote, nennen diesen Ort ihre Heimat. Von dort aus starteten sie die Invasion auf Gromburg, falls dir das etwas sagt.“, erzählte Yra. „Doch das ist noch nicht alles. Dort haust außerdem der Hexer Horx, der die tote Brut der Ranghuls vor vielen Jahren wiederbelebt hat.“, antwortete Yra. „Vielleicht… Komme ich ja von da.“, flüsterte Ogon. Er wagte es jedoch nicht, seine weiteren Gedankengänge laut auszusprechen: Was, wenn er nun wirklich von dort kam, und ihm der Name „Gromburg“ nur deswegen so bekannt vorkam, weil er an der besagten Invasion beteiligt war?

Die Hexe ahnte etwas. Das konnte Ogon spüren. Und das machte ihm Angst. Mit nachdenklicher Miene drehte Ogon sich zu der Hexe. „Wo auf der Welt gibt es noch solche Tore?“, fragte er angespannt. Yra dachte nach, und sah in den dunklen Nachthimmel.
„Es gibt eines in den Buckelländern, zwischen Truchau und dem Valinmeer. Dieses wurde aber vor Jahrzehnten von den Menschen vergraben, aus Angst, dass etwas Böses diesem Tor entsteigt. Ein weiteres ist in den Minenschächten in den Blassbergen. Das Tor aufzusuchen ist wahrlich unmöglich, da sich das Höhlennetz wie ein riesiges Labyrinth unter dem Berg ausbreitet. Ach ja, dann gibt es noch das Tor in den Downwitch-Wäldern. Ich glaube aber kaum, dass du von dort kommst. Dieses Tor wird rund um die Uhr von Wächtern der Downwitch-Akademie bewacht. Wenn du dort aus dem Teich gestiegen wärst, würdest du nun bestimmt in einem Kerker versauern.“, erklärte sie.

„Nun, ich kenne wahrhaftig nicht alle Tore, die es gibt. Mit Sicherheit gibt es noch mehrere, unerforschtere…“, fügte sie hinzu, als sie sah, wie Ogon angespannter wurde.
„Ich kann mir Dutzende solcher Tore vorstellen, durch die unser werter Ogon gekraxelt gekommen sein kann…“, warf Egrin aufmunternd ein. „Denn ich kann mir wahrhaftig nicht vorstellen, dass mein Freund, der Riese, aus solch düsteren Gefilden, wie dem Toten Norden kommt.“
Ogon schien all diese Worte zu ignorieren, und biss sich an dem Gedanken fest, dass er höchst wahrscheinlich von dem Ort kam, den die Hexe als den toten Norden umschrieb.
„Nun, folgt mir in meinen Turm, wenn ich euch bitten darf.“, sagte die Hexe, und versuchte vom Thema abzuweichen. „Fabrice hat bestimmt schon Tee zubereitet, und wir wollen ja sicher nicht, dass er kalt wird. Eventuell gibt es noch Gebäck für uns.“

Sie verließen die Lichtung, in der der Kampf stattgefunden hat, und fanden zwischen ein paar Ästen versteckt einen dünnen Pfad aus Stein, der in schlängelnden Bewegungen den Berg hoch bis zu dem Turm der Hexe führte. Außerdem begegneten sie Hobb, der sich ängstlich in einem Baumloch versteckte, als er den Kampf hörte. Behutsam nahm Yra das zitternde Tier in die Hände, und lud es ebenfalls zu sich in den Turm ein. Der Pfad lag höher als der Waldboden, als hätte man den Weg wie eine Mauer erhöht. Um den Pfad herum wurden faustgroße Steine verteilt, die hell glänzten, und so die gesamte Strecke bis zu der Haustür des Turmes beleuchteten.
Der Wald wurde zunehmend dünner, und der Weg steiler, umso näher sie dem Hexenturm kamen. Als sie den Pfad am Anfang betraten, war der Kopf des Riesen noch unterhalb der Baumkronen, doch nun, als sie den Hügel fast erklommen, ragte selbst Egrins Kopf über die letzten feinen Zweige des Waldes. Es ging nun steil Bergauf, und der Pfad bestand nun sogar aus Treppenstufen, da sie sonst herunterrutschen würden. Sie waren auch nicht mehr von Bäumen umgeben.

Um sie herum waren schroffe Felsen, die aus dem steilen Grasboden ragten. Schon bald war auch kein Gras mehr zu sehen, sondern bloß noch graues, kantiges Gestein, welches starr und regungslos dastand. Es standen viele Steinvorsprünge über dem nun klippenartigen, steilen Berg, und es sah aus der Perspektive des Riesen und des Kobolds beinahe so aus, als würden sich einige Felsen lösen, und auf sie herunterstürzen, doch der Schein täuschte. Sie waren nun bloß an einer Stelle des Berges angekommen, die so steil war, wie eine Wand, und an der es wie ein Wunder schien, dass die Stufen sie noch halten konnten.
Egrin kam oft ins Schwindeln und ins Taumeln, und wäre einmal sogar fast ausgerutscht, doch Ogon war direkt hinter ihm, und so fühlte der Schneider sich viel sicherer. Aber Ogon hatte es nicht leichter, denn wegen seinen großen Füßen musste er bei jedem Schritt zwei Stufen beanspruchen.

Der Himmel war komplett finster geworden, einzig der Mond, die Sterne und der leuchtende Zauberstab der Hexe waren erkennbare Lichtquellen. Sie kamen dem Turm näher, die
Silhouette des Gebäudes und Fenster, aus denen funkelndes Licht flimmerte, waren bereits zu sehen. Nun wurde der Weg wieder ein waagerechter Pfad, und Fackeln wiesen den Weg. Finster, doch irgendwie einfühlsam Baute sich das Gesamte Bauwerk vor ihren Augen auf. Das Gestein, aus dem der Turm bestand, wirkte wie auf Hochglanz poliert, und schimmerte Silbern. An einigen Kanten standen furchteinflößende Wasserspeier hervor, deren Augen unheimlich leuchteten.

Es donnerte dreimal laut, als Yra mit ihrem Stab gegen die Tür schlug, und anschließend öffnete eine Gestalt, ungefähr von der Größe Egrins, mit steinerner Haut, die hohe Holztür.
„Du bist spät.“, gab diese mürrisch von sich. „Ich sehe, du hast Gäste mitgenommen. Na toll. Hätte ich das eher gewusst, hätte ich den Tisch gedeckt.“
„Fabrice.“, sagte die Hexe. „So reizend wie immer. Bitte sei so nett und empfange unsere Gäste in Zukunft mit etwas mehr Höflichkeit.“
Die Miene der Gestalt aus Stein änderte sich jedoch, als sie den Kobold erblickte. „Egrin, alter Freund! Endlich sieht man sich wieder! Was führt dich denn hier her?“
Lachend antwortete Egrin: „Ja, ich weiß, es ist eine Weile her. Wir sollten wieder den alten Heregar besuchen, in seinem Vogelnest, und wieder mit ihm Karten spielen, so wie in alten Zeiten. Aber mein eigentlicher Grund für mein Auftauchen hat weder etwas mit unserer alten Freundschaft zu tun, noch irgendetwas mit mir selbst; Ein Riese bat mich um Hilfe, und ich sah es als meine Aufgabe, ihm zu helfen.“

Plötzlich sah Fabrice den Riesen, und er schien wieder verschlossener zu werden. „Wen hast du da denn aufgeschnappt? Solch große Burschen hab ich ja ‘ne Ewigkeit nicht mehr gesehen.“
„Oh, ja, darf ich euch einander vorstellen? Das ist Ogon, der Riese. Er ist mitten im Wald aufgetaucht, ohne Erinnerung an irgendetwas. Also frag ihn besser nichts persönliches, er weiß nämlich so gut wie nichts über sich. Und das, Ogon, ist mein alter Freund Fabrice, der Steingnom, der persönliche Diener der Hexe.“
Doch auch nach dieser Vorstellung änderte sich die Einstellung des Steingnoms nicht. Egrin bemerkte die Anspannung von Fabrice, und versuchte umgehend das Thema zu ändern: „Wie wäre es, wenn wir uns alle gemeinsam an den Tisch setzen. Gibt es Tee, Kaffee, oder sonstige Getränke? Spirituosen? Wein? Oder ein Bier könnte ich jetzt bestens vertragen.“

Gesagt, getan. Fabrice verschwand in die Küche, bereitete Besteck und Speisen vor, so klang es zumindest. Denn die ganze Zeit hörte man Gabeln und Löffel klimpern, oder Teller, die frisch aufgefüllt wurden. Yra war so freundlich, und kümmerte sich zuerst um Hobb, denn sie stellte fest, dass das Tier sich einen Knöchel verstaucht hatte. Außerdem blutete Hobb an den Beinen, und diese Stellen mussten auch behandelt werden. Also bekam er Verbände und Pflaster verpasst, und einen Extragroßen Teller mit Salatblättern und Schnittlauchstückchen, fein geraspelt. Egrin bat um ein saftiges Stück Fleisch, am besten Schweinenacken, fein gewürzt und ein wenig gesalzen, so wie er es mochte, und dazu eine deftige Kräutersauce. Ogon wollte nur einen Krug Wasser, er meinte, er wäre momentan nicht hungrig genug. Egrin schaute den Teller von Hobb an. „Pah, von so ein paar Grasfusseln wird man doch nicht satt.“, kommentierte der Kobold. „Ich brauche etwas richtig festes, deftiges, um meinen Magen zu füllen.

„Nein, ich bin Vegetarier.“, sagte Hobb mit schwächlicher Stimme. „Ich verzichte gern auf Fleisch. Und das aus einem ganz bestimmten Grund: Einige meiner besten Freunde sind Tiere, und ich könnte es niemals übers Herz bringen, sie zu… Verspeisen.“
„Hehe“, lachte Egrin. „Nur weil ich Tiere kenne, heißt es nicht, dass sie nicht gut schmecken“, und nahm anschließend einen großen Bissen von seinem saftigen Schweinenacken. Die Hexe aß ebenfalls nichts, sie saß da, betrachtete Fabrice und ihre Gäste, und schaute manchmal verlegen in der Gegend herum. Es wirkte eigenartig, als war sie geistig abwesend. Ogon fiel dies sofort auf, ging aber nicht darauf ein.

Egrin tupfte sich die Mundwinkel mit einer Serviette ab, als er mit dem Teller fertig war, und gab einen Rülpser von sich. „Das hat vorzüglich geschmeckt.“, betonte Egrin. „Wirklich vorzüglich. Ihr könnt froh sein, Frau Yra, so einen talentierten Helfer an eurer Seite zu haben.“
Fabrice räumte den Tisch ab. Er stapelte alle Teller aufeinander, und hielt sie gekonnt zwischen Zeigefinger und Daumen, und tippelte in die Küche.
Yra legte die Kugel, die einst das Monster war, in Stoffe gepackt auf den Tisch. Sie wickelte die Decken ab, und zu sehen war eine schimmernde, schwarze Kugel. Sie wirkte hohl, und in ihr wehten graue Wolken im Kreise. Im Zentrum dieser Kugel war ein winzig kleiner Funken, der immer wieder aufleuchtete, und die Wolken zum flackern brachte. „Was ist das für ein… Ding?“, fragte Egrin. „Das ist ein Tárax. Eine der billigsten Versionen von Wesen, die von Zauberern beschworen werden, um in den Krieg zu ziehen. Sie werden oft von Lehrlingen benutzt, die noch nicht dazu in der Lage sind, eigenständige Kreaturen zu erzeugen. Zu finden sind sie in allen beliebigen Zauberläden. Es sind zwei Kugeln, aus denen sie bestehen. Eine Kugel braucht man, um den Tárax zu kontrollieren, die andere verwandelt sich in das vorgesehene Wesen.“, erzählte Yra. „Also, dann muss es irgendwo noch die andere Kugel geben. Können wir sie irgendwie durch diese Kugel ausfindig machen?“, fragte Ogon anschließend. „Nein.“, sagte Yra, während sie die Táraxkugel vom Tisch rollte, damit sie in eine Tasche plumpste. „Das ist so gut wie unmöglich. Außerdem wird es Zeitverschwendung sein, die andere Kugel zu suchen. Man kann diese Táraxe von überall aus beschwören. Die andere Kugel könnte also am anderen Ende der Welt sein.“

„Wieso sollte jemand vom anderen Ende der Welt auf mich losgehen? Ich meine, es hat meinen Namen gesagt.“, erwiderte Ogon. „Ach, ich dachte, du weißt gar nichts über deine Vergangenheit. Woher willst du wissen, woher du kommst?“, fragte die Hexe.
Es wurde still. Man hörte nur noch Fabrice, der das Geschirr abwusch. „Ihr habt recht.“, flüsterte Ogon. „Ich weiß es ja wirklich nicht.“
Egrin war darin versucht, das Thema zu wechseln. „Dieser Térix ist aber nicht das einzige Problem unserer Reise gewesen. Zuvor begegnete uns ein Unwetter, das zu leben schien.“, sagte er. „Es begann heftig zu regnen, es donnerte und blitzte. Gut, das ist nichts Besonderes in dem Wald, zu dieser Jahreszeit regnet es des Öfteren. Aber dann bildete sich aus dem Sturm ein Gesicht, dass Ogon in den Himmel sog. Es sprach zu ihm, ähnlich wie der Tárex, oder wie das Viech heißt.“

Die Hexe überlegte. „Ich weiß. Solche Gestalten, solch finstere Mächte, breiten sich über dem Land aus. Ich weiß nicht, von wem oder was sie ausgehen, sie sind aber spürbar.“, sagte sie nachdenklich. „Was…was können wir dagegen unternehmen?“, fragte Egrin nervös. Yra drehte sich zu dem Kobold, und sah auf ihn herunter. „Es tut mir leid… Aber ich weiß es nicht. Ich bin dagegen zu machtlos. Ich habe solche Mächte in solchen Ausmaßen noch nie erlebt. Hexer und Zauberer aus dem ganzen Land, sie haben sich darüber beraten, und sie sind zu dem Entschluss gekommen, dass es sich bei dem Angreifer um niemand geringeren handelt, als Horx, dem finsteren Hexer aus dem Norden.“
Egrin sah die Hexe an. „Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als in den Norden zu ziehen, mit allen Mächten, um diesem Horx in den Ar…“

Die Hexe unterbrach den Kobold mit ihrem Lachen. „Du denkst, wir können einfach mal Fartaris verlassen, einen Ausflug in die toten Länder unternehmen, um einen derart gewaltigen Zauberer zu besiegen? Bestimmt sitzt er schon in seinen Ruinen, und wartet bereits auf so eine undurchdachte Situation. Und überleg‘ mal, mit welcher Armee willst du in diese Länder streifen? Mit ein paar Kaninchen und Eichhörnchen, und Vögeln, die ihm mit ihren Schnäbeln in die Augen stechen? Oder willst du den Hochadel in Gromburg um Hilfe bitten? Die haben dem Wald schon lange den Rücken zugekehrt!“
„Wir müssen irgendetwas tun!“, schrie Egrin die Hexe an, während er auf den Tisch schlug. „Es ist mein Wald! Es ist meine Aufgabe ihn zu beschützen! Und ich werde niemals zulassen, dass irgendein dahergelaufener Zauberlehrling es wagt, ihn und seine Einwohner zu bedrohen!“

Ogon stand auf, und versuchte, den Kobold zu beruhigen. „Ich weiß, wie wir die dunklen Mächte aus dem Wald vertreiben.“, sagte der Riese. „Ich verschwinde aus dem Wald. Die dunklen Mächte sind nur hinter mir her. Wenn ihr mich los seid, seid ihr in Sicherheit.“
Ogon wendete sich der Hexe zu. „Egrin erzählte mir, ihr seid im Besitz von Reisespiegeln. Wäre es möglich, mit solchen auch Gromburg aufzusuchen?“, fragte er Yra. Sie dachte nach. „Es kommt immer darauf an, wo sich die Reisespiegel auf der anderen Seite befinden, denn du kannst nur dorthin, wo auch andere Reisespiegel sind. Ich müsste in mein Labor gehen, um herauszufinden, wo es überall diese Spiegel gibt.“

Für den Rest der Nacht verschwand Yra in ihr Labor. Fabrice richtete Zimmer für Ogon, Hobb und Egrin ein, und stellte ihnen Betten und Schlafkleidung zur Verfügung. Noch eine Weile lang blieben Egrin und Hobb in Ogons Gemach, und sie redeten bei Kerzenlicht.
„Es tut mir leid für euch beide, wenn ich vorhin etwas ausfällig und laut geworden bin.“, flüsterte Egrin. „Ich sehe mich nur gezwungen, als Wächter des Waldes, für Recht und Ordnung in meinem Territorium zu sorgen.“

„Bald seid ihr mich ja los.“, antwortete Ogon. „Dann habt ihr wieder Ruhe.“
„Und was wirst du tun, wenn du in Gromburg angekommen bist?“, fragte Hobb. „Ich weiß es ehrlich gesagt noch nicht. Ich hoffe auf ein Wunder. Ich hoffe, dass ich mich an irgendetwas erinnere, oder ich jemanden treffe, den ich kenne.“
Sie schwiegen, und sahen auf das flimmernde Licht der Kerze. „Ich hätte es am Anfang unserer Reise wahrscheinlich nicht gedacht, aber ich werde dich vermissen, wenn du weg bist.“, erzählte Egrin, während seine Augen im Licht funkelten. Man sah, wie Tränen sich unterhalb seiner Pupillen bildeten. „Egrin, du… Du weinst ja.“, bemerkte Ogon. Prompt wich der Kobold ab. „Nein, das… Das… Ich bin nur Lichtempfindlich!“
Hobb wurde müde, und er ging auf sein Zimmer. Egrin und Ogon schlugen noch eine Weile lang die Zeit tot. Sie plauderten über die Welt, das Leben und den Tod, und fanden erst Schlaf, als das Morgenrot über den Hügeln des Waldes sichtbar wurde.

Umso müder waren sie dann allerdings, als Fabrice auf die Zimmer stürmte, die Gardinen öffnete und bekannt gab, dass der Frühstückstisch gedeckt war. Es gab Brötchen, dutzende, von Vollkorn bis Milchgebäck, über Croissants bis hin zu Knäckebrot, und dazu den feinsten Aufstrich, den man sich vorstellen konnte. Es wurde gespeist, bis die Bäuche voll waren, wenn nicht sogar noch weiter, denn nach diesem Gang gab es Pfannkuchen und Waffeln, überdeckt mit Puderzucker, und serviert mit fruchtiger Marmelade. Nur Egrin und Yra verspäteten sich immens. Die Hexe war noch in ihrem Labor beschäftigt. Sie kam, als die meisten Brötchen schon gegessen waren, doch sie verspürte auch heute kaum Hunger, anders als Ogon, der mächtig zulangte. Ogon erkundigte sich nach Egrins verbleib, Yra meinte jedoch nur, er benutzte gerade die sanitären Anlagen… Sie wollte nicht ins Detail gehen.
„Ich habe über Nacht nachgesehen, welche Reisespiegel ich ausfindig machen konnte, leider gibt es keinen in Gromburg. Der, der am Nächsten an der Hauptstadt ist, ist der am Luftflughafen in Aahon, südlich von Gromburg.“, gab Yra bekannt, während sie auf einer Karte auf den Punkt mit der Überschrift „Aahon“ zeigte.

„Wie komme ich von dort nach Gromburg?“, fragte Ogon. „Da dieser Spiegel an einem Luftflughafen ist, könntest du eines der Luftschiffe nehmen, um nach Gromburg zu reisen. Wir können dir genug Groschen mitgeben, damit du einen Flug buchen kannst.“
Mit diesen Worten verließ Ogon den Saal, um seine (wenigen) Sachen zu packen. Er ging zurück in die Eingangshalle, und verabschiedete sich von Hobb, der nun aufbrechen wollte. Dann folgte er Yra in den Spiegelsaal. Die Hexe öffnete die, selbst für Ogons Verhältnisse, riesigen Holztüren, und zu sehen war ein Kreisrunder Raum, in dessen Mitte eine Holzbrücke war. Überall in diesem Saal hingen Spiegel aller Größen, Formen und Farben, an der Wand, oder an Seilen mitten im Raum. Sie betraten die Brücke, und mit ihrem Zauberstab holte Yra sich einen Spiegel ans Ende der Brücke. „Dieser ist es. Wenn du durch ihn schreitest, befindest du dich in einer Zwischenwelt. Versuche so schnell wie möglich in den anderen Spiegel zu gehen.“
Ogon ließ ihre Ratschläge unbeachtet. „Wo ist Egrin?“, fragte er. „Ich glaube nicht, dass er so lange auf der Toilette zubringt.“
Yra sah nachdenklich in Ogons Augen. „Es tut mir leid, dies dir sagen zu müssen, aber er ist heute Morgen aufgebrochen, nachdem er sich fertig gemacht hat. Er brachte es nicht übers Herz, sich von dir zu verabschieden. Er mochte dich wirklich sehr.“
Ogon hörte ihre Worte, wollte ihnen aber nicht glauben. „Nein… Das würde er nicht tun. Das glaube ich nicht.“, sagte er entgeistert. „Nun, willst du meinen Turm durchsuchen? Ich sag dir von vorn herein, dass du ihn in meinem Haus nicht finden wirst.“, antwortete die Hexe einfühlsam.

Traurig, aber immer noch zweifelnd, sah Ogon sich gezwungen, in den Spiegel zu steigen.
„Will sich nicht einmal Fabrice von mir verabschieden?“, fragte der Riese.
„Tut mir leid, aber der ist im Garten beschäftigt. Du weißt doch bestimmt schon, wie zielstrebig er ist, wenn es um Haus- und Gartenarbeit geht.“
Mit einem mulmigen Gefühl verabschiedete sich Ogon von der Hexe, und er verließ den Turm durch das Portal. Es fühlte sich eigenartig an, dachte der Riese, als er mit der Oberfläche des Spiegels in Berührung kam. Erst war es wie ein Kribbeln, dass sich auf der ganzen Haut verteilte. Es war dunkel, doch umso weiter er in den Spiegel stieg, umso heller wurde es um ihn herum.
Es war kein Sonnenlicht. Es war blasses, schon fast graues Licht, es funkelte weder, noch fühlte es sich warm an. Es war matt und hässlich. Nun war er gänzlich in der Zwischenwelt, und er erkannte nun einen Boden, auf dem er Fuß fassen konnte. Der Boden war feucht und steinig. Sonst sah er nichts als Nebel, der in dem matten Licht leuchtete. Schleichend ging er voran, auf der Suche nach dem Spiegel, durch den er nach Aahon gelangte. Plötzlich baute sich vor ihm ein Hügel auf. Er war feucht, und spiegelte das graue Licht wieder. Auf ihm war ein leuchtendes, lebensgroßes Viereck. Es leuchtete, schöner, lebendiger und wärmer. Dies war der andere Spiegel, durch den er gehen musste. Plötzlich nahm der Riese ein Geräusch wahr, kurz bevor er durch das Portal schreiten konnte.
Es klang wie Egrins Stimme. Sie war lang gezogen, also musste der Riese sich konzentrieren, um zu verstehen, was die Stimme sagte.
Es war nichts anderes herauszuhören als „Ogon“.
„Egrin!“, antwortete Ogon, doch diesmal bekam er keine Antwort. „Egrin!“, wiederholte er, und verließ den Pfad zum Spiegel. Er sah sich um, in der Hoffnung, den Kobold zu finden. Die Stimme kam aber aus keiner Richtung, sie kam von überall, weswegen der Riese Egrin nicht ausfindig machen konnte. Ogon war immer noch am Suchen, und rannte wahllos durch den Nebel.

Der Boden fing an, zu beben, und er bekam Risse. Der Nebel vibrierte förmlich, und ein dröhnendes Geräusch ertönte. Der Riese dachte über die Worte der Hexe nach: „Versuche so schnell wie möglich in den anderen Spiegel zu gehen.“, also rannte Ogon, in der Hoffnung, sich nicht im Nebel verlaufen zu haben. Teile des Bodens zerbrachen gänzlich, und fielen in ein scheinbar unendliches Loch. Ogon sprang über die Löcher, und zum Glück, das stand er vor ihm, der Hügel. Mit einem Hechtsprung war er oben. Nun war es soweit. Er ging mit großen Schritten durch den Spiegel. Somit ließ er den Weidenwald hinter sich, und brach in eine neue Welt auf. Es kribbelte, es wurde hell, jedoch war es eine warme Helligkeit.

Benutzeravatar
El Granto
standhafter Schreiberling
standhafter Schreiberling
Beiträge: 32
Registriert: Sa 18. Jan 2014, 11:45

Re: [EX16]Die Legende von Ogon (High Fantasy/ Sword and Sorc

Beitrag von El Granto »

-5-

Die Vorsitzenden

Fartaris war nur eines von mehreren Ländern, die den Großstaat „Throndamm“ bildeten. Er setzte sich zusammen aus Pandrill, der Provinz im Süden, die sich hauptsächlich durch Landwirtschaft einen Namen machte. Dann gab es Heurath, die Zentralprovinz. Diese war außerdem die größte Provinz und erstreckte sich von den Pandriller Hügelkuppen bis zu den Thronwäldern.
Grefelsbergen lag östlich von Fartaris, und zählte somit zu den nördlichen Ländern von Throndamm. Fartaris selbst lag aber am nördlichsten, und war somit am weitesten von der Hauptstadt Throndamms, der Stadt Thronstadt, entfernt.
Fartaris galt als recht „isoliert“ und eigenständig. Bei der Schlacht gegen die Ranghuls kämpften die Krieger Gromburgs allein gegen die Invasoren, da Thronstadt es sich nicht leisten konnte, weitere Krieger zu verschenken, da sie selbst zu dieser Zeit in einen Konflikt verwickelt waren. Sie kämpften gegen den Nachbarstaat Velchheim, der damit drohte, mit einer Armee von Ogern das Land zu überrennen. Selten kam es vor, dass die Regierung von Fartaris sich in irgendwelche inländische Entscheidungen einmischte, es war ihnen meist egal, was um sie herum mit ihren Nachbarländern passierte.
Throndamm war generell ein sehr von Magie beeinflusstes Land. Viel wurde benutzt, um neue Technologien zu entwickeln, und viel, um Krieg zu führen. Fartaris war ein relativ Magie armes Land. Es gab nur wenige Einrichtungen, die die Zauberei förderten, und deshalb noch weniger Zauberer. Einzig der Weidenwald im Westen von Fartaris war ein sehr belebter, magischer Ort.

Für Raivyn begann der Tag erst, als die kantigen Steine der Straßen die Kutsche durch wirbelten, und es unvorstellbar war, in dieser Situation ein Auge zuzudrücken. Er war zusammen mit Lera auf dem Weg zur allgemeinen Vorstellungsrunde. Die Kandidaten sollten sich kennenlernen, wenn man es so will. Levita bewarb dieses Treffen eher als das Kennenlernen mit den Feinden, um ihre Fehler zu studieren, und sie dann auszumerzen. Raivyn hörte ihr schon gar nicht mehr zu. Er hörte niemandem zu. Er hörte nur ihre Worte. Die Worte, die sie auf dem Dach sagte. Er konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Das Schlimme daran war, er wusste nicht, wie er sich zu verhalten hat. Vor ihr, vor Levita, vor allen. „Was würde Galin tun, wenn es auffliegt?“, fragte er sich. Es handelt sich hierbei um ein Verbrechen. Er ist mit schuldig, wenn er weiter die Klappe hält.

So saß er in der Kutsche mit ihr. Diese Gedanken schossen durch seinen Kopf, unaufhaltsam.
„Wie… War dein Morgen?“, fragte er Lera, die deprimiert schien. Raivyn versuchte die Stimmung zu lockern, es klappte aber nicht so, wie er es wollte. „Er war in Ordnung.“, antwortete sie leise, als sie sich wieder dem Fenster zuwandte. Es regnete in Strömen. Das tat es immer zu dieser Jahreszeit in Gromburg. Der Wind über den Wolken war noch so eisig, dass er Wolken voller Schnee über Fartaris blies, die Luft war aber schon so warm, dass er ihn schmelzen ließ. Raivyn hatte aber nichts gegen den Regen, im Gegensatz zu Lera, wie es schien. Raivyn mochte den Regen sogar. Er inspirierte ihn, Geschichten zu schreiben. Immer wenn er auf seinem Zimmer, daheim in Harin, saß, und es regnete, Zeichnete er Figuren, und schrieb zu ihnen die spannendsten und interessantesten Geschichten. Er liebte diese Tage. Er ließ sogar das Fenster offen, um die Tropfen prasseln zu hören.
Leras Eltern leiteten die Kutsche. Auch mit ihnen sprach Raivyn kein Wort. Er wusste nicht, ob Lera ihnen erzählte, dass er in den Plan eigeweiht war. Das Treffen fand im Forum, neben dem Turm der obsiegenden, statt. Raivyn kannte den Weg bereits, er wusste also genau, wo sie langfahren sollten.

Doch plötzlich fuhr die Kutsche in eine Nebengasse. „Fahren wir einen Umweg?“, fragte Raivyn verwirrt. „Nein.“, antwortete Lera schroff. Die Kutsche hielt. Leras Eltern stiegen ab und öffneten die Kutschentüren, damit beide aussteigen konnten. Lera blieb ruhig, nahm die Hand ihres Vaters, und stieg die Stufen der Kutschenkabine herunter. Als Raivyn ausstieg, wendeten sie sich ab. „Wo sind wir?“, fragte Raivyn. „Komm mit.“, sagte Herr Harve daraufhin bloß. Frau Harve öffnete eine Holztür an der Seite eines Hauses.

„Herein mit dir.“, forderte Leras Vater auf. Raivyn zögerte, wollte dich dann aber nichts anmerken lassen. Er trat ein. Es war eine verlassene Kneipe, wie es schien. Spinnenweben erstreckten sich über den mit Laken bedeckten Stühlen, und staubige, kaputte Gläser standen auf dem rustikalen, hölzernen Tresen. „Was machen wir…“, wollte Raivyn fragen, wurde aber mitten im Satz beendet, als Herr Harve seine Arme griff, und sie auf seinen Rücken drückten. „Hey! Was soll das?!“, schrie Raivyn entsetzt. „Hinsetzen!“, forderte Herr Harve auf, und wie auf Kommando holte Frau Harve einen Stuhl und ein Seil hervor. Mühsam zwängte Herr Harve Raivyn auf die Sitzfläche, und fesselte ihn. „Was geht hier vor sich?!“, fragte er völlig außer sich, während er zwanghaft da saß.
Er schaute Lera fragend an, doch sie wendete sich traurig ab. „Werdet ihr mich jetzt töten?“, fragte er anschließend. Wie aus dem nichts beugte sich Leras Vater vor. Mit ernster Miene standen sich ihre Gesichter nun gegenüber. „Hör zu. Ich weiß, dass du es weißt.“, sagte er bedrohlich. „Vater, lass ihn frei!“, schrie Lera daraufhin ängstlich. Ihr standen Tränen in den Augen. „Was sollen wir denn mit ihm tun? Wir kennen ihn kaum! Was, wenn er es verrät?“, grölte er in Leras Gesicht.
„Ich schwöre, ich werde nichts…“
„Halts Maul!“

Alle hielten inne. „Warum musstest du es ihm denn sagen? Hätte es nicht gereicht, wenn wir bis zum Ende durchgehalten hätten, und dann einfach ohne etwas zu sagen abgehauen wären?“, fragte Herr Harve verzweifelt. „Vater, weißt du denn nicht, wie es sich anfühlt, immer unterwegs zu sein, nirgendwo ein Zuhause zu haben, und immer die Identität wechseln zu müssen? Immer auf der Suche zu sein, nach neuen Freunden?! Ich hasse es! Ich will das nicht mehr!“
Nachdenklich blickte Leras Vater zu Boden. „Beruhig dich, Schatz.“, sagte ihre Mutter.
Wütend blickte Raivyn auf. Er sah Leras Eltern an, und nahm seinen ganzen Mut zusammen. „Ja, beruhig dich, ‘Schatz‘. Immerhin betrügen wir ja nur ein ganzes Land und wickeln uns in ein Geflecht aus Lügen ein, bis wir nicht mehr herausfinden!“, sagte er, und ballte seine Fäuste. Er musste etwas sagen. „Merkt ihr nicht, was ihr eurer Tochter antut?“
Herr Harve war sprachlos. Seine Augen glühten. Wild packte er den Dolch, der unter seinem Mantel hervorschimmerte, zog ihn aus der Scheide, und hielt ihn an Raivyns Hals. Es war ein Geschehnis von Sekunden, und Lera konnte nur schnelle Worte finden: „Vater, nicht! Bitte!“
Herr Harve schwieg. „Verschone ihn! Bitte!“
„Ich lasse dich am Leben. Vorerst.“

Die Klinge kitzelte bereits seinen Kehlkopf. „Aber wenn du auch nur ein Wort sagst, zu irgendwem, auch wenn es nur eine Andeutung ist, ich schwöre dir, ich werde dich und deine Familie durch die Hölle gehen lassen.“
Geschwind schob Herr Harve den Dolch zurück in die Scheide, und öffnete das Seil, das Raivyn festband. Er stand auf, und folgte Lera und ihren Eltern zurück zur Kutsche. Still stiegen sie ein, und vorn nahm Herr Harve die Zügel in die Hand, und ritt los. Zumindest wusste Raivyn nun, weshalb Lera die ganze Fahrt lang Trübsal blies.

„Danke.“, flüsterte Raivyn mit sarkastischem Unterton. Lera blickte verwirrt auf. „Was soll das denn heißen?“, fragte sie zornig. „Wegen diesem Schlamassel wäre ich fast draufgegangen! Ich hab noch vor, ein paar Jährchen zu leben, wenn du mich fragst.“
Eisern sahen sie nach vorn, um bloß dem Blick des anderen auszuweichen. „Und wie stellt ihr euch das vor? Ich meine, wenn wir gewinnen sollten, haut‘ ihr einfach ab, legt die Namen ab, und taucht mit dem Geld unter? Und ihr lasst mich dann einfach im Stich, und ich darf mich dann mit den Konsequenzen rumschlagen?“
Lera blickte nach vorn, um zu sehen, ob ihr Vater zuhört. „Ich weiß es auch nicht. Mein Vater meint, dass zu dem Zeitpunkt der Siegerehrung etwas… Geschehen wird, was uns einen Vorteil verschaffen wird, unterzutauchen.“

Fragwürdig sah Raivyn Lera an. „Ein Vorteilhaftes Geschehen? Werdet ihr euren Tod bei der Feier vortäuschen? Oder einen Tunnel graben, um zu flüchten?“
„Ich habe Vater gefragt, aber er will nicht mit der Sprache rausrücken.“
Dieser ganze Tag ließ bloß Fragen zurück, dachte Raivyn. Er wusste nun überhaupt nicht mehr, was er denken sollte, also tat er überhaupt nichts, und behielt eine neutrale Mimik bei.
Sie fuhren nun einen Hügel hinauf, und zu sehen war der Turm der Obsiegenden, auf dem eine riesige Fackel thronte. Vor ihnen war eine große Halle, mit breiten, hölzernen Toren, die sperrangelweit geöffnet waren, damit jeder Teilnehmer wusste, wo sie hin mussten. Gemeinsam stiegen sie aus der Kutsche. Es regnete immer noch, und der Himmel war gräulich. Von dem Hügel aus konnte man fast die ganze Stadt sehen. Sie stand leblos da, und von den dunklen Dächern perlte der Regen ab, und lief in Strömen in die Straßen und Gassen.
Nun gingen sie in den Saal, und es kam Raivyn vor, als würde Leras Vater jede Geste von ihm studieren.

Im inneren des Forums war es fein geschmückt, mit Sträußen, die an Kronleuchtern befestigt waren, und Raivyn versuchte sich mit diesen schönen Bildern von seiner derzeitigen Situation abzulenken. Plötzlich kam ein Knecht auf sie zu, dessen Namen Reaivyn sofort wieder vergaß. Er bat sie das Zentrum des Saals aufzusuchen. Dort standen prächtige Stühle, mit weicher Polsterung, zu einem Kreis angeordnet. Dies war höchst wahrscheinlich der Treffpunkt mit den anderen Teilnehmern, so dachte Raivyn. Raivyn wurde aufgefordert, mit Lera dort Platz zu nehmen, ihre Eltern sollten bei Seite gehen. In den nächsten Augenblicken trafen die anderen Teilnehmer ein, und der Kreis war gefüllt. Der Knecht sagte, wir sollten auf einen gewissen Lirius Farnsgate warten, er sollte sich um das organisatorische während der Blaublütenmonate kümmern, so hieß es.
Draußen hörte man, wie eine weitere Kutsche sich einreihte. Es war eine weitaus schönere, mit goldenen Verzierungen, und blank poliertem Holz. Dann trat eine Person hervor, eingekleidet in bunten Stoffen, die wehten, während sie den Raum betrat.
Es war Lirius Farnsgate.

Ohne die Personen im Sitzkreis zu beachten, ging er in die Mitte des Raumes. Er hatte faltige, herunterhängende Haut, und plattes, schwarzes Haar. Sein Blick war finster, seine Augen tief im Kopf, und sein Schnurrbart zuckte, wenn er seinen Kopf drehte.
Es hieß, er kam aus den südlichen Ländern, und er sei vor Jahren in den Norden ausgewandert. Er war tätig als Berater und rechte Hand des Königs von Fartaris. „Ich begrüße euch.“, gab eine tiefe Stimme von sich. Lirius Lippen bewegten sich nur wenig beim Sprechen, und seine Barthaare bewegten sich zitternd. „Ihr seid alle aus einem bestimmten Grund hier. Ich will euch nicht lange auf die Folter spannen, also kommen wir gleich zur Sache: Ich will, dass ihr euch vorstellt. Alle der Reihe nach. Du beginnst.“

Er zeigte auf einen dicklichen, jungen Mann, mit struppeligen, drahtigen Haaren. Er hatte ein rundes Gesicht, und strahlend grüne Augen. Sein Name war Torbin Calish, aus dem Landkreis Drosselheim. Er wirkte zurückhaltend, machte aber einen netten Eindruck auf Raivyn. Ihm wurde bereits, wie bei allen Anwesenden Kandidaten, eine Gattin versprochen, und diese trug den Namen Elsa Dittham. Sie kam aus Harin, und hatte ein Gesicht wie ein Fuchs, fein und zierlich. Sie sah neben Torbin etwas deplatziert aus, denn sie war fast einen Kopf größer als ihr Gatte. Ebenfalls machte sie einen gänzlich anderen Eindruck auf ihn, als Torbin.
Sie rollte oft mit den Augen, und kratzte sich an ihrer Nase, und immer, wenn Torbin begann zu reden, blickte sie genervt in die andere Richtung des Saals.
Lirius streichelte nachdenklich sein Kinn. Sein Blick durchlöcherte förmlich die Luft.
„Die nächsten.“, sagte er schroff, und er unterbrach den stotternd redenden Torbin. Still setzten sie sich zurück auf ihre Plätze.

Als nächstes ging Harry Pippkins nach vorn. Seine Haare waren blass, schon fast silbern. Seine Erscheinung war starr und ernst. Er erzählte mit Stolz von den ehrenhaften Errungenschaften seiner Familie, und was für ein Ansehen sie in Aahon genossen. Nichtsdestotrotz stellte sich heraus, dass er der Sohn von Plantagenbesitzern war. Nichts, was Raivyn nicht war. Seine zukünftige Frau hieß Lisbeth von Tondmac. Sie hatte rotes Haar, und Sommersprossen. Sie lächelte die ganze Zeit, egal was Harry sagte. Ihre Eltern waren erfolgreich im Schiffbau. Sie hatten eine Werft in Vogelsbek.
Lirius hatte bereits seine Augen geschlossen, und lehnte seinen Kopf gegen seine Faust. Ein Schnarchen war zu hören. „Herr… Farnsgate?“, fragte Harry leise. „Lirius!“, rief einer der Knechte, und rüttelte an Lirius‘ Schulter. Sein Schnarchen unterbrach, und er wurde wach.
„Oh, ja. In Ordnung. Die nächsten.“

Nun mussten Raivyn und Lera nach vorn.
Sie stellten sich in die Mitte des Kreises. Mit müden Augen betrachtete Lirius das Paar. Als Raivyn nun dichter an Farnsgate stand, sah sein Gesicht noch knochiger aus. „Mein Name ist Raivyn von Shireheard. Ich komme aus Harin, und meine Eltern sind Plantagenbesitzer.“
„Stopp!“, rief Lirius mit nun weit aufgerissenen Augen. „Ich kann es nicht mehr hören! Meine Eltern haben dies getan, das getan. Zum wievielten Male höre ich das heute? Ihr wollt auf den Thron! Ihr kämpft um die Aufmerksamkeit des Volkes! Präsentiert euch, und nicht eure Eltern!“

Er setzte sich wieder und richtete sein Gewand. „Noch mal von vorn, Herr Sherheart.“
„Shireheard.“, korrigierte Raivyn ihn. „Mein Name ist Shireheard.“, wiederholte Raivyn agressiver.
Lirius konnte nicht glauben, was er dort hörte. „Wie bitte? Was hast du da gesagt?“, fragte Farnsgate energisch. Bevor Raivyn weiterreden konnte, blickte er durch den Raum, um zu sehen, ob Leras Eltern anwesend waren. Sie waren fort, höchst wahrscheinlich in einem der Nebenräume, um Kaffee zu trinken.

Als der Raum „sicher“ war, schoss er los: „Soll ich ihnen sagen, warum wir hier sind? Der wirkliche Grund, weshalb wir uns diesen Schwachsinn hier antun, Lera und ich?“
Lera schaute Raivyn an, und war kurz davor, ihn zu unterbrechen.
„Wir sind hier, weil unsere Eltern es uns aufgezwungen haben. Sie wollen die Krone, nicht wir. Deswegen sitzen wir hier in diesem engen, unhandlichen Aufzug, um Leuten zu gefallen, die wir nicht kennen. Verstehen sie das? Das ist der Grund, weshalb wir nur über unsere Eltern reden. Wenn wir über uns reden würden, würden wir darüber reden, wie wir uns unsere Freiheit zurück wünschen, und wie schrecklich es doch ist, hier zu hocken, und zu warten, bis wir uns abends unser falsches Lächeln aus dem Gesicht wischen können, und uns nackt und übermüdet in unser Bett legen können. Aber wissen sie was? Lera und ich, wir machen das Beste aus unserer Situation. Wir strengen uns an, dem Volk zu gefallen, weil wir es müssen. Wir werden Reden schwingen und uns einschleimen, weil wir es müssen. Manchmal muss man eben Dinge tun, die einem nicht gefallen, um andere nicht zu enttäuschen, oder weil man es sich selbst schuldig ist.“

Das Unwetter über Gromburg nahm seinen Höhepunkt. Es donnerte einmal laut, und die Regentropfen prallten auf wie Pfeile.
Dann fing Lirius an zu lachen. Es klang unangenehm, seine Stimme kratzte. Er konnte nicht aufhören, und er sackte förmlich auf seinem Stuhl zusammen.
Es donnerte noch einmal, und plötzlich fing Farnsgate sich wieder. „Setzen.“, sagte er.
„Das heißt, die nächsten sollen nach vorn kommen!“, zuckte er auf.
Mit einem unbefriedigenden Gefühl setzte Raivyn sich wieder. Lera nahm seine Hand und flüsterte: „Raivyn, das war wundervoll. Hast du das etwa einstudiert?“
„Nein. So etwas… Sprudelt einfach heraus“
„Wahnsinn.“

Nun gingen zwei weitere Anwärter nach vorn. Hierbei handelte es sich um Dorren Weißstein aus Hainmark. Bevor er aufstand zitierte er einen Knecht mit einer Handbewegung davon, der ihn mit Erdnüssen fütterte. Als er sich vom Stuhl erhob, gab er ein lautes Stöhnen von sich, und erst als er nach vorn ging, bemerkte man seinen runden Bauch.
Er hatte einen hervorstehenden, drahtigen Kinnbart und eine blankpolierte Glatze. Er hielt seinen Kopf stets nach oben, und wagte es nicht, sein verschlagenes Grinsen abzulegen. Er schlenderte förmlich nach vorne. „Seid gegrüßt, Herrn Farnsgate.“, gab er mit einer schwungvollen Stimme bekannt. „Nun, bevor ihr etwas sagt, Lirius, betone ich zutiefst, dass ich mich beschweren möchte. Euer kleiner Knappe dort hinten, wie hieß er gleich? Egal, auf jeden Fall möchte ich in Zukunft von einem talentierteren Knecht gefüttert werden. Dieser verfehlte oft meinen Mund, deswegen habe ich eine ganz klebrige Lippe.“

Dorren wischte sich den Mund mit seinen Fingern ab. Unbeeindruckt saß Lirius still da. Dorren leckte sich die Finger ab, dann sprach er weiter. „Nun, wie soll ich sagen, ich habe mir einen Namen gemacht, in dem ich in jungen Jahren lernte, Häuser zu bauen. Dies schulte ich, Tag für Tag, bis ich jeden in Hainmark mit meinen Bauwerken begeistern konnte. So kam es dazu, dass ich ein Bündnis aus Architekten gründete, und mich so systematisch immer weiter hochgearbeitet habe. So kam es dazu, dass ich sehr bald danach schon zu den wohlhabendsten und einflussreichsten Mitbürgern Hainmarks zählte. Also von wegen ‘Einfluss der Eltern‘.“
Dorren schielte zu Raivyn rüber.

„Dann dachte ich mir, wieso sollte ich nicht mein Glück versuchen, und versuchen, König von so einem kulturellen Land zu werden? Ich könnte viel dazu beisteuern, Fartaris zu verschönern, und sicherer zu machen, indem ich Dinge erbaue, und nicht einfach anfange, Reden zu schwingen.“
Sein Blick ging wieder in Raivyns Richtung. Lirius blickte mit offenen Augen in die von Dorren. Dann begann er zu applaudieren. „Sowas will ich sehen!“, rief er voller Begeisterung, während er seinen Kopf schwenkte. Dorren drehte sich guten Gewissens um, und setzte sich wieder mit einem breiten Grinsen. Seine Gattin kam gar nicht zu Wort, auch sie musste sich wieder hinsetzen. Ihr Name war Hegga Dornwelth, sie kam aus einem unwichtigen Vorort von Vogelsbek.

„Ihr könnt jetzt gehen.“, gab Farnsgate von sich. „Ich werde mich nun mit anderen beraten.“
Die Nervosität stieg in Raivyn bis ins undefinierbare an. Nun kommt nämlich der Teil, indem sich die Vorsitzenden der Blaublütenmonate (Lirius Farnsgate, der Organisator, einige Vertreter aus dem Volke selbst, und ab und an auch der König und sein Thronfolger) absprechen, und einschätzen, wer die größten Chancen hätte, die bevorstehende Wahl zu gewinnen. Diese Besprechungen sind sehr wichtig, denn der Gewinner der Wahl muss mehr als die Hälfte der Stimmen auf seiner Seite haben. Bei den Auswahlverfahren kommt es selten vor, dass beim ersten Wahldurchgang sofort ein Paar die absolute Mehrheit gewinnt, weshalb es mehrere Wahlgänge gibt. Jeder Wahlvorgang erstreckt sich über eine Woche, man kann von montags bis sonntags seinen Wahlzettel abgeben, jedoch nicht mehrere. Wenn nach vier Wahlen immer noch kein eindeutiges Ergebnis vorliegt, wird ein Teilnehmerpaar aus der Wahl ausgeschlossen, und zwar das, welches bei den Beratungen am schlechtesten bewertet wurde.
Vor den Toren warteten die einzelnen Anwärter in ihren Kutschen. Aus dem Platzregen wurde nun ein feiner Sprühregen, und der Himmel wurde blasser. Man hörte das Wasser vom Hügel abfließen, es war ein seichtes plätschern.
„Ich mache mir Sorgen.“, erzählte Raivyn bedrückt. „Mir hat deine Ansprache gefallen.“, kommentierte Lera tröstend. „Ich war zu vorlaut, zu unsittlich. Meine Worte belustigten ihn.“, gab er zu.

Die Beratung zog sich nicht lang hin, nicht einmal eine halbe Stunde, und umgehend wurden alle wieder hereingebeten. Wieder sollten sich alle auf ihre Stühle setzen, diese waren aber nicht mehr in einem Kreis angeordnet, sondern in einer Reihe, und vor ihnen standen die Vorsitzenden. Lirius schriet nach vorn, mit einem Zettel in der Hand, von dem er die Punktevergabe ablas:
„Torbin Calish und Elsa Dittham. Ihr tratet als erste vor. Auf einer Skala von 1 bis 30 habt ihr 14 Punkte erreichen können.
Harry Pippkins und Lisbeth von Tondmac. Ihr wart die zweiten. Ihr habt 19 Punkte erreicht.
Raivyn von Shireheard und Lera Harve.“
Lirius Blick schien Raivyn auszupeitschen. „Ihr wart als drittes an der Reihe. Ihr habt lausige 8 Punkte erreicht. Glückwunsch.“
Aus der Masse der anderen Vorsitzenden hörte man ein leises „Vorlauter Bengel!“ heraus.
„Nun kommen wir zu Dorren Weißstein und Hegga Dornwelth. Für euch gibt es 29 Punkte von uns. Herzlichen Glückwunsch.“
Die Vorsitzenden applaudierten, und Dorren rieb sich siegessicher seinen Bart.
„Ich dachte, in Harin war ich schon weit von der Krone weg, aber hiermit haben wir uns endgültig ins Aus katapultiert.“, flüsterte Raivyn.
„Nun, was steht ihr denn hier noch so faul rum? Macht euch für den Abend fertig! Euch allen steht ein Gespräch mit Galin bevor!“
Dies war der abschließende Teil dieses ersten Tages. Der Thronfolger will sich ein eigenes Bild von seinen Kandidaten verschaffen.
Die Kutschen vor den Toren wurden weniger, und verstreuten sich in der Stadt.

„Soll das euer Ernst sein?!“, fragte Raivyns Vater. „Ich bin enttäuscht. Wir sind die Schlechtesten!“, rief Leras Vater verzweifelt. „Wie habt ihr das geschafft, dass die Vorsitzenden euch hassen?“, fragte Leras Mutter wiederrum.
Lera und Raivyn saßen dort, umzingelt von ihren Eltern, und mussten sich diesen stechenden Kommentaren aussetzen. „Dieser Lirius Farnsgate mochte mich doch von Anfang an nicht!“, versuchte Raivyn zu antworten. „Jetzt lass diese dämlichen Ausreden! Was hast du gesagt, als du dich vorstellen solltest?!“, schnauzte Levita ihren Sohn an. Raivyn war kurz davor, ihr zu antworten, doch dann sprang Lera ein. „Ich war es. Es war meine Schuld. Lirius ist darauf eingegangen, das wir Harves nichts in unserem Leben geschafft haben, außer der Tatsache, dass wir Geld geerbt haben, und deswegen bin ich wütend und ausfallend geworden.“, gestand sie mit gespielter Miene. Levita betrachtete sie mit finsterem Ausdruck. Alle blieben still. „Nun… Nun gut.“, meinte Raivyns Mutter. „Aber Heute Abend werdet ihr es wieder geradebiegen. Wenn ihr vor Galin ebenfalls so versagt, dann können wir den Thron ganz vergessen!“
Die Eltern verließen den Raum. „Warum… Hast du das gesagt?“, fragte Raivyn unwissend. „Das war ich dir schuldig wegen heute.“, antwortete Lera blitzschnell. Sie nahm seine Hand. „Und vor allem, weil deine Rede so gut war.“
Gemeinsam lachten sie. Das war das erste Mal, dass sie es taten, und Raivyn hoffte, dass es nicht das letzte Mal war.

Bevor das Treffen mit Galin stattfand, bekam jedes Paar einen eigenen Berater in Sachen Kleidung und Schminke (Welche Raivyn hasste). Lera und Raivyn warteten in einem Vorraum. Dann öffnete sich eine Tür, und ein kleiner Mann trat herein. „Ihr müsst Lera und Raivyn sein. Ich bin euer persönlicher Berater, Hevos Mandon. Seid gegrüßt.“
Mit tippelschritten kam der Mann mit den spitzen, bräunlichen Haaren auf die beiden zu, und grüßte sie. Seine Hände waren weich wie Samt, und seine Haut glänzte. „Fangen wir gleich an, euch bereit zu machen!“

Lera und Raivyn folgten dem kleinen Mann, und sie kamen in einen kleinen Raum voller Teppiche, Spiegel und Kisten. Zuerst wurde Lera vorbereitet. Sie musste sich entkleiden (Und Raivyn musste wieder wegsehen), und Hevos gab ihr Kleider und Gewänder, die er dann an ihrem Körper beurteilte. Anfangs weigerte sich Lera, sich vor Hevos auszuziehen, doch Hevos antwortete schroff: „Liebes, du verstehst da etwas falsch. Ich bin kein Mann, auch keine Frau. Vor Jahren schon habe ich mir mein Geschlecht entfernen lassen.“
Das mussten die beiden erst einmal verdauen. Dann begannen sie, mit Hevos warm zu werden, und er wurde schon bald ein enger Freund der beiden.
Nach dutzenden Kleidern kamen Hevos und Lera zu dem Entschluss, sich für ein schwarzes Kleid mit Rüschen, an denen schwarze Edelsteine befestigt waren, zu entscheiden. Lera funkelte im Licht wie ein Stern, und die Reflektionen spiegelten sich im ganzen Raum wieder, jedoch blendeten sie nicht ihre Schönheit aus.

„Wahnsinn.“, sagte Raivyn mit Erstaunen. „Du bist… wunderschön.“
Lera lachte nur. „Du bist dran, großer Lord von Shireheard.“, gab Hevos mit sarkastischem Unterton bekannt. Raivyn war bei weitem nicht so wählerisch, wie Hevos und Lera es waren, also kam er zu der schnellen Entscheidung, ein weißes Hemd mit goldenen Verzierungen und Mustern anzuziehen, gepaart mit einer bronzenen Jacke und einer Wildlederhose.
Auf Schminke wollte Raivyn gänzlich verzichten, doch Hevos hat ihn nicht verschont. Seine Nase wurde gepudert und einige Hautunreinheiten wurden gekonnt mit verschiedensten Utensilien aus Hevos‘ Schmuckkästchen verdeckt. Noch ein paar letzte Handgriffe und auch seine Klamotte war perfekt.
„Ich sehe aus wie ein Gaukler.“, beklagte er. „Oh, nein! Wie könnt ihr so etwas sagen, Lord von Shireheard?“, fragte Hevos mit kritischem Blick. „Ihr seht perfekt aus. Macht euch keine Sorgen, in dem Bereich können meine Hände zaubern.“

Nun mussten sie sich auf den Weg machen, die Kutsche wartete bereits. Kaum begann der Wettkampf um die Thronfolge, schon hatte Raivyn den ganzen Trubel satt. Er hasste es, die ganze Zeit herumkutschiert zu werden, über holprige Straßen, bei niedrigem Tempo.
Der Abend brach herein, und der klare Nachthimmel verdrängte die finsteren Regenwolken. Die Luft war die frischeste, die Raivyn jemals einatmete. Langsam verschwanden die Bewohner Gromburgs in ihre Behausungen, und zündeten Kerzen an, deren Lichter bis in die Gassen flimmerten, und der nun dunklen Stadt einen warmen Ton gaben. Nun erklommen sie den Hügel, auf dem der Palast stand, und Lera und Raivyn wurden, als sie ausstiegen, gebeten, in einem Vorraum zu warten, bis sie eintreten durften.

Es warteten ebenfalls andere Teilnehmer auf ihr Treffen, und zwar Torbin Calish und Elsa Dittham, und Harry Pippkins und Lisbeth von Tondmac.
Es war ein länglicher Raum, an dessen Seiten sich Bänke befanden, und Raivyn setzte sich zusammen mit Lera auf die gegenüberliegende Seite von Torbin und Elsa.
„Hey.“, sagte Torbin leise. „Hallo.“, antworteten Raivyn und Lera. Harry Pippkins und seine Frau Lisbeth wendeten sich ab, als ob die anderen nicht da waren.
„Ist gerade jemand bei Galin?“, fragte Lera. „Ja. Dorren Weißstein und Hegga Dornwelth sind anwesend.“, antwortete Elsa Dittham. Raivyn betrachtete Torbin. Sein Blick haschte durch den Raum, und seine Hände Zitterten. Er sah unwohl in seinem Aufzug aus, eingeengt. Sein enger Kragen hob sein Doppelkinn umso mehr hervor. „Seid ihr aufgeregt?“, fragte Raivyn unwissend. „Oh, ja, das bin ich. Ich habe sogar ziemliche Angst, diesem Mann gegenüberzustehen. Ich meine, er hat den Ranghulkönig hingerichtet. Er ist ein Held. Ich bin nur ein Kerl mit ‘nem Runden Bauch und einer Menge Geld.“

Raivyn merkte, wie ähnlich Torbin und er sich eigentlich waren. Er dachte, dass sie viel Spaß zusammen hätten haben können, wenn sie keine Konkurrenten gewesen wären. Er hatte sich vorgestellt, wie Torbin als König gewesen wäre, falls er gewinnen würde. Er konnte es sich gut vorstellen, besser als bei Harry, bei Dorren, und vor allem besser, als bei ihm. Raivyn wurde bewusst, wie nutzlos er eigentlich als König gewesen wäre, er schwang ja bloß leere Worte, wie Lirius bemerkte.
Plötzlich unterbrach Harry die Gedanken von Raivyn. „Wie könnt ihr hier einfach lautstark über eure Schwächen reden? Ich meine, ihr kämpft hier um die Krone, um den Sieg, um den Thron, und wir sind alle Konkurrenten, wisst ihr das etwa nicht? Ihr seid nicht hier, um Freundschaften zu schließen.“
Stille herrschte, doch schnell änderte es sich; Die Tür am Ende des Raumes schwang auf. Dorren und Hegga verließen Galins Speisesaal, und zwar mit ernster Miene. „Ihr seid dran.“, sagte er wütend zu Lera und Raivyn.
„Das lief wohl nicht so gut.“, sagte Torbin mit großen Augen. „Viel Glück euch beiden.“

Gemeinsam traten Lera und Raivyn ein. Warmes Kerzenlicht, wohlriechende Speisen und riesige Fenster, die einem einen Blick über die ganze Stadt verschafften, begrüßten sie. „Lera Harve, Raivyn von Shireheard, ich heiße euch willkommen.“, erzählte Galin mit warmer Stimme. Seine blonden Locken glänzten im flackernden Schein des Kerzenlichtes. Auf der Fensterbank saß Astauge, der behutsam ein Buch las.
Angespannt blickten Lera und Raivyn einander an (für den Bruchteil einer Sekunde), bevor sie sich nervös verbeugten. Galin begann zu lachen, so laut es ging. „Ihr müsst euch nicht verbeugen. Antwortet einfach mit einem weiteren ‘Hallo‘, und die Sache ist gegessen.“, fügte er anschließend hinzu, während Lera Raivyn zwanghaft dazu animierte, mit zu lachen.
„Wisst ihr, es ist nur eine große Ehre, jemanden wie Euch vor sich zu haben.“, redete Lera sich heraus. Raivyn blieb stumm. Galin bejahte dies bloß mit einem Nicken, und den Worten: „Nehmt ruhig Platz. Das Essen ist auf dem Weg. In der Zwischenzeit, erzählt doch ein Bisschen was über euch.“
Raivyn fühlte sich wie in einer Prüfung mit seinem Hauslehrer, Herrn Braunstock. Raivyn hasste ihn. Er konnte Raivyns Handschrift nie lesen, weshalb er automatisch schlechte Zensuren bekam.

„Nun, als Raivyn und ich uns zum ersten Mal sahen, stimmte das Verhältnis zwischen uns beiden von Anhieb.“, erzählte Lera, und sie nahm Raivyns Hand demonstrativ in die ihre. Es fühlte sich schön an, dachte Raivyn, jedoch streifte er dieses Glücksgefühl sofort wieder ab, als er realisierte, dass das alles nur gelogen war.
Das Essen kam auf einem Tisch herein gerollt. Es gab als Vorspeise feine Süppchen, mit Kräutern und Gemüse, und einen prächtigen Truthahn als Hauptmahl, dessen inneres mit leckeren Früchten gefüllt war.
Raivyn war gar nicht danach, zu essen. Irgendetwas ging ihm durch den Kopf. Lera zwang ihn jedoch indirekt dazu, und sie gab ihm gleich eine Extraportion Suppe.
„Esst ruhig allein.“, sagte Galin. „Ich habe keinen Hunger mehr. Ich habe ja schon mit den Kandidaten vor euch gegessen.“, und er lehnte sich zurück, und sah den beiden beim Essen zu. Lera versuchte, Augenkontakt zwischen sich und Raivyn herzustellen, doch Raivyn vergrub sein Gesicht tief in der Suppenschale. Sie trat ihm gegen das Schienbein, und als er kurz aufblickte, warf sie ihm einen Blick zu, der nichts anderes sagte, als: „Was zum Geier ist los mit dir?!“
Was danach folgte, war ein zwanghafter Versuch, Raivyn zum Reden zu bringen, von Lera und von Galin aus, jedoch schaffte er es nicht, sein ernstes gesicht abzustoßen, um es durch ein aufgesetztes Lächeln einzutauschen.
Als dann niemand mehr etwas zu sagen hatte, beendete Galin die Sitzung. „Gut, ich hoffe, es hat euch geschmeckt. Ihr dürft jetzt aufstehen, und die nächsten hereinbitten.“

Auf dem Weg zu ihrem Gemach schwieg Lera, doch Raivyn wusste, was ihm drohte, als sie ihr Zimmer erreichten, und Raivyn die Tür schloss, durchzog ein Ruck seine Wange. Lera hat ihn geohrfeigt.
„Was stimmt nicht mit dir!?“, schrie Lera ihn an. „Weshalb hast du die ganze Zeit so ein Gesicht gezogen?! Du weißt doch, wie schwer wir es schon haben, nachdem wir dank dir so schlecht bei den Vorsitzenden abgeschnitten haben.“
Es ging schon so weit, dass Lera ihn mit ihrer Hand gegen die Wand drückte.
Raivyn fehlten die Worte. Doch dann fiel ihm wieder ein, warum er sich überhaupt so verhalten hat.

„Was meinst du wohl, warum ich nicht bei deinem kleinen Spiel mitgespielt habe? Was glaubst du wohl, weshalb ich nicht versuche, deine kleine Lüge aufrecht zu erhalten?“
Lera wollte ihn unterbrechen, doch Raivyn redete weiter. „Nein! Komm mir jetzt nicht so, als ob ich euren kleinen Plan vereitle, oder euch verrate. Nein, ich versuche nur zu verhindern, dass wir gewählt werden. Ich habe mich entschieden, nichts zu sagen. Na gut, ich sage nichts, ich will aber auch nicht, dass jemand wie du zur Königin gewählt wird, damit sie sich anschließend mit ihrem erlogenen Geld und ihrem erdachten Namen einfach so ins Blaue aufmachen kann. Gut, nenn‘ mich einen Feigling. Aber so bin ich nun mal nicht. Ich bin kein hinterlistiger Dieb, kein waghalsiger Abenteurer. Ich bin nur ein Mensch aus Harin, dessen Eltern Sklaven über eine Plantage kommandieren.“
Und plötzlich wusste Lera nichts mehr zu sagen. Raivyn fühlte sich so gut wie schon lange nicht mehr, und er konnte nun guten Gewissens wieder behaupten, er tat das richtige.

Was beide aber nicht wussten, war, dass Hevos, ihr Berater, gerade in dem begehbaren Kleiderschrank war, um die Kleidung einzusortieren, und dass er sein Ohr nicht von der Schranktür halten konnte, um nicht mehr zu lauschen.

Benutzeravatar
El Granto
standhafter Schreiberling
standhafter Schreiberling
Beiträge: 32
Registriert: Sa 18. Jan 2014, 11:45

Re: [EX16]Die Legende von Ogon (High Fantasy/ Sword and Sorc

Beitrag von El Granto »

-6-

Die Brieftasche

Astauge saß im Vorzimmer von Galins Schlafgemach. Die Zeit hat Spuren an seinem Körper zurückgelassen. Falten gruben sich in seine Haut, und Narben aus vergangenen Tagen durchfuhren ihn, und bei jeder Bewegung, die er ausführte, begann er, zu schnaufen. Er war ungefähr doppelt so alt wie Galin, so schätzten die meisten, jedoch war sich niemand sicher, wann er geboren wurde. Wahrscheinlich noch vor der Amtszeit des Königs. Das einzige, was man wusste, war, dass er als Diener des Hochadels seine Arbeit begann, und dass sein Talent für den Umgang mit Pfeil und Bogen auf einem Ritterturinier erst zur Geltung kam. Er konnte die anwesenden Zuschauer mit seinen Künsten begeistern, und schon bald galt er als einer der wichtigsten Kämpfer der ganzen Stadt. Und so traf er auch auf Galin: Nachdem er zum Thronfolger ernannt wurde, schwor Astauge, immer ein Auge auf den jungen Galin zu richten, und ihn bei seinem Leben zu beschützen. Schon bald war Astauge mehr als nur eine Wache, und sie wurden enge Freunde. Galins Eltern, die ihn zwangen teilzunehmen, wendeten sich jedoch wieder von ihm ab, und gaben ihm keinen nötigen Respekt und keine Anerkennung, denn sie fanden heraus, dass Galin durch einen Trick an die Macht kam, und sie wollten ja schließlich keinen Betrüger als ihren eigenen Sohn haben. Freiwillig übernahm Astauge die Verantwortung über den Jungen.

An diesem Morgen schlief Galin noch tief und fest, dachte sich Astauge, der an seinem Bogen herumspielte. Er wartete auf ein Lebenszeichen. Und dann kam es auch: Vele, Galins Frau, begrüßte ihn mit einer Umarmung. „Wie geht’s ihm heute?“, fragte Astauge.
„So wie immer.“, erzählte Vele leise, und leicht betrübt. „Er hat schlecht geschlafen. Ich denke, ihn plagen Albträume.“
Astauge blickte drein. „Wann taten sie das nicht?“, fragte er bedrückt. „Ich mache mir Sorgen um ihn, Astauge.“, antwortete Vele. „Wann ist er endlich wieder der, der er früher war, als wir heirateten?“
Astauge blickte aus dem Fenster. Er konnte die ganze Stadt, bis zur Leonardsbrücke, überblicken. „Meine Liebe, ich fürchte…“, begann er, „Diesen Galin haben wir im Krieg verloren, und nie wiedergefunden.“
Nun betrat Galin selbst, noch mit müden Augen, den Raum. Zwei Hausdamen kamen ihm mit Kleidung entgegen, welche sie ihm überstreifen wollten, doch er schickte sie weg und wollte sich selbst einkleiden. „Guten Morgen…“, flüsterte er, und eine Dame mit einem Tablett voller Köstlichkeiten kam herein. Galin gab ihr ein Zeichen, welches ihr vermittelte, dass sie das Essen abstellen, und wieder gehen sollte.

Am heutigen Tage wollten Galin und Astauge mit einer Kutsche raus aus der Stadt, um draußen in den Wäldern jagen zu gehen, wie sie es jede Woche taten. Sie wollten ein letztes Mal Zeit für sich haben, bevor die Blaublütenmonate begannen, denn an diesem Abend sollte Galin mit den Teilnehmern des Kampfes um den Thron zu Abend essen. „Zieh dir etwas Dickes an.“, sagte Vele. „Heute regnet es.“, und das tat es wahrlich. Graue, dichte Wolken bahnten sich ihren Weg über den Horizont und verdunkelten den noch so jungen Sonnenaufgang. Die Straßen und Gassen, die so grell und warm erhellt wurden, verfielen in ein tiefes schwarz. Reihenweise fielen Türen und Fenster zu, als die ersten Tropfen fielen. Die Sonnenstrahlen wurden komplett von dem grauen Schleier des Unwetters verdrängt, und das Unwetter nahm seinen Lauf. Schnell packten Astauge und Galin ihre Sachen, und rannten auf den Hof, um in ihren Wagen zu steigen. Tropfen schlugen auf die Fenster, und ein lautes Prasseln war zu hören.
„Die Stadt ist so schön, egal welch Wetterlage gerade über uns hereinbricht.“, sagte Galin, als die Kutsche losfuhr. Sie kamen am Schlosstor vorbei, und überquerten nun die Brücke, auf der die schicksalhaften Geschehnisse stattgefunden haben. Noch immer sieht Galin den Ranghulkönig vor sich, wie er mit dem Pfeil im Auge vor ihm kniete, und wie er ihn gewaltsam hinrichtete. „Kaum zu glauben, dass das schon fast zehn Jahre her ist…“, flüsterte Galin, und sofort wusste Astauge, worauf er anspielte. Galin blickte gebannt auf die Stelle, an der all dies geschah.
Astauge wendete sich ab, er wollte diese Tage bloß vergessen. Nicht, weil ihn immer noch diese schrecklichen Bilder im Kopf plagten, sondern weil er sich den Galin zurückwünscht, den er aufzog. Den Galin, der auch lachte, wenn er nicht sollte, oder es konnte, ohne sich ein falsches Grinsen aufsetzen zu müssen. Der Galin von heute war kaum wiedererkennbar, er vergrub seine Gefühle immer tiefer, bis er sie nie wieder fand, und es schmerzte Astauge sehr, die einzige Person, die dem am Nächsten kam, was er einen Sohn nannte, so leiden zu sehen.

Sie waren nun bis zum Armenviertel vorgedrungen, es regnete bereits in Strömen. Die meisten Bewohner verkrochen sich in ihren Hütten, jedoch nicht alle. Aus der Kutsche konnte man sehen, wie Bettler und Obdachlose sich unter Holzplanken und Decken versteckten, um sich vor dem Regen zu schützen. „So schön, wie unsere Stadt auch sein mag, so sehr bildete sich auch eine große Kluft zwischen Arm und Reich.“, sagte Astauge. „Ich kann das nicht mehr lange mit ansehen, Astauge.“, sagte Galin wütend. „Leid und Armut, und das nur, weil unser König nicht mehr mit unserer Politik klarkommt, und langsam auf seinem Thron versauert.“

Während der Fahrt passieren sie viele Straßen, in deren Nebengassen sich immer mehr Obdachlose tummeln. Zwischen Pfützen und Abfall wurde sich um Äpfel und Brotkrümel gestritten, manche kauerten sich zusammen, weil sie froren. Einige wurden durch das Erscheinen der prachtvollen Kutsche eingeschüchtert, Andere fingen an, zu pöbeln, und zu betteln. Schuldgefühle breiteten sich in Galin aus.
Er konnte nicht wegsehen. Sie fuhren schließlich an einem Seitenweg vorbei, in der Niemand war, außer ein kleines Mädchen, in Lumpen gepackt, welches versuchte, sich in einen Türrahmen zu drücken, um nicht nass zu werden. Sie war ungefähr sieben Jahre alt, und Galin ertrug es nicht, sie anzusehen, also gab er ein Klopfzeichen, welches dem Kutscher vermittelte, anzuhalten, und er stieg aus. „Hallo.“, sagte er zu dem Mädchen, doch sie versuchte ängstlich, sich weiter gegen die Tür zu drücken. „Wie heißt du?“, fragte er sie. Sie zögerte zitternd. „Helen.“, antwortete sie mit leiser Stimme. „Wo sind deine Eltern?“, fragte Galin, als er sich zu ihr herunterbeugte. „Weiß ich nicht.“
„Bist du ganz allein, Mädchen?“
„Ja.“
Galin holte eine Brieftasche aus seinem Mantel. Sie war aus rotem Stoff, verziert mit goldenen Linien und Schriftzügen. Auf ihrer Mitte war das Wappen Gromburgs. Sie funkelte förmlich in den Augen des Mädchens. „Nimm dies. Such dir einen guten Unterschlupf und lass es dir gut gehen. Damit kommst du überall rein.“

Sie blickte in die Brieftasche, und dutzende Scheine schienen hervor. „Aber Vorsicht.“, sagte Galin. „Lass dich damit nicht sehen. Verstecke sie gut unter deiner Kleidung.“
„Danke.“, sagte Helen, und Galin warf ihr einen roten Mantel über. „Denk an meine Worte. Sei vorsichtig!“, und Galin ging zurück in die Kutsche. Er schaute ihr hinterher, sie rannte durch den Regen, um eine Gaststätte aufzusuchen. „Fühlst du dich jetzt besser?“, fragte Astauge mit einem Unterton, der Galin gar nicht gefiel. „Ich hätte sie auch mitnehmen können, ihr ein Zuhause bieten können, doch es gibt so viele Menschen in unserer Stadt, die demselben Schicksal ausgeliefert sind. Ich fühle mich einfach… Schuldig, meiner Stadt gegenüber.“

Nachdem sie die Leonardsbrücke überquerten, schlugen sie einen Weg ein, der nur wenigen Einwohnern außerhalb der Stadt bekannt war. Zwischen Wurzeln und Steinen holperte der Wagen über den Pfad, der eng zwischen den Bäumen dieses Waldes lag. Regentropfen liefen an den Ästen und Blättern der Eichen und Buchen entlang, und der Erdboden war feucht und klebrig, sodass man die Pferde mit ihren Hufen auf den Boden auftreten hören konnte, da ein schleimiges Geräusch dabei entstand.

Nach diesem holprigen Ritt hielt die Kutsche bei einem Häuschen mitten im Wald. Astauge und Galin packten ihre Sachen, stiegen aus, und sagten dem Kutscher, er solle in einer Stunde wiederkommen. Um dem Regen zu entkommen, gingen sie in das kleine Holzhüttchen, während die Kutsche wendete und den Wald auf dem Pfad verließ. Astauge nahm Pfeile aus seiner Tasche, und schärfte ihre Spitzen, und Galin strammte die Sehnen der Bögen. Gemeinsam streiften sie zwischen den Bäumen umher, auf der Suche nach Beute. Beide folgten einem bestimmten Weg, obwohl sie jedes Mal, wenn sie auf Jagd gingen, eine andere Fährte einschlugen.
Die beiden verstanden sich auch ohne Worte. Die beiden sprangen nun über einen Bach, der durch den strömenden Regen zu einem reißenden Fluss geworden war. Es gab nichts schöneres, als im Regen zu jagen, dachte Galin. Er eilte voraus, sprang und kletterte durch die dichte Landschaft. „Nicht so geschwind!“, rief Astauge, der völlig außer Atem war. „Ich bin auch nicht mehr der Jüngste.“, stöhnte er, als Galin zu ihm umkehrte. Dann ertönte ein Knacken. Beide sahen sich um, und über ihnen, auf einem Hügel, erschien ein Reh. „Das gehört mir.“, gab Galin preis, als er einen Pfeil aus seinem Köcher zog. „Hah, versuch’s ruhig.“, antwortete Astauge provozierend, und auch er griff zu seinen Pfeilen und machte seinen Bogen bereit.

Galin spannte den Bogen, zielsicher mit dem Pfeil auf das Tier gerichtet. „Sieh her, alter Mann.“, sagte er, und er ließ die Sehne los. Der Pfeil traf mit einem dumpfen Knallen auf, und er zitterte, während seine Spitze komplett verschwand. Aber nicht in dem Reh, sondern in dem Baum, der ein paar Schritte von dem Tier entfernt war, welches nun ängstlich davonrannte. Astauge weinte beinahe vor Lachen. Er stütze sich an Galins Schulter ab. „Das war alles?!“, presste er zwischen seinem Gelächter aus seiner Kehle heraus. „Oh nein, das Spiel ist noch nicht vorbei!“, schrie Galin kampflustig, und rannte den Hügel hinauf, um das Reh zu suchen. „Jetzt gehört das Tier mir, Bengel.“, antwortete Astauge, und er rannte, so schnell er konnte, dem Thronfolger hinterher. Beide erblickten das Reh sofort, als sie auf dem Hügel standen. Es versteckte sich hinter einem Dornbusch vor einer Eiche, vor der sich eine riesige Pfütze befand.

Geschwind waren die Pfeile gezogen, und die Bögen gespannt. Galin rannte voraus, seine Stiefel schlugen gewaltig auf den feuchten Boden des Waldes auf, wodurch das Reh rasch das Weite suchte, und Astauge’s Schuss ebenfalls ins Leere geriet. „Rache ist süß.“, betonte Galin mit einem Lächeln. „Du mieser…“, begann Astauge, und beide kurvten um die Wurzeln und Äste des Waldes, um ihre Beute zu bekommen. Die Bäume wurden weniger, und das Sichtfeld größer, und so konnten beide sehen, wie das Tier im hohen Gras einer naheliegenden Wiese verschwand. Die Gräser waren nass, und so konnte man beobachten, wie in der Ferne durch das Durchstreifen des Rehs Tropfen und Grashalme in die Höhe schossen.

„So leicht gebe ich nicht nach.“, flüsterte Galin, und mit einem Satz hüpfte er auf einen naheliegenden Baumstamm. Gekonnt griff er nach immer höheren Zweigen und Ästen, bis er die Wiese komplett überblicken konnte. Mit geschärften Augen fand er das Reh, es hüpfte panisch umher, um einen Ausweg aus dieser grünen Hölle zu finden. Galin machte den Bogen bereit, und die Spitze des Pfeils peilte den Kopf des Tieres an, doch dann zersprang das Geschoss des Thronfolgers wie durch ein Wunder, während er es in seiner Hand hielt. Er schaute um sich, und unten stand Astauge, der seinen Bogen in Richtung Galin hielt. Er hatte auf den Pfeil geschossen, damit Galin das Reh nicht treffen konnte. „Anfänger.“, spottete Astauge. „Achte immer auf deine Umgebung, auch wenn du ein Ziel anvisierst.“

Das Tier drohte nun, komplett in den Weiten der Gräser zu verschwinden. Die Beiden machten sich auf, die Wiese zu durchstreifen. Wenn Galin und Astauge eine Sache gemeinsam hatten, dann, dass sie nie nachgeben wollten, egal, in welche Weiten das Ziel auch geraten mochte. Sie waren gänzlich umgeben von Gräsern und Halmen, sodass sie nur noch ihre Arme und ihre gespannten Bögen sehen konnten. Der Regen war lautlos geworden, als hätte Galin sich an seinen Klang gewöhnt. Leise trat er voran. Astauge und Galin hatten sich bereits verloren, einerseits aus dem Sichtfeld, andererseits aus den Köpfen. Alles, woran sie dachten, war das Tier, als würden sie verhungern, wenn sie es nicht finden würden. In geduckter Haltung überquerten sie das ganze Meer an Sträuchern, bis sie auf der anderen Seite wieder herauskamen. Galin drückte die letzten Halme mit seinem Unterarm zur Seite, um aus dem grünen Meer zu entkommen.
Endlich hatte er wieder freie Sicht. Vor ihm war eine abgeflachte Strecke, die vor Bäumen nur so strotze, von Eichen über Buchen, bis hin zu kleinen Büschen und Farnen, deren Wurzeln sich über die bemooste Erde des Waldes erstreckten. Am Ende dieser Fläche schien es steil Bergab zu gehen, eine Klippe schien sich dort zu befinden. Galin begutachtete seine Umgebung genau, doch das Reh war nicht zu sehen. Eichhörnchen kletterten an den Bäumen entlang, und Vögel sangen ihre Lieder, doch Galin interessierte sich nur für dieses eine Tier.
Seine Augen wichen über jeden Fleck dieses Ortes, doch ein Geräusch brachte ihn aus der Ruhe: Neben ihm raschelte es, und Astauge stolperte durch das Grün. Beide erschraken sofort, und sie zielten mit den Bögen auf sich. „Nimm den Bogen runter, ich bin’s, verdammt nochmal!“, schrie Astauge. „Das gleiche kann ich auch zu dir sagen.“, erwiderte Galin prompt. „Irgendwo hier muss es doch sein, das Vieh.“, flüsterte der Thronfolger daraufhin, kurz nachdem sich Astauge beschwerte: „Ja, genau, geh einfach weiter, anstatt einem alten Mann wieder auf die Beine zu helfen.“

Astauge rappelte sich auf, und Galin ging schleichend, mit der Sehne des Bogens im Ansatz, weiter auf die Klippe zu. Und umso näher er kam, umso größer war der Anblick von dem, was sich dort hinter verbarg. „Das glaube ich ja wohl nicht.“, stöhnte er. „Sieh dir das an, Astauge!“, rief er, und sofort eilte er zu Galin an den Abgrund. Bis zu den Wurzeln zerstückelte, gefällte und umgeknickte Bäume waren unten im Tal zu sehen, in einer geraden Linie durch den ganzen Wald, der sich abwärts erstreckte. „Was in aller Welt hat hier gewütet?“, fragte Galin sich selbst murmelnd. Er suchte eine Stelle am Rande des Abgrunds, an der er ins Tal gelangen konnte. An der Wurzel eines Baumes, der an der Klippe stand, hangelte er sich hinunter, um sich die Verwüstung genauer anzusehen.

Es sah aus, als hätte jemand (oder etwas) den Wald niedergemäht, um dort eine neue Straße zu errichten. Zwischen dem zerborstenen Gehölz ragten Wurzeln und Rinden der zerstörten Bäume hervor. Bei genauerer Betrachtung erkannte Galin totes Getier, welches von der Wucht des Aufpralls der nun toten Baumstämme getötet wurde.

Auch Astauge quälte sich herunter. „Das waren sicher diese stinkenden Büffelwildschweine. Die haben schon mal einen Wald auf den Kopf gestellt, da war ich noch jünger als du. Während ihrer Paarungszeit scheinen sie komplett durchzudrehen. Ist sicher nichts weiter Bedeutendes.“, erzählte Astauge. Galin folgte der Schneise durch den Wald, und er kam an einen Punkt, an dem er Fußspuren zu sehen bekam: Riesige, runde Einkerbungen, doppelt so groß wie Galins Torso, waren in den Waldboden gebohrt.
„Ah, siehst du, Galin. Genau solche riesigen Abdrücke hinterlassen diese Schweine. Kein Grund zur Sorge, mein Freund.“, erwähnte Astauge, und er überredete Galin, umzukehren, um zu der Hütte zurückzukehren, damit der Kutscher nicht lang warten musste, sie haben sicher eine Meile zurückgelegt, auf ihrer Hetzjagd. „Etwas in diesem Ausmaße habe ich noch nie gesehen.“, betonte Galin, als er ihm von der Klippe hoch half. Er drehte Astauge den Rücken zu, und ging auf die Wiese zu, doch dann hörte er einen Pfeil, der von einem gespannten Bogen abgefeuert wurde. „Hah!“, schrie Astauge, und auf Galins rechten sackte ein Reh zusammen, aus dessen Kopf ein Pfeil ragte. „Gewonnen.“, sagte Astauge stolz. „Hinter diesem Dornenstrauch hat sich das Vieh versteckt.“

Auf der ganzen Fahrt zurück nach Gromburg dachte Galin an nichts anderes als das Chaos im Wald. Der Regen schlug auf die Leonardsbrücke auf, als wären es Pfeile gewesen. Auf dem Wasser unter ihnen drehten Segler mit ihren Booten ihre Runden. Egal bei welchem Wetter, die nordischen Fischer waren nicht unterzukriegen.

„Wollen wir das Reh heute Abend bei dem Essen mit den Kandidaten verspeisen?“, fragte Astauge Galin, der beinahe völlig in seinen Träumen versank. „Ähm, nein, heute Abend gibt es Truthahn mit Suppe.“, antwortete er. Als sie bei dem Palast ankamen, wurden sie direkt von Knappen und Knechten empfangen, die sie für den Abend fertig machen wollten. Diesen Teil wollte Galin am liebsten überspringen. Er fühlte sich zwischen all diesen Schminkutensilien, Kleidern und Spiegeln wie eine Puppe, die von einem kleinen Mädchen angekleidet wurde. Als er letztendlich fertig war (nach einer Stunde), kamen schon die Köche und Ober, die das Menü des Abends präsentierten. Ein nicken von Galin reichte, und die nächsten Leute kamen, und fragten und erzählten und zeigten, was sie für den Abend vorbereitet hatten. Letztendlich konnte es Galin nicht weniger interessieren, weswegen er auch kaum zuhörte, und den Leuten blind seinen Segen gab, egal, was sie ihm präsentierten. Sie hätten Gift in das Essen mischen können, Galin hätte mit einem falschen Lächeln genickt. Schließlich haben alle erzählt, was sie erzählen wollten, und Galin wurde in den Raum geführt, indem dieses Treffen stattfinden sollte.

Es war ein Speisesaal am Ende des Südflügels, durch dessen Fenster man die gesamte Stadt überblicken konnte. Der Regen wurde weniger, und der Nachthimmel wurde sichtbar. Die Speisen wurden in den Raum gefahren, und Astauge trat herein. Er lehnte sich an ein Fenster, und vergrub sich in ein Buch. „Eure Hoheit, die ersten Kandidaten sind angekommen.“, erzählte ein Diener. „Lasst sie herein.“, antwortete Galin.
Hegga Dornwelth und Dorren Weißstein waren die Ersten, die die Ehre hatten. „Setzt euch.“, sagte Galin, und nach ein paar formalen Höflichkeiten kamen sie direkt auf den Punkt: „Daheim in Hainmark gehöre ich zu den einflussreichsten Architekten. Der Eichenturm, der seit bereits drei Jahren das Stadtbild Hainmarks verschönert, wurde komplett von mir geplant, errichtet und eröffnet. Als ich gehört habe, dass die Blaublütenmonate ausgerufen wurden, musste ich die Chance ergreifen. Durch meine Initiative und mein Wissen über das Bauen von Gebäuden könnte ich auch das Stadtbild Gromburgs verbessern.“, erklärte Dorren, während er seinen glänzenden Kinnbart streichelte. „Dorren, ich muss sagen, ihre Ideen gefallen mir. Und 29 von 30 Punkten, das ist beachtlich. Ich sehe große Chancen in euch.“, sagte Galin beeindruckt. „Hegga, hast du noch etwas zu sagen?“

„Ich…“, begann sie, doch sie wurde sofort von Dorren unterbrochen: „Ich habe bereits Baupläne für die Stadt erstellt. Hier, am Ostufer, könnte man die Promenade weiter ausbauen.“
Dorren rollte eine Karte auf dem Tisch aus. „Dort könnte man mehrere Bootstege auf einmal anbauen, und den Hafen erweitern. Somit hätte man im Westviertel mehr Platz für Wohnsiedlungen und Notunterkünfte für Obdachlose.“
„Das sieht gut aus.“, antwortete Galin. „Jedoch sollten wir mehr ins Detail gehen, wenn der Sieger feststeht. Noch kann ich nichts dazu sagen.“
Dorren atmete aus. „Ihr versteht nicht ganz.“, begann er. „Diese Pläne haben viel Zeit in Anspruch genommen. Ich habe nächtelang das Stadtbild Gromburgs Analysiert und Studiert. Wisst ihr, mir liegt es doch nun sehr am Herzen, diese Pläne in die Wirklichkeit umzusetzen. Und vielleicht könnt ihr mir einen… Vorteil verschaffen.“
Dorren schob einen Stapel Scheine auf den Tisch. „Und das ist nur der Anfang. Ihr wisst gar nicht, wie viel Gewinn bei dem Bau herausspringen kann, eure Hoheit.“
Galin lachte. „Ihr wollt mich, den Thronfolger, bestechen? Mit einem kleinen Stapel an Scheinen? Ich weiß, wie ihr euch einen Vorteil verschaffen könnt. Und zwar, indem ihr jetzt besser rausgeht.“

Als nächstes waren Lera und Raivyn an der Reihe. Sie schienen gemerkt zu haben, mit welcher Wut Dorren den Saal verließ, weshalb sie umso nervöser wirkten. Galin kannte den Knaben noch, er blieb ihm im Gedächtnis. Das erste, was er Galin fragte, war, wie es sich anfühlte, Gremgol, den Ranghulkönig zu töten.

Lera ging als erstes in die Offensive. Sie redete viel, versuchte, Raivyn zu animieren. Sie sprach über sich und über ihr Verhältnis mit ihm, aber irgendetwas stimmte mit Raivyn nicht. Es sah aus, als würde er etwas verheimlichen. Er wirkte gar beleidigt, nachdem Lera seine Hand nehmen wollte. Das war nicht der Raivyn, den er kennengelernt hatte. Zwischen den beiden herrschte ein Streit, und sie versuchte es zu überspielen, und als Galin feststellte, dass Raivyns Stimmung nicht lockerer wurde, verabschiedete Galin sich von den zweien. „Gut, ich hoffe, es hat euch geschmeckt. Ihr dürft jetzt aufstehen, und die nächsten hereinbitten“, sagte er, und Lera und Raivyn erhoben sich von ihren Stühlen und verließen den Saal.

Die Türen öffneten sich erneut, und herein kamen Torbin Calish und Elsa Dittham. Seine Struppelhaare waren geölt und lagen fest auf seinem Kopf. Seine Augen rollten durch den gesamten Raum. Zitternd schaute er herüber zu seiner Gattin. Elsa, die einen Kopf größer war, versuchte, entspannter zu bleiben. Ruhig atmete sie tief ein- und aus. Torbin nahm ihren Stuhl, und wollte ihr helfen, sich mit dem langen Kleid hinzusetzen. „Danke, ich schaffe das allein.“, sagte sie zu ihm, ohne ihn anzuschauen.

Nach einer erneuten Vorstellungsrunde begannen sie, zu essen. Torbin wollte ihr etwas Suppe auffüllen. „Danke, Torbin, das schaffe ich schon.“, schnauzte sie ihn an, und nahm die Schüssel in ihre Hand. Erneut wurde er von ihr zur Seite gewichen. Für eine Weile beobachtete Galin das Geschehen. Torbin war ein noch unbeschriebenes Blatt. Er versuchte, sein Bestes in Sachen Benehmen und Anstand zu geben, ihm fehlten aber noch die Erfahrungen, die ein König brauchte. Elsa war in der Hinsicht ein gänzlich anderer Mensch. Sie wusste, was sie wollte, und sie scheute nicht, es zu sagen. Sie hatte dieses Feuer, welches eine Königin brauchte. Jedoch müsste sie in gewissen Situationen ihre Zunge zügeln, denn eine Königin kann sich mit Worten mehr Feinde machen als man denken mochte. „Ich… Würde auf jeden Fall, äh, versuchen, den Leuten mehr… Möglichkeiten zu bieten… An, äh, Nahrung heranzukommen.“, stotterte Torbin. Elsa versuchte so oft wie möglich eigene Worte zu finden, sie ertrug sein abgehacktes und stotterndes Gemurmel nicht.
„Im Mittelpunkt sollte des Weiteren stehen, die Bildungschancen für das Volk zu erhöhen. Kinder sollten nicht ohne die Gelegenheit aufwachsen, selbst Brot zu backen oder Schwerter zu schmieden zu können. Wenn wir in diesem Bereich die Infrastruktur der Stadt stärken könnten, würde dies zur Folge haben, dass die Armut und der Hunger zurückgehen würden.“, erweiterte Elsa, und Torbin fügte ein schlichtes „Genau.“ am Ende des Satzes hinzu. Torbin war nicht der Redegewandteste, fiel Galin auf, doch in ihm ruhte die Güte. Torbin war ein guter Mensch, und wenn man aus ihm die Ideale eines Königs heraus kitzeln könnte, sah Galin ihn sehr weit vorn. Das einzige, woran sie arbeiten mussten, war die Chemie zwischen ihnen. Sie schienen sich noch nicht gut zu verstehen, vielleicht sollten sie sich einfach besser kennenlernen. „Ich danke euch für euer Kommen.“, sagte Galin. „Ihr könnt die nächsten hereinbitten. Torbin stand auf, und wollte Elsa aufhelfen, doch diese ignorierte die Hand ihres Gatten, und ging voraus.

Die letzten Kandidaten, Harry Pippkins und Lisbeth von Tondmac, waren nun an der Reihe. Wie es aussah, waren sie ein eingespieltes Team. Jede Geste und jedes Gespräch wirkten auswendig gelernt, und vorgetäuscht. „Darf ich dir eine Schüssel Suppe anbieten, liebste Lis?“
„Gerne, Liebster.“
Und dieses Getue zog sich durch den ganzen Abend. Es war schön anzusehen, wie sehr sie sich in ihre Rollen reinhängten, dachte Galin, aber er kam sich vor wie bei einem Theaterstück. Worte flossen aus ihren Mündern, sie schauten sich in ihre Augen, aber Galin wusste, es war alles bloß ein Schauspiel. „Gut, es reicht, ihr dürft jetzt anfangen, zu essen.“, unterbrach Galin das Umherwerfen von Komplimenten. Harry und Lisbeth wirkten, als wären sie völlig aus dem Konzept gekommen.
Still löffelten sie nun ihre Suppen. Als sie fertig waren, schoben sie ihre Schüsseln nach hinten, und es sah aus, als ob sie gleich wieder anfangen wollten, ihr Drehbuch aufzusagen, doch Galin sagte: „Ich habe ein Frage an euch: Was meint ihr, warum ihr ein gutes Königspaar für Gromburg und ganz Fartaris darstellen würdet?“

Totenstille herrschte. Doch dann setzte Harry ein kaltes Lächeln auf, und verriet: „Weil ich vielen etwas voraus habe. Ich kalkuliere, und denke an die Zukunft. Ich versuche mir, durch alles Mögliche, einen Vorteil zu verschaffen, selbst durch meine Feinde und Konkurrenten. Nehmen wir zum Beispiel Dorren Weißstein aus Hainmark. Oft schwafelt er von seinen Talenten in der Architektur, und von seinem Fleiß, aber im gemeinen Fußvolk Hainmarks ist seit längerem bekannt, dass er unterbezahlte Leiharbeiter und Tagelöhner benutzt, um so viele Häuser wie möglich zu errichten, und dass er Steuergelder hinterzieht, um so seinen Konzern noch größer darstellen zu lassen. Ich leite vielleicht noch keinen Konzern, ich weiß nicht, wie man Gebäude errichtet, aber ich habe Ahnung von vielen Dingen, die geheim bleiben sollten.
Andererseits haben wir Lera Harve, und ihren Gatten, Raivyn von Shireheard. Wodurch sind die Harves nochmal so urplötzlich reich geworden?
Sie haben etwas geerbt. Ich habe meine Leute nach Grefel geschickt, dorthin, wo sie angeblich herkommen, und dort in den Unterlagen und Urkunden konnten wir Zwei Personen entdecken, die diesen Namen trugen: ‚Bertham Greysley Harve‘ und ‚Leesa Hermon-Harve‘, ein Ehepaar, welches seit über Zehn Jahren Tot ist. Der Vater von Lera soll der einzige Sohn des Paares sein, und hat das ganze Geld geerbt, so heißt es. Jedoch wurde nirgendwo auch nur ein Mal ein Erbe oder gar ein Kind erwähnt, schon gar nichts über vererbtes Geld oder desgleichen. Und wenn man sich genauer mit der Historie der Harves auseinandersetzt, handelte es sich um einen relativ isolierten Familienbetrieb im Schmiedegeschäft, welches aber schon seit längerer Zeit bankrott gegangen ist. Wo also hätte das geerbte Geld herkommen können? Und mal ehrlich: Haben sie schon mal etwas von einer ‚Schmiederei Harve‘ gehört? Ich nicht. Also, wenn sie mich fragen, Thronfolger von Thré, dann rieche ich da einen ganz großen Betrug. Von Torbin Calish brauche ich, denke ich, gar nicht erst anfangen. So eine zarte, unerfahrene Seele. Ein Wunder, dass dieses kleine Kind nicht mehr an der Brust nuckelt.“
Galin war überrascht, schon gar erschrocken, was für eine Menge an Worten gerade über ihn niederprasselte. „Zu allererst…“, begann Galin, „finde ich es unerhört, dass du einfach in das Privatleben anderer Personen eintrittst und dich an ihren Privaten Urkunden bereicherst. Das ist ein Verbrechen, und ich könnte dich dafür bestrafen. Außerdem, woher willst du wissen, dass deine qualifizierten Spione wirklich alles über die Familien herausfinden konnten? Bist du wirklich sicher, dass sie jedes einzige Dokument durchsuchen konnten? Dass sie jede Zahl und jede Abrechnung finden konnten? Nein, ich denke nicht, und wenn ich das so höre, dass ein vorlauter Knabe wie du es bist, denkt, dass er alles über jeden weiß, und dass er mit ein paar Wochen Recherche meint, er sei jedem überlegen, dann tut es mir leid, aber damit hast du dich ziemlich ins Aus katapultiert. Und, ach ja, woher soll ich wissen, dass du eben nicht jedes einzelne Wort erfunden und erlogen hast? Ich sehe keine Beweise.“

Aus Harrys kaltem lächeln wurde tobende Wut. Er warf seinen Stuhl förmlich nach hinten, riss die Türen auf, und stampfte durch den gesamten Flügel. „Entschuldigt uns.“, sagte Lisbeth peinlich berührt, und eilte ihrem Mann hinterher.
Betrüger bei den Blaublütenmonaten? So etwas hatte Galin noch nie gehört. Außerdem wurde jeder Teilnehmer genau begutachtet, und das geerbte Geld war vorhanden. Galin bewertete diese Aktion als nichts weiteres, als einen zwanghaften Versuch, sich einen Vorteil verschaffen zu wollen. Letztendlich konnte er nur darüber lachen.

Wie froh er doch war, dass dieses „Kennenlernen“ endlich vorbei war. Er hatte es langsam satt, sich diese ausgedachten Texte und Komplimente anzuhören. Nicht nur das, es wurden auch andere Kandidaten schlecht geredet und hinterfragt.
Er riss die Kleider von sich, wusch die Farbe aus seinem Gesicht, und kehrte zurück zu seiner Frau in die Gemächer. Ein Abschiedsgruß an Astauge, und die Tür klappte zu. „Wie war es?“, fragte Vele. „Hat das Essen geschmeckt?“

„Glaub mir, das Essen war das einzig wirklich gute an diesem Abend.“, antwortete er ernüchternd. „Oh, in Ordnung?“, antwortete Vele überrascht. „Kommst du ins Bett?“
„Nein.“, sagte Galin. „Ich brauche noch ein wenig frische Luft.“, und er ging auf den Balkon. Jedoch hatte er nicht vor, dort stehen zu bleiben. Er zog sich eine Lederjacke über, und kletterte auf die Balustrade. Nach einem Balanceakt sprang er auf eines der Vordächer, und lief über die Häuser Gromburgs. Er liebte es, dort oben herum zu hüpfen. Es versetzte ihn zurück in seine Kindheit. Bevor er zum Thronfolger gewählt wurde, war dies eine Art Ersatzspielplatz. Er entfernte sich immer weiter von den Nobelvierteln, und es verschlug ihn immer weiter in die ärmeren Gegenden der Stadt. Er fand ein gemütliches Plätzchen über einer stillgelegten Gaststätte, und er betrachtete die Straßen, auf denen zu dieser Stunde nur noch wenige Leute umhergingen. Obdachlose, Nachtwächter, und Huren waren anzutreffen. Plötzlich kam ein breit gebauter Mann aus einer Seitengasse. Er stach aus der Masse heraus. Er trug nicht diese üblichen Lumpen. Er wickelte seine Schultern in einen roten Mantel, und er hielt eine rote Brieftasche in seiner Hand. Sie war verziert mit goldenen Linien, und auf ihr stach das Wappen Gromburgs heraus. Unter dem Gürtel des schummrigen Mannes schimmerte ein blutverschmiertes Messer hervor.
Der Mann holte einen Schein aus der Brieftasche, und drückte ihn einer Prostituierten in die Hand. Gemeinsam verschwanden sie in eines der Häuser, und Galin lief eine Träne an der Wange hinunter.

Benutzeravatar
El Granto
standhafter Schreiberling
standhafter Schreiberling
Beiträge: 32
Registriert: Sa 18. Jan 2014, 11:45

Re: [EX16]Die Legende von Ogon (High Fantasy/ Sword and Sorc

Beitrag von El Granto »

-7-

Schwindelerregende Höhen

Aahon, auch „Stadt der Lüfte“ oder „Tor zum Himmel“ genannt, galt als einer der größten industriellen Schwerpunkte Fartaris‘. Fernab von den Gewässern und den Ackern und Feldern war das Gebiet um diese Stadt sehr schroff, steinig und galt als unfruchtbar. Aus diesem Grund ließen sich dort viele Fabriken und Firmen nieder, für die es noch zu wenig Platz in den bereits erbauten Städten gab.
Außerdem waren Fabriken in den meisten Teilen des Landes unerwünscht, da man sie beschuldigte, die Luft zu verpesten und die Ernte zu vergiften. So war die wüste Landschaft für diese Stadt perfekt. Es zog Dutzende Handwerker, Bauarbeiter, Schmiede, Ingenieure und Architekten an diesen Ort, und schon bald auch die einflussreichsten Erfinder aus ganz Fartaris. Die Eisenbahnen, die in ganz Throndamm ihren Durchbruch erlebten, wurden von Visionären aus Aahon perfektioniert. Durch den Einsatz von kurzen Stromschlägen, die Wagons auf Strahlenförmigen Schienen bewegen konnten, wurde die Dampflokomotive abgelöst, und die Strahlenbahnen entstanden. Die Strahlenbahnen waren leiser, nur ein ruhiges Summen war bemerkbar.
Diese Strahlenbahnen befanden sich jedoch noch in ihrer Anfangsphase und waren noch bei weitem nicht tauglich für ein ganzes Land. Es gab nur wenige Strecken, und wenn, waren sie nur für zwei Reiseziele bestimmt. Eine weitere innovative Neuheit waren die Luftschiffe. Riesige, ovale Ballons aus Stoff, Leinen und Leder, mit Holz und Eisengittern verkleidet, an denen Schiffe ohne Segel hingen. Geplant waren hierzu riesige Flughäfen, die wie Türme in die Höhe ragten, verteilt über das ganze Land. Aahon war im Besitz von solch einem Flughafen. Er befand sich am westlichen äußeren Rand der Stadt, am Hang eines steilen Hügels, geformt aus Gittern und riesigen grauen Stahlträgern, wie ein massives Netz, das den Berg umhüllte.
Doch auch die Landwirtschaft wurde angekurbelt, und das Erstellen von künstlichen Plantagen auf weiten, steinernen Ebenen vereinfachte das Leben in dieser Region um einiges.

Das Licht wurde wärmer, heller und vor allem blendender, und nach einem weiteren Sprung durch das Tor fand sich Ogon nach einem dumpfen Aufprallen auf einem kalten Stahlboden wieder.
Eine feuchte Platte war es, auf der er gelandet war. Als er seinen Kopf erhob, merkte er, dass das warme Licht von einer Deckenlampe ausging, die an einem feinen Draht von der Decke baumelte. Er war nun in einem länglichen Korridor. Es gab keine Fenster, es war dunkel wie die Nacht, nur die Lampe spendete Licht. Hinter ihm war ein Spiegel. Dieser diente als Portal, wie Ogon bemerkte. Wahrscheinlich ein geheimer Zugangsraum, um in die Spiegelwelt zu gelangen, dachte der Riese. Als er wieder auf den Beinen stand, und sein Gleichgewichtssinn wieder in vollem Gange war, entfernte er sich mit großen Schritten und in geduckter Haltung (Der Flur war zu klein für ihn) von dem Lichtkegel. Seine Füße stampften auf dem stählernen Plattenboden. Er näherte sich einer schmalen, löchrigen Holztür, und umso näher er ihr kam, umso lauter wurde eine wirre Mischung aus verschiedenen Geräuschen. Ein Zischen, ein Rauschen, und wirres Summen.
Langsam griff Ogon zu dem Türknauf, und kauernd öffnete er die Tür. Sonnenlicht, von Stahlträgern reflektiert, blendete ihn. Wassertropfen, die sich auf stählernen Balustraden befanden, schienen ihm entgegen. Rauch stieg auf, zwischen verchromten Röhren und großen Kabelgewölben, die kaum für Ogon definierbar waren. Er fühlte sich, als befand er sich in einem kantigen, nassen und mechanischen Alptraum, dessen Luft man nur schwer atmen konnte. Ogon fiel das Atmen schwer, denn die Luft war nicht wie die frische, die er in dem Wald eingeatmet hatte.
Sie war hart und sie kratzte in den Lungenflügeln. Als der Riese sich weiter umsah, erblickte er zwischen einem Luftschacht und dutzenden von Schornsteinen, von denen Rohre ausgingen, die sich über dem gesamten Komplex verteilten, viele Brücken, die sich unter seinem Stockwerk befanden (Er kam aus einem ‚Abstellraum‘ aus dem obersten Stockwerk, wie er bemerkte), und die überfüllt waren, von lauter kleiner Punkten, die sich wirr aneinanderreihend davon bewegten. Schließlich, als der Riese genauer hinsah, fiel ihm auf, dass es sich dabei um Menschen handelte, weit unter ihm, die wahrscheinlich auf dem Weg zu ihren Strahlenbahnen waren, oder auf ihr Luftschiff warteten. Er verfolgte die Menschenmassen mit seinen Augen. Sie bewegten sich hektisch, manche rannten im zick-zack, andere drängelten sich dreist mit Ellbogen und Schimpftiraden vor, andere schlängelten sich langsam empor. Als Gesamtbild ergab die Menschenmasse ein Muster, welches aussah, als ob die Passanten wie Blut über die Brücken, die ihm wie Adern vorkamen, flossen. Die Leute wirkten jedoch nicht lebendig, sie sahen kalt und tot aus, als wären sie leere Hüllen gewesen, deren einziges Ziel war, Befehle entgegenzunehmen, und zu Arbeiten. Sie hetzten ohne jede Pause umher, als hätten sie nicht einmal mehr geatmet. Ihre Blicke flogen umher, ihre Augen fixierten sich nie.
Es schien, als sahen sie nur die Hindernisse vor sich, und in ihren Köpfen hätte bloß eine dampfende Maschine ratternd an einer Möglichkeit getüftelt, wie sie möglichst schnell und ohne an andere Menschen denkend an diesem Problem vorbei kämen. Nichts und niemand hätte diese Hüllen stoppen können, sie hätten einen einfach ignoriert, und hätten sich an einem vorbeigedrängelt. Höchstens einen wütenden und verwirrten Blick hätte man von den unmenschlichen Menschen erhaschen können, doch stehen geblieben wären sie nie. Einige begutachteten ihre Taschenuhr, andere studierten ihre Flugpässe und Fahrkarten, aber sie waren ständig in Bewegung. Wenn sie auf etwas warteten, hielten ihre Füße niemals still, und ihre Köpfe bewegten sich von einer Infotafel zur nächsten.

Eine Träne lief Ogon über die Wange. Sie kullerte bis zu seinem Kinn, dann fiel sie runter, und traf auf eine Eisenstange, die die Brücken an dem riesigen Berg befestigten. Der Riese vermisste den Wald, und dessen heitere Bewohner. Er wollte zurück, zu dem klaren Wasser, und zu den übermoosten Felsen und Wurzeln. Und vor allem wollte er zu Egrin.
Doch plötzlich riss ihn ein lautes Geräusch aus seinen Träumen. Es klang in Ogons Ohren fast wie ein helles Donnergrollen. Es war eines der Luftschiffe. Es hupte, als es von dem Steg aus in die Lüfte glitt. Er sah das Luftschiff, das vom Hafen aus abhob, und wie es majestätisch an Höhe gewann. Es sah von unten aus wie ein normales Schiff, mit Bug und Heck, aber wenn man dieser Erfindung genauere Aufmerksamkeit schenkte, sah man die mechanische Verkleidung, die dieses Fortbewegungsmittel hatte. Kessel und Motoren befanden sich an der Hinterseite des Schiffes. Sie stießen Dampf und Rauch aus.
Oberhalb dieses Motorenkomplexes waren Seile, die von Ogon aus aussahen, wie dünne Fäden. Sie verbanden das Luftschiff mit dem riesigen, glänzenden Ballon, der das gesamte Machwerk erst in die Lüfte stiegen ließ.
Es war nicht zu leugnen, dass dieser Anblick in dem Riesen die Abenteuerlust erweckt hat. Er verfolgte mit seinen nun scharfen Blicken die Strecke, die das Schiff bereits zurückgelegt hat, und schließlich gelangte er mit seinen wachsamen Augen an einen Bootssteg, welches starr in der Luft stand, und von dem aus die Passagiere in das Fortbewegungsmittel gelangen konnten.
Nun sah er eine Art Treppengehäuse, von dem aus man von den Brücken zu den Stegen kam.

Ogon dachte nicht lang nach. Mit schnellem Schritt machte er sich auf, geriet von Gang zu Gang, um schließlich die Brücken zu erreichen. Dort schien es, als würden Zwerge sich um ihn wälzen, oder als wäre er ein großer Stein gewesen, der aus dem Wasser der Menschenmenge ragte. Kurze, entsetzte und erschrockene Blicke erhaschte er aus der Menge. Ihre Gesichter waren von Überraschung gezeichnet. Niemand rechnete mit einem Riesen, das sah man, und für einige Sekunden wirkte es, als ob die seelenlosen Hüllen für Sekundenbruchteile wieder lebendig, menschlich wurden, und sich zutiefst erschraken. Nichtsdestotrotz kriegten die meisten sich wieder ein, und gingen ihre gewohnten Wege.

Alle drängelten, so musste auch Ogon drängeln und sich durch den fließenden Strom quetschen, um an das Tor zu kommen, welches ihn zu dem Bootssteg führte. Kaum angekommen, musste er sich nun durch ein enges Treppengewölbe zwängen, welches wahrlich bloß für Menschengröße gedacht war; Er stieß sich beinah bei jeder Stufe den Kopf an der Decke, weshalb er wie eine Ratte, auf allen Vieren, durch diesen engen Schacht musste. Doch als die letzte Stufe erreicht war, und er seinen Rücken wieder geradebiegen konnte, hatte er wieder freien Blick zum Himmel, wohin das Auge reichte (Und die Luft war auch besser).

Kaum sah er sich um, erblickte der Riese eine Schlange von Menschen. Sie reihten sich dort ein, um eine Flugkarte zu bekommen. Nichtsahnend reihte er sich mit ein, er wollte ja schließlich mit einem Schiff nach Gromburg. Vor ihm waren Vier kleine Wichte, entweder waren es Kinder oder kleinwüchsige, dick eingewickelt in schwarze Mäntel.
Als Ogon dort stand, und wartete, kam er sich vor, als wäre er auf einem belebten Marktplatz gewesen. Alle grölten, weil niemand auch nur ansatzweise sein eigenes Wort verstand, da alle durcheinander und scheinbar mit jedem redete, überall wurde gestritten, gezankt und geprügelt, um die besseren Plätze in der Warteschlange zu ergattern. Hier und dort wurden Fahrkarten gestohlen, und der Kampf um die Tickets brach los, und an den anderen Ecken pöbelten Leute lautstark vor sich hin, weil sie die falschen Karten zugeteilt bekamen.
Die Meute war so sehr damit beschäftigt, sich aufzuregen, dass die Leute beinahe ihre Schiffe verpassten, oder die Tatsache, dass sie nun am Schalter angelangt waren.
Nach einer langen (und schrecklichen) Ewigkeit schien die kleine Gruppe vor Ogon nun an der Reihe zu sein.

„Fünf Karten für Gromburg, Bitte.“, piepste eine leise, kaum hörbare Stimme, sodass sich die Dame am Schalter vorbeugen musste, um bei dem Lärm überhaupt etwas hören zu können.
Anschließend legte eine kleine Hand ein paar Groschen auf das Brett vor dem Schalter.
„Oh, nein.“, sagte die Dame. „Das reicht nicht. Damit könnte nicht mal einer von euch seinen Arsch auf das Luftschiff kriegen.“
Die kleinen berieten sich eng aneinandergeschmiegt. Nach einigen Sekunden des Tuschelns und Flüsterns nahmen sie ihr Geld wieder, und verschwanden. Nun konnte Ogon mit der Frau sprechen.

„Ich hätte gerne einen Flugschein für Gromburg“, sagte er, und legte Geld auf das Brett.
„Gerne.“, antwortete die Dame, nachdem sie das Geld ausgiebig gezählt hat. Sie drückte den Knopf, über dem „Gromburg“ stand, auf der Maschine, die eigentlich eine Karte spenden sollte, doch es kam keine. Sie drückte erneut, doch keine Karte fiel aus dem kleinen Schacht. Schließlich öffnete sie den Kasten, und wie es aussah, befanden sich keine mehr in der Maschine.
„Tut mir leid, großer. Gromburg ist ausverkauft. Du musst auf den nächsten Flug warten.“
„Und wann ist dieser?“, fragte Ogon.
„In ungefähr 3 Stunden.“

Enttäuscht verließ Ogon den Schalter. 3 Stunden warten! Das war es, was der Riese noch benötigte, ausreichend Geduld. Er setzte sich auf eine kleine Bank, sah in den Himmel, und beobachtete abhebende Schiffe. Hinter sich hörte er ein flüstern, kaum hörbar. Als er sich umdrehte, kamen die bekannten vier Männchen in sein Sichtfeld, die kleinen Wesen, gewickelt in dicke Mäntel. Sie berieten sich mit einer fünften Person, einem ausgewachsenen, dünnen Mann mit schwarzem Stoppelbart und muskulösen Armen. Sie trug einen langen Hut, eine schwarze Weste und ein weißes, schmutziges Hemd.
Außerdem breitete sich ein unaufhörliches, gewitztes Grinsen auf seinem Gesicht aus. „Ruhig, Freunde.“, sagte der Mann mit einem leisen Lachen im Unterton. „Glaubt nicht, ich gehe nicht mit einem zweiten Plan auf solch eine Reise.“

Die Gruppe rückte noch enger zusammen, und der Mann begann, kaum hörbar zu tuscheln. Ogon hörte bloß ein Paar Wortschnipsel heraus, und zwar irgendetwas mit „Seilen“ und „Springen“. Seltsam, dachte Ogon.
Die Gruppe bewegte sich fort. Sei verschwanden hinter einer Gasse, zwischen dem Schalter für sie Tickets und einer Wartungshalle für die Schiffe. Die Neugier des Riesen war wieder einmal geweckt, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als den Personen zu folgen, denn das Warten hing ihm jetzt schon zum Halse heraus. Schleichend erreichte er die Ecke, hinter der die kleinen Wichtel und der große Mann verschwanden. Mit einem langen Hals, versuchte er, sie ausfindig zu machen. Er entdeckte sie, sie schlichen hinter Fässern und Kisten umher, direkt auf eine Art Landebahn zu, hinter der es steil Bergab ging.

Und nun wurde Ogon bewusst, was die Personen wollten: Sie gingen direkt auf ein leeres, umherschwirrendes und kleines Luftschiff zu. Der Mann mit dem langen Hut blickte nun behutsam um sich, studierte die Umgebung, um sicher zu sein, dass niemand ihn beobachtete, und Ogon musste geschwind den Kopf einziehen. Als Ogon wieder um die Ecke schaute, holte der Mann aus seiner Tasche, die er auf dem Rücken trug, fünf Bögen, und dazu genügend Pfeile, an denen Seile befestigt waren. Er drückte jedem Einen Pfeil und einen Bogen in die Hand, und dann kletterten sie auf die Balustrade. Der Mann feuerte seinen zuerst ab, und sein Pfeil grub sich in einen der Balken, die das Schiff stabilisierten. Anschließend band er das lose Ende des Seils, welches er nun in der Hand hielt, um seinen Gürtel, und nach einigen Sekunden des Nachdenkens, schwang er wie an einer Liane herüber zu dem Luftschiff, welches immer noch starr in der Luft stand.
Als er das Schiff mit genügend Schwung erreichte, klammerte er sich um ein Metallgerüst, an welchem er sich nach oben hangelte, um schließlich über das Geländer auf das Schiff zu gelangen. Mit einem Handzeichen winkte er die kleinen Männchen zu sich, und so eiferten sie ihm nach, und schossen mit ihren Pfeilen auf das Schiff.

Sie wickelten das Seil um ihre Gürtel, und drei von ihnen schwangen auf das Luftschiff zu. Einer blieb auf der Balustrade stehen. Er tat sich schwer damit, sich fest zu schnallen. Langsam wankte er, bei dem Blick nach unten, als er sah, wie tief es herunter ging, und seine Kameraden forderten ihn auf, sich zu beeilen. Plötzlich stand er bloß noch zitternd da, und als er mit seinen Beinen auf das Geländer stampfte, um erneut festen Halt zu bekommen, rutschte er aus, und stürzte in die Tiefe. Ein lauter Schrei ertönte, und er hallte über die gesamte Plattform.

Ogon zögerte keinen Moment: Er rannte querfeldein zu der Balustrade, hüpfte über Kisten und Fässer, und stürzte sich direkt hinter dem kleinen Wicht hinterher. Und mit einer gewagten Geschwindigkeit griff Ogon mit dem einen Arm nach der Gestalt, und mit dem anderen nach der Kante der Plattform. Mit zitternden, feuchten Fingern gelang es Ogon, sich fest zu klammern. „Sapperlot!“, rief der kleine Mann, und sein Hut und Mantel wurden vom Wind von ihm gefegt, um in die endlose Tiefe unter ihnen zu stürzen. Panisch griff das Wesen mit der anderen Hand nach Ogon, der das kleine Ding nun besser betrachten konnte:

Die Haut war grün, aber nicht wie die, eines Kobolds. Die Arme und Beine waren wie Stummeln, so winzig und mickrig, im Gegensatz zum Rumpf und zum Kopf, die fast geschwollen wirkten. Der Blick war ängstlich, und die Augen so groß, sie schienen, als wären sie kurz davor gewesen, heraus zu fallen. „Ich danke dir vielmals, großer Mann!“, sagte er nun dankbar murmelnd, als er seinen Kopf gegen die Hand der Riesen presste.
„Schon gut, schon gut!“, antwortete Ogon, als es ihm schien, als ob der kleine Mann ihm die Hand küssen wollte. Nachdem der Riese den Gedanken fasste, sich und das Wesen nach oben zu schwingen, hörte er Stimmen aus der Entfernung, und auf dem eisernen Boden polternde Schritte. Ein Blick über die Plattform gab ihm dann Gewissheit über das Geschehen:

Passanten schienen durch Ogons Aktion auf den Fluchtversuch von den Vier Wesen und dem Menschen aufmerksam geworden zu sein, und alarmierten die Wachmänner. „Sofort stehen bleiben!“, riefen sie zielsicher. „Wir müssen verschwinden!“, rief der Mann mit dem langen Hut von dem Deck des Schiffes aus in die Richtung des Riesen.
Und kurz darauf kam Ogon auf eine Idee. „‘Tschuldigung.“, sagte er hektisch zu dem kleinen Wesen. „Entschuldigung? Wofür?“, bekam er verständnislos als Antwort, doch der Riese zögerte nicht lang, und mit einer gigantischen Armbewegung nach oben wurde das grüne Männlein in die Höhe katapultiert. Schreien erfüllte in diesem Schreckmoment die wolkenbedeckten Höhen. Momente später hörte er einen Aufprall, und der Wicht ist purzelnd auf dem Luftschiff seiner Freunde gelandet. Der Riese, immer noch rumhängend, hörte schon das klirren der Schwerter, die rasant aus den Scheiden gezogen wurden, während seine mit Schweiß verschmierten Haare im kalten, zehrenden Winde Aahons wehten.

Was nun? Zumindest konnte er mit seiner nun zweiten freien Hand nach der eisernen Kante des Flughafens greifen. Seine Augen rollten zum Luftschiff, auf dem nun Stille herrschte. Das Auftreten der stahlharten Stiefel der Wachmänner erschütterte die Fläche zunehmend, wie der Riese an seinen zittrigen Händen spürte, und es wurde immer doller, doller, doller.

Nun konnte er mit seinem Gehör sogar die Stimmen erkennen, einige leiser, andere lauter.
Ein wenig enttäuscht war er von den kleinen Wesen, und dem Mann mit dem großen Hut. Er hat einem von ihn das Leben gerettet. Ohne Ogon wäre das Kerlchen in den sicheren Tod gefallen, und wäre mit ungeahnten Geschwindigkeiten immer näher auf diese breite Landschaft zugerast, die von oben wie ein abstraktes Gemälde aussah. Breite, grüne Striche, die Wälder und Wiesen. Runde, teils langgezogene Punkte, die vom blassen, bis ins dunkelgraue reichten, die Berge. Und feine, geschwungene blaue Linien, die Gewässer Aahons. Auch die Wolken passten perfekt in dieses Bildnis. Sie legten sich mit einer sanften Gemütlichkeit wie Decken auf die vermischten Farben, Striche und Punkte.

Ogon war am überlegen, einfach loszulassen. Nicht, weil ihn jeglicher Lebensmut verließ, sondern weil er am Überlegen war, ob er einen solchen Fall überleben könnte. Er dachte selbst, es sei Größenwahn, aber irgendetwas in ihm gab ihm das Gefühl, mächtig zu sein.
„Kommen sie hoch und ergeben sie sich!“, mit diesen Worten wurde er auch schon wieder aus seinen Träumen gerissen. Schwertspitzen zeigten auf seine Stirn, und bevor er sich hochziehen wollte, hörte er hinter sich ein aufforderndes Brüllen:
„Riese! Nimm das Seil!“, und unmittelbar nachdem ein Tau über das Deck geworfen wurde, welches dem Riesen entgegenfiel, sprang Ogon, und klammerte sich an dem Strick fest. „Nichts wie weg hier!“, rief der Mann mit dem Hut, und Rauch stieg aus einigen Schornsteinen des Schiffes hervor.
Der Wind wurde noch stärker und kälter, und in den Ohren des Riesens pfeifte es nur.
Hinter ihm sah er eine nun gewachsene Menge an Menschen, die sich auf der Plattform sammelten. Sie hielten Bögen in der Hand, und erste Pfeile surrten umher, und umgaben ihm wie ein Schwarm Insekten. Er sah sich gezwungen, nun das Schiff zu betreten, und mit wenigen Handgriffen war auch der Kletterakt am Seil bewältigt.

Mit einem Hechtsprung auf dem Deck angekommen, standen nun die fünf in einem Halbkreis um Ogon herum. Der Mann mit dem Hut, der sich in der Mitte befand, hielt einen edlen Degen in der Hand. Zweifelsohne eine schöne Waffe, jedoch ebenso tödlich, als sie auf Ogon gerichtet war. Misstrauen konnte der Riese aus den Blicken der Personen herauslesen. „Weshalb?“, fragte Ogon. „Ihr hättet mich auch einfach dort hängen lassen können.“
Der Mann schaute sich um. „Favill bestand darauf. Er schuldet dir etwas, weil du ihn gerettet hast.“
Seine Miene wurde finsterer. „Mein Name ist Aevish Garrenhorne. Ich schulde dir jedoch gar nichts. Umso unsicherer bin ich, da ein Fremder uns nun begleitet.“
Die Riese blickte zu den kleinen Kreaturen. „Was seid ihr?“, fragte er stets erstaunt. Nun sah er sie in einem ruhigeren Umfeld, und alle entledigten sich ihren dicken Pelzen. Sie wirkten nun noch abstrakter. Oberkörper und Kopf schienen wie verschmolzen, im Grunde sahen sie aus wie Eier, mit dünnen Ärmchen und Beinen. „Was gibt’s zu glotzen?!“, fragte einer dreist. Die Stimme war tief, und das Gesicht kantig, im Gegensatz zu den anderen.

„Bulluck… Das war nicht höflich!“, schimpfte ein weiteres, zierlicheres Wesen. Rote, Gelockte Haare fielen von ihren kleinen Schultern. Es war ein Weibchen. „Du verteidigst ihn auch noch?!“, antwortete Bulluck verwundert. „Hey, immerhin hat er Favill das Leben gerettet!“, erklärte eine stolze, schwungvolle Stimme. „Mein Name ist Mevell.“, sagte er warmherzig, und er schüttelte Ogon die Hand. „Vielen Dank, dass du unseren Freund gerettet hast. Und ich bitte das unangemessene Verhalten meiner Kameraden zu entschuldigen.“
Die Gestalt grinste. Die Schultern waren breit, das Gesicht frisch und Lebendig. Dieser Mevell schien den Anführer dieser Versammlung darzustellen.

„Ich danke dir für diese freundlichen Worte.“, erwiderte der Riese überrascht. „Jedoch stellt sich mir immer noch diese eine Frage: Was seid ihr, oder wo kommt ihr her?“
Dieser Bulluck schaute weiterhin grimmig. „Wir sind Geister! Aus der Geisterwelt!“, rief die weibliche Gestalt, als sie sich vor Ogon hinstellte. „Wir sind Horuxe, um genauer zu sein.“, erklärte Bulluck gedämpft. „Nicht etwa irgendwelche, die nach ihrem Tode sich in die Tiefen der Geisterwelt verziehen. Wir wurden dort geboren, wurden dort aufgezogen. Deshalb ist uns dieser Ort ziemlich fremd.“, und während Bulluck „Fremd“ sagte, schaute er in die Augen des Riesen. „Wenn es euch hier so fremd ist“, fragte Ogon. „Warum verschlug es euch an diesen Ort?“

Bulluck verschränkte die Arme. „Wir wurden verdrängt.“, sagte das Weibchen. „Ich bin übrigens Herell.“
„Dunkle Machenschaften zwangen uns dazu, unseren Lebensraum zu verlassen. Irgendetwas verdorbenes breitete sich ich aus. Irgendetwas… Totes. Es schien, als wenn jemand die Mächte der Geisterwelt an sich riss, um etwas zu erschaffen.“, erzählte Mevell.
„Eventuell eine Armee? Eine Waffe, oder eine Mächtige Kreatur?“, fragte Ogon.
„Wir wissen es nicht.“, antwortete Herell. „Wir wissen nichts darüber. Nur, dass es uns fast das Leben gekostet hat. Wir flüchteten, durch die steinernen Tore im Boden, und wir landeten auf dieser Welt.“

„Steinerne Tore.“, hörte Ogon heraus. Das erinnerte ihn an sein Auftauchen im Weidenwald.
„Und als wir hier waren, begegneten wir ihm.“, Herells Finger zeigte auf den Mann mit dem Langen Hut, der sich an die Balustrade lehnte. „Er fand uns verwundet. Dann nahm er uns mit, und zusammen wollen wir nach Gromburg.
„Und was wollt ihr nun in Gromburg?“, fragte Ogon. „Wir wollen Hilfe holen. Eine Armee zusammenstellen, um diesem Bösen zu zeigen, was eine Harke ist!“, rief Bulluck voller Stolz, während seine Faust durch die Lüfte schwang.
Ogon schmunzelte ein wenig. „Seid ihr euch sicher, dass ihr einfach so in den Thronsaal stapfen könnt, ohne Audienz und Adelstitel, um dann ein kampfbereites Heer zu verlangen?“
„Es ist nicht nur die Geisterwelt, die gefährdet ist.“, sagte der Mann mit dem Hut. „Auch unsere Welt ist bedroht. Stürme ziehen auf, obwohl kein Wind weht. Finstere Wesen töten, und schänden Höfe, ohne Grund. Und das sind keine Einzelfälle, von überall höre ich Klagen und Beschwerden, sogar aus dem Weidenwald.“

Weidenwald, hörte Ogon. „Ich komme aus dem Weidenwald.“, platze Ogon heraus. „Ich habe diese Kreaturen gesehen.“, und unmittelbar nach dieser Erkenntnis, verging Ogon das Schmunzeln. Noch eben hatte er das Reiseziel der Geister als naiv empfunden, doch es wurde ihm klar, dass er sich eigentlich aus genau demselben Grund nach Gromburg begab.
Erst irrte der Riese ziellos durch die weite Welt, doch es wurde ihm klar, dass er zu höherem bestimmt war.

„Ich kann euch helfen.“, flüsterte er. „Bitte?“, fragte Herrell, doch Ogons Gedankengänge wurden durch das Brummen eines Horns unterbrochen. Die Gruppe begab sich auf das obere Deck, von dem aus man die Situation besser betrachten konnte.
Drei Luftschiffe, voll besetzt mit Soldaten der Aahoner Wachtgarde, näherten sich von hinten.
Ogon beobachtete, wie einzelne Krieger über das Schiff eilten. Sie machten sich bereit für eine Kampfandlung. Es ward still für einen Augenblick, und die Horuxe versanken in Hoffnungslosigkeit.

„Wir sind so gut wie tot!“, brüllte Favill verzweifelt, während er seine kleinen Arme über seinem großen Kopf zusammenschlug. „Keine Zeit für Verzweiflung.“, sagte Mevell mit sicherer Stimme. „Geht unter’s Deck, durchsucht die Kisten. In vielen Räumen befindet sich Fracht, vielleicht könnt ihr einige Waffen aufgreifen.“, forderte er anschließend auf.
Mit angebrachter Eile rannten alle in das Schiff, huschten durch jede Kabine, und suchten jeden Winkel nach allen möglichen Hilfsmitteln ab.
Durch die kleinen Fenster konnte Ogon bereits Pfeile erblicken, die an dem Schiff vorbei surrten. Außerdem erklang immer öfter das Horn, welches die Gruppe immer weiter unter Druck setzte.

Der Riese, der Mann mit Hut, und die Horuxe durchforsteten alle Schachteln und Kisten. Auf dem Schiff befanden sich dutzende Decken, Kissen, Weinflaschen, Krüge, und Gerstengesöff. Das einzige, was ihnen ansonsten geblieben war, waren ihre Bögen.
„Also, wenn sich noch jemand vor seinem Tode betrinken will, der hat jetzt die Gelegenheit.“, sagte Bulluck.

Ein Krachen drang in die Ohren der Schiffsdiebe. Die Aahoner Garde beschoss das Gestohlene Luftschiff nun mit härteren Geschossen. Dann erblickte Ogon etwas, was das Geschehnis zu Gunsten seiner neuen Gruppe und ihm verändern könnte: Seine Augen verfolgten die verzierte Spitze des Schiffes, das eine Meerjungfrau darstellte, die ein Schwert nach vorn schwang. „Folgt mir!“, rief er, und eilte nach vorn. Mit den Horuxen hinter ihm, kletterte auf die Statue, um der Maid die Waffe zu entwenden. Er rüttelte und rüttelte, während er an den von Pfeilen durchschossenen Wolken vorbeizog.
Er klammerte sich mit seinen großen Beinen um die Taille der Statue, und mit einem gewaltigen Zucken entriss er der Meerjungfrau das Schwert. Geschwind kletterte er zurück, und fragende Gesichter empfingen ihn. „Was zum Henker hast du vor?“, fragte Bulluck (berechtigt). „Bringt mir das Seil.“, sagte Ogon, und er zeigte auf einen Strick, der um einen Haken an dem Hauptmast gewickelt war. „Habt ihr noch einen Pfeil übrig, von denen, mit denen ihr euch hochgeseilt habt?“, fragte er anschließend. Alle durchsuchten ihre Taschen, während Herell Ogon den Strick reichte. „Bloß noch diesen.“, erklärte Mevell, und er zeigte Ogon einen Pfeil, der leichte Beschädigungen aufwies. „Jedoch weiß ich nicht, ob dieser kaputte Pfeil reicht.“

„Ich schätze, wir müssen es ausprobieren.“, antwortete der Riese unsicher, und er wickelte das Band um den Pfeil. „Folgt mir auf das Oberdeck!“, befahl er anschließend. Von Pfeilen umgeben, suchten sie Schutz hinter einem Pulverfass. „Weihe uns endlich ein, Riese!“, forderte Bulluck Ogon auf.
„Einer von uns nimmt sich nun den Bogen, und schwingt sich mit dem Pfeil in die Richtung von einem der feindlichen Schiffe. Dann schneidet er mit dem Schwert die Seile durch, die das Schiff mit dem Ballon verbinden, der den ganzen Kahn in der Luft hält.“
„Das…“, begann Bulluck, „Ist der schlechteste Plan, der je meinen Gehörgang betrat.“
„Bessere Ideen?“, fragte Ogon anschließend provozierend, während das Schiff weitestgehend im Pfeilregen versank.
„Wir könnten sie fragen, ob sie mit uns einen Schluck Wein trinken wollen. Oder wir könnten sie mit Bierflaschen bewerfen.“
„Ist ja gut.“, unterbrach Favill die Diskussion. „Ich werde es tun.“

Mit schlatternden Knien umklammerte er den Bogen und den modifizierten Pfeil. Mit stapfenden Stiefeln begab er sich auf die hölzerne Verkleidung des Schiffes. Während er gluckste, spannte er den Bogen. „Vergesst nie, wer ich war.“, sagte er mit zitternden Lippen. „Vergesst nie, dass ich euer Freund war.“
Favill drehte sich zu seinen Kameraden. „Ist ja gut.“, sagte Bulluck. „Mehr als ein Freund… Ich war Teil einer Familie.“, redete Favill weiter.
„Wir haben es verstanden.“, antwortete Bulluck wieder, der leicht angespannt und unruhig schien, als weitere Geschosse das Schiff trafen. „Ich war euch immer ein Bruder, ein --“
„Nun los, du Angsthase!“, brüllte Bulluck schließlich unterbrechend, und drängte Favill über die Ballustrade.

Kreischend stürzte er herunter, bis das Seil seine Fallrichtung änderte. In einer Steilen Kurve sauste der kleine Geist in Richtung Luftschiff. Überraschte Gesichter empfingen ihn, gekleidet in silberne Rüstungen. Einige von den Soldaten stürzen zu Boden, als sie erschraken. Favill war in Schockstarre, und er vergaß beim Vorbeischwingen gänzlich, das feindliche Schiff zu demolieren. Als der Schwung aufhörte, und er langsam zurückschnellte, zückte er das Schwert, und schnitt die Seile, in Windeseile, durch, bis auf eines: Das Hauptseil in der Mitte.
Der Schwung katapultierte ihn zurück, und er war fast wieder an Bord bei seinen Kameraden. Favill streckte seine Hand aus. „Helft mir wieder rauf!“, brüllte er panisch. „Du hast da ein Seil vergessen!“, antwortete Bulluck, und gab Favill, wie einem Kind auf der Schaukel, Anschwung, sodass er wieder zurückflog.
Sein Schrei war noch lauter und höher, fast wie ein kreischender Vogel, während der Pfeilregen größer wurde. Nun nahm Favill all seinen Mut, streckte die Klinge aus, und es sah aus, als würde er durch die Luft auf sein Ziel zureiten. Er traf das Seil, mit vollem Tempo, doch es war zu dick, und mit einem harten Aufschlaggeräusch fiel ihm das Schwert aus der Hand, und es stürzte geradewegs in die Tiefe.
„Nein!“, schrien Ogon, die Horuxe und Aevish zur selben Zeit. Nun flatterte Favill unsicher zurück zum gestohlenen Schiff, und mit einem Hechtsprung landete er wieder bei seinen Freunden an Deck. Bulluck stapfte auf den am Boden liegenden Favill zu. „Du Tölpel!“, schrie er, und er packte ihn am Kragen. Das war unsere einzige Chance, davon zu kommen!“
„Auseinander!“

Mevell, Aevish und Herell gingen dazwischen. Ogon betrachtete die Pfeile, die vorbeiflogen, und das Schiff der Aahoner, dass nun schief flog, weil es nur noch an dem Hauptseil hing. Dann schaute er auf eines der Leinen und Laken, die das Schiff transportierte. „Das war nicht der einzige Weg!“, schrie der Riese. Alle waren still und schauten ihn schräg an. „Holt die Laken und hängt sie auf! Und wir brauchen eure Bögen!“
„Was zum Henker soll das jetzt—“
„Macht einfach!“

Geschwind befestigten sie die Stoffe an dem äußeren Gebälk des Luftschiffes und an dem oberen Ende des Oberdecks. „Und was bringt uns das jetzt?“, fragte Bulluck (wieder einmal berechtigt). „Passt auf.“, sagte Ogon grinsend, und er zeigte auf die Laken. Dutzende Pfeile schossen durch die Laken, und hingen in dem Stoff. „Holt die Pfeile runter, und spannt eure Bögen! Wir verwenden ihre eigenen Waffen gegen sie!“
„Riese!“, schrie Herell. „Ihr seid genial!“

„Kluges Kerlchen.“, merkte Bulluck an. Der Riese pflückte die Pfeile aus den Laken und übergab sie den Geistern. „Zielt auf das Hauptseil!“, befahl Mevell. Das Schiff drohte zu kollabieren. Es fehlte ein letzter Treffer, um es abstürzen zu lassen. Den anderen beiden Schiffen ging es noch gut… „Vergesst auch die anderen Luftschiffe nicht!“, grölte Aevish, als der Pfeilhagel, der nun von beiden Seiten Stattfand, immer größer wurde.
Die Horuxe waren allesamt nicht die begabtesten Schützen. In der Geisterwelt gibt es etwas derartiges wie Pfeil und Bogen bloß selten. Doch Mevell spannte seinen Bogen mit aller Kraft, und mit einem zugekniffenen Auge visierte er das Hauptseil des feindlichen Schiffes an. Er ließ los, der Pfeil pfiff durch die Luft, und mit einem Knallen wie von einem Peitschenhieb durchtrennte das Geschoss das letzte Hauptseil.
Still fiel das riesige Schiff geradewegs auf den Erdboden zu, und wie ein Meteorit zerbröckelte das instabile, gigantische Stück Holz in der Luft, bevor es auf einem Fels zerschellte. Explosionsartig drang es in ihre Ohren, wie das Schiff zerberstend auftraf. Die Geister und der Mann mit dem Hut jubelten.
„Du bist es, Riese! Du bist ein Genie!“, prahlte Bulluck, während er in Richtung der übrig geblieben Schiffe spuckte. „Lass dich umarmen, Egon!“
„Ogon.“, sagte der Riese, und sein Blick blieb standhaft auf die Luftschiffe gerichtet. Und was er sah, ließ seine Freude wieder verfliegen: Aus den Schiffen ragten nun große Kanonenrohre.

„Passt auf!“, schrie Ogon, doch bevor sie irgendetwas hätten tun können, flog die erste Kanonenkugel donnernd auf das Schiff zu. Ein Beben erschütterte das Deck, und Ogon und die Geister wankten, und fielen zu Boden. Wir müssen Schleunigst hier weg!“, schrie Aevish mit schwacher Stimme, und er krabbelte auf das Steuerrad zu. Weitere knallende Schüsse folgten, zwei, drei. Einigen konnte Aevish ausweichen, doch schon bald war das Schiff durchlöchert wie ein Käse. Immer wieder rissen die Aufschläge der Kanonenkugeln die Gruppe zu Boden. Bulluck und Mevell zogen die letzten Pfeile aus den Laken, doch ihre Schüsse brachten nichts.
Das Schiff drohte zu zerbrechen, Holzbretter lösten sich aus den Verankerungen, und es regnete Schrott. Alle legten sich auf die Böden, sie konnten den Schüssen nur zusehen. „Verdammt nochmal!“, fluchte Bulluck, und die letzte Kugel gab dem Schiff den Rest: Der Ballon zerplatzte, und das Luftschiff segelte rotierend zu Boden. Die Horuxe klammerten sich an allem fest. Ogon umschlang ein Seil mit seinen großen Händen. Aevish hing über Kopf an der Balustrade.
Der Wind pfiff, er schrie förmlich, als er Ogon um die Ohren sauste, und das Wolkenbett geriet in immer weitere Ferne.

Antworten