[F] Schnipsel aus dem 1632-Universum

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Rainer Prem
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[F] Schnipsel aus dem 1632-Universum

Beitrag von Rainer Prem »

aus Eric Flint, "1632" (übersetzt von Rainer Prem) mit Erlaubnis des Autors

Prolog

Noch Jahre danach, zumindest soweit es die Öffentlichkeit anging, blieb das Rätsel ungelöst. Es wurde einfach mit den anderen Geheimnissen wie dem Tunguska-Ereignis oder dem viereckigen Krater auf Callisto in die Liste der ungeklärten Erscheinungen eingereiht. Die anfängliche weltweite Aufregung schwand innerhalb weniger Monate, als klar wurde, dass es keine schnellen Antworten geben würde. Einige Jahre lang würden trauernde Angehörige — mit einigem Erfolg — die Bürokratie bedrängen, die Studien und Untersuchungen fortzusetzen. Aber es gab keine Anwälte, die diese Feuer weiter anheizten. Die Gerichte entschieden schon bald, dass die Grantville-Katastrophe eine Tat Gottes war, für die die Versicherungen nicht zu haften hatten. Innerhalb von zehn Jahren war die Katastrophe — ähnlich wie das Kennedy-Attentat — zu einem weiteren Tummelplatz für Fanatiker und Enthusiasten zusammengeschrumpft. Danach genoss sie natürlich ein fast ewiges Halbleben.

Theorien gab es natürlich reichlich, aber die vagen Spuren in den Aufzeichnungen waren unmöglich klar zu entschlüsseln. Ein kleines Schwarzes Loch, das die Erde durchquert hatte. Das war eine Theorie. Eine andere — einige Zeit populär, bis ihre mathematische Basis durch neue Entdeckungen die Grundlage verloren hatte — dass ein zerbrochener Superstring den Planeten flüchtig gestreift hatte.

Der Einzige, der je auch nur nahe an die Wahrheit kam, war ein Nachwuchsbiologe namens Hank Tapper, der eigentlich nur zufällig in letzter Minute zu einem der Geologenteams gestoßen war, die das Unglück untersuchen sollten. Das Team widmete mehrere Monate dem Studium des Geländes, welches die Gegend ersetzt hatte, die vorher ein Teil von West Virginia gewesen war. Sie kamen zu keinen weiteren Schlüssen als der offensichtlichen Feststellung, dass dieses Gelände nicht in diese Gegend gehörte, aber — und das eliminierte das eifrige Interesse der SETI-Gemeinde — ganz klar irdischen Ursprungs war.

Das fremde Terrain wurde ziemlich präzise kartographiert. Es bildete eine perfekt kreisförmige Halbkugel, etwa sechs Meilen im Durchmesser und ungefähr halb so tief in seinem Zentrum. Nachdem das Team wieder zurückgekehrt war, blieb Tapper noch einige Monate länger. Schließlich identifizierte er das Tier- und Pflanzenleben als nahezu identisch zu dem in Teilen Zentraleuropas. Das begeisterte ihn. Es passte zu dem archäologischen Bericht, der — sehr, sehr vorsichtig — andeutete, die zerstörten Bauernhäuser hätten verschwommene spätmittelalterliche oder früh-neuzeitliche germanische Anmutungen. Genauso wie die sieben menschlichen Leichen, die in einem der Bauernhäuser gefunden worden waren. Zwei Männer, zwei Frauen und drei Kinder. Die Überbleibsel waren stark verkohlt, aber Spuren auf den Knochen wiesen darauf hin, dass zumindest zwei der Personen mit großen Schneidewerkzeugen getötet worden waren.

Die Überprüfung der Gebisse legte nahe, dass diese toten Personen nicht aus der modernen Zeit stammten. Oder wenigstens niemals auch nur in die Nähe einer Zahnbehandlung gekommen waren. Aber die medizinischen Untersuchungen ergaben auch, dass diese Morde in sehr naher Vergangenheit geschehen waren. Und die Bauernhäuser schwelten noch, als man sie fand.

Tapper bewegte sich am Rande der Wahrheit entlang. Da aber auch nach mehreren Monaten Arbeit kein zu diesem zerstörten Gelände passendes Stück in irgendeinem Teil Mitteleuropas auftauchte, brach er seine Untersuchungen komplett ab. Er hatte seine Vermutungen, aber …

Die einzig mögliche Erklärung war nicht nur eine räumliche, sondern auch eine zeitliche Versetzung. Tapper war Nachwuchsbiologe. Seine aufblühende Karriere würde zerstört werden, wenn er seine Untersuchungen ohne Beweise weiterführen würde. Und — da war er sich sicher — es konnte keine Beweise geben. Was auch immer von diesem verschwundenen Teil West Virginias übrig geblieben war, blieb irgendwo in der Vergangenheit verschwunden.

Also nahm Tapper den Verlust eines Jahres hin und suchte nach einer grüneren Weide. Er veröffentlichte seine Ergebnisse, aber nur als trockene Annahmen in obskuren Schriften. Er versuchte nicht, Schlüsse zu ziehen oder Theorien zu postulieren oder das Interesse der Öffentlichkeit auf sich zu ziehen.

Auch gut. Seine Karriere wäre ruiniert gewesen, denn bis zur Veröffentlichung der Alexander-Studie lange danach, hätte ihm sowieso niemand geglaubt. Und selbst wenn; die ausgiebigste archäologische Suche in Mitteleuropa hätte die passende Halbkugel nicht finden können. Sie war natürlich da, mitten in Deutschland in einem Teil namens Thüringen. Aber sie existierte nahezu vier Jahrhunderte zuvor und das nur für einen Augenblick. Im selben Moment als die Hälften ausgetauscht wurden, hatte sich ein neues Universum vom alten abgespalten.

Außerdem war die Wahrheit noch viel absurder, als sich Tapper hätte träumen lassen. Was Grantville passiert war — und später auch dem Alexander-Gefängnis in Illinois — war keine Naturkatastrophe.

In Wirklichkeit war die Grantville-Katastrophe das Ergebnis von etwas, was die Menschen jener Zeit kriminelle Fahrlässigkeit genannt hätten. Eine Scherbe von kosmischem Müll, ein weggeworfenes Fragment von etwas, was man auch in Ermangelung eines besseren Begriffs als Kunstwerk bezeichnen könnte. Ein Span, könnte man sagen, von einer Skulptur. Die Assiti vergnügten sich in ihrem grenzenlosen Egoismus mit der Manipulation von Raumzeit. Sie bemerkten noch nicht einmal, welche Auswirkungen ihre „Kunst“ auf den Rest des Universums hatte.

Die Assiti würden — fünfundachtzig Millionen Jahre später — von den Fta Tei ausgelöscht werden. Ironischerweise waren diese ein Nebenzweig einer der vielen Rassen menschlicher Nachkommen. Ihre Beweggründe waren jedoch nicht Rache. Die Fta Tei wussten nichts über ihre Ursprünge auf einem weit entfernten Planeten namens Erde, und noch weniger von der Katastrophe, die dort geschehen war. Die Fta Tei löschten die Assiti aus, weil sie trotz vieler ernsthafter Warnungen nicht aufgehört hatten, ihre gefährliche und unverantwortliche Kunst auszuüben.
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