[EX16] Wolfsdämmerung

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Rainer Prem
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

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16

Peter hatte an diesem Abend schon eine Reihe Schocks überstanden. Dieser war der schlimmste.

"Was? Was sagst du da?"

Sandra zuckte zusammen. Dann richtete sie sich auf. "Können wir die Erklärungen auf später verschieben? Wir müssen — hm — das da entsorgen." Sie wies auf Thorstens Leiche.

Peter blickte hinunter auf die Überreste des Mannes, den er an diesem Nachmittag noch für einen Freund gehalten hatte. "Wir können ihn nicht hierlassen." Wer zum Henker sind "wir" im Augenblick? "Er hat für — äh — 'die da' gearbeitet."

"Die Forces." Sandra nickte. "Ich weiß. Sie arbeiten für mich — sozusagen."

Boing! Und noch ein Schock!

Peter blickte auf. "Und warum … Nein, vergiss es." Er versuchte, sich zu konzentrieren. Draußen in Kanada hatte das so gut geklappt. Toter Körper. Entsorgen. Keine Spuren hinterlassen. Wie immer beim Nachdenken ließ er seinen Blick zum Fenster hinaus schweifen. Museum, Aquarium, Haifischbecken. Eine Menge hungriger Haie. Ja, das wäre ausgleichende Gerechtigkeit.

Peter wandte sich wieder Sandra zu. "Ich gehe und hole einen von den elektrischen Trolleys, die die Zoowärter benutzen. Zieh ihm alles aus, bis ich wieder da bin." Bevor er ging, hob er noch Thorstens "Pistole" auf, die noch am Boden lag.

Er untersuchte sie, während er den Raum verließ. Es gab einen kleinen Hebel, wo Thorsten seinen Finger gehabt hatte, wahrscheinlich eine Art von Auslösetaste. Das Ding hatte keinen Ein-/Ausschalter und kein Anzeichen einer Stromversorgung. Peter fand einen kleinen Nippel mit der Beschriftung "Sicher" und "Feuer". Er schob ihn auf "Sicher", steckte die Pistole hinten in seinen Gürtel und bedeckte sie mit seiner Jacke.

Die Aquariumsgebäude waren leer, und Peters Karte ließ ihn in den Lagerraum, wo die Trolleys parkten. Er fand die grünen Uniformen der Zoowärter und zog eine davon an. Aus einer Schublade nahm er noch ein elektrisches Messer mit.

Das würde eine blutige Sache werden, aber im Augenblick fühlte er kein Bedauern für den Mann, der vorgegeben hatte, sein Freund zu sein.

*

Später landete Peter im Kofferraum von Sandras Auto, ein großzügiger Kofferraum in einem recht großen Auto.

Hier hatte er endlich Muße, die neuen Entwicklungen Revue passieren zu lassen. Angenommen, Sandra sagte die Wahrheit, …

Stephen hatte sich geirrt. Es gab menschliche Überlebende. Und da Sandra keine Schutzkleidung trug, musste sie wohl immun sein gegen … was auch immer die Mutation in einen Wandler verursachte.

"Mist!", murmelte er. Wenn er ihre DNS gegen seine eigene vergleichen könnte, würde er mehr herausfinden können. Aber selbst wenn er in das Institut zurückgehen könnte, der DNS-Analysator war weg.

Sandra hatte ihm angeboten, vorerst in ihrem Haus zu bleiben. Sie lebte alleine, und das Haus war groß genug für zwei.

Wenn er nach dem Ausdruck auf ihrem Gesicht ging — sehr ähnlich zu dem Angelinas, als sie ihn auf seinem Zimmer in New Hope besucht hatte — würde sie auch eine Ein-Zimmer-Wohnung als groß genug für sie beide halten.

Nicht, dass er etwas dagegen hatte, bei ihr im Bett zu schlafen. Seit seiner Rückkehr, hatte es zwischen ihnen beiden die ganze Zeit geknistert. Auf der anderen Seite war sie sein Chef — gewesen — und er hatte sich immer noch nicht getraut, sie um ein Date zu bitten.

Falls sie schon vor seinem Abenteuer in Kanada das gleiche für ihn gefühlt hatte wie jetzt, dann hatte sie es gut geheim gehalten. Das war sehr wahrscheinlich, weil er ja ihrer Meinung nach eine "Werwolf-Bestie" war.

Er fühlte das Auto landen und dann in eine Garage rollen.

Die Klappe ging auf, und er krabbelte hinaus.

Sandra blickte ihn an. Ja, genau derselbe Gesichtsausdruck wie bei Angelina.

"Danke", sagte er. "Für alles."

"Komm rein. Willst du etwas zu essen? Ich zumindest brauche einen großen Whisky."

Sein Magen grummelte; er hatte seit Mittag nichts mehr gehabt. "Essen wäre großartig; und ich habe auch nichts gegen einen Whisky."

Sie wandte sich um und lief in Richtung Küche. "Pizza? Ich habe Anchovis, Garnelen oder Muscheln."

Er lachte. "Ich hätte dich nicht für einen Meeresfrüchte-Junkie gehalten. Verdienst du so gut in deinem Job?"

Sie hielt an, drehte sich um und zuckte ihre Schultern. "Ich lebe nicht nur von meinem Gehalt. Der Whisky ist auf dem Regal im Wohnzimmer. Mach mir einen doppelten ohne Eis oder Wasser."

*

Bis er mit zwei Gläsern in der Küche ankam, hatte sie nicht nur die Pizza fertiggemacht, sondern sich auch umgezogen. Sie trug ein kurzes, rotes Etwas, das überhaupt nicht mit ihren üblichen Hosenanzügen bei der Arbeit zu vergleichen war.

Warum waren die Frauen plötzlich so darauf aus, ihm nackte Haut zu zeigen?

"Ich denke", sagte er, als sie am Tisch saßen. "Du hast eine ganze Menge zu erzählen. Warum fängst du nicht einfach ganz von vorne an?"

"Hm", meinte Sandra. "Ganz von vorne …"
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Rainer Prem
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

Beitrag von Rainer Prem »

Sandras Erinnerungen

"Mama", sagte Alexandra Rowena Clara Magdalena Jessica Miller. "Sag mir, warum ich nicht nach draußen gehen und mit den anderen Kindern in meinem Alter spielen darf."

"Alexandra", antwortete die Computer-Persönlichkeit. "Ich habe dir doch schon gesagt, dass es kein 'draußen' hier auf dem Mond gibt. Und es gibt auch keine anderen Kinder in deinem Alter."

@

"Was?" Peter sprang auf. "Auf dem Mond? Und was ist eine 'Computer-Persönlichkeit'?"

"Psst", feixte Sandra. In diesem Moment sah sie Angelina wieder verdammt ähnlich. "Ich erzähle hier die Geschichte."

Peter schüttelte seinen Kopf und ließ sich wieder in den Sessel sinken. Ich bin ja so am Arsch. Jetzt habe ich schon zwei Frauen, die mir gegenüber den Alpha heraushängen lassen.

@

Sandra schmollte und zeigte auf den Bildschirm. "Aber da sind doch andere Kinder in dem Video."

"Das ist eine Aufnahme aus den guten alten Zeiten auf Mutter Erde. Sie hat die Aufgabe, dir zu zeigen, was deine Lebensaufgabe ist, nämlich dafür zu sorgen, dass deine Kinder wieder dort leben können."

Sandra war beileibe nicht so dumm, wie sie sich gab. Für eine Fünfjährige war sie sogar ziemlich schlau. Sie wusste das, weil sie die Datenbank der Schule gehackt, und die Ergebnisse ihrer IQ-Tests mit denen anderer Kinder verglichen hatte. Großmutter Claras Tests vor dreißig Jahren waren sogar weit unterdurchschnittlich ausgefallen.

Und wenn Sandra schon keine lebenden Spielkameraden hatte, war den Computer zu ärgern immer noch der beste Zeitvertreib.

*

"Warum bringen wir diese Bestien nicht einfach in einem Rutsch um?" Sandra hatte lange überlegt, bevor sie diese Frage stellte. Aber schließlich hatten ihr alle Geschichtsstunden klargemacht, dass die Werwölfe mörderische Bestien waren.

Während der Werkriege hatten sie versucht, alle Menschen umzubringen. Wenn ihre Gehirne jetzt immer noch so aggressiv wären wie damals, würden sie es immer noch versuchen. Menschheit würde nicht überleben können, wenn Doktor Gibson nicht entdeckt hätte, dass 3,7,8-Polyestradiol, ein Schwangerschaftshormon der weiblichen Werwölfe, sie verwundbar, dumm und fügsam machte wie das Vieh der Vergangenheit.

"Im Alter von zehn Jahren musst du die Antwort selbst geben können. Sprich!"

Sandra konnte sich gerade noch vom Schmollen abhalten. Sie hasste die neue Persönlichkeit des Computers.

"Nanny" hätte ihr gesagt, dass sie nicht alt genug dafür war und angeboten, ein Spiel zu spielen. "Mama" hätte ihr die Gründe mit endloser Geduld erklärt. "Lehrerin" hätte ihr die Quellen zum Studium genannt und ihre Erkenntnisse diskutiert. "Professorin" war böse. Sie gab ihr noch nicht einmal Hinweise.

Sie holte tief Luft. "Wir brauchen das Essen und die Werkzeuge, die sie produzieren. Die Mondstation kann sich nicht selbst erhalten."

"Das ist die drittwichtigste Tatsache. Fahre fort!"

"Wenn wir sie umbringen, wäre die Erde unbewohnbar."

"Warum ist diese Antwort irrelevant?"

Mist! Sandra runzelte die Stirn. Sie war mal wieder zu vorschnell gewesen. "Mit all unserer Forschung auf dem Gebiet der Biologie sollten wir in der Lage sein, eine Waffe zu finden, die sie alle tötet, ohne die Umwelt zu schädigen."

"Wir haben bereits eine solche Waffe. Nach dieser Stunde wirst zu ein Zehntausend-Wort-Essay über die Wirkungen von 3,7,8-Polyestradiol auf den Werwolf-Metabolismus schreiben und die Menge berechnen, die ausreicht, 99,99 Prozent der aktuellen Bevölkerung vor Erreichen der Geschlechtsreife zu töten. Ich will das Essay in drei Tagen sehen.

Jetzt mach mit den Antworten zu deiner Originalfrage weiter."

Nun legte Sandra eine Pause ein. Sie konnte nicht noch eine falsche Antwort geben, oder ihre freie Zeit nach der Schule wäre endgültig ruiniert.

Dann fiel ihr etwas ein. "Wir brauchen sie, um Kinder zu bekommen."

"Das ist die zweitwichtigste Tatsache. Fahre fort!"

Sandra machte wieder eine Pause. Eine Hürde genommen. Aber was konnte nach den Maßstäben des Computers wichtiger sein, als den Fortbestand von Menschheit zu garantieren?

Im Alter von fünfzehn, wenn Sandras Eierstöcke voll entwickelt waren, würde sie eintausend Eier an die Zentralbrutstation spenden. Alle zehn Jahre würde diese Spende wiederholt werden, bis ihre Eierstöcke leer waren oder sie starb.

Nach einer sorgfältigen Kontrolle würden ein- bis zweihundert Eier für den Prozess zugelassen werden. Der Samen von verschiedenen Werwolf-Männchen würde sie befruchten, und die entstehenden Embryos in künstliche Gebärmütter eingepflanzt.

Im Durchschnitt würden fünfundneunzig Prozent davon mit der Werwolf-Seuche infiziert sein und durch einen Test in der dreißigsten Woche ausgejätet werden. Am Ende würden nur ein oder zwei davon in die Postnatal-Abteilung überführt werden.

Im Schnitt waren fünfundsiebzig Prozent davon männlich, und diese bisher alle steril. Die Computer würden sie natürlich in den ersten fünfzehn Jahren überwachen, bis ihre Genitalien ausgereift waren, aber die neuesten Forschungsergebnisse gaben ihnen nur eine Chance von eins zu einer Million, fruchtbar zu sein.

Wenigstens waren sie fast alle — im Gegensatz zu den meisten Frauen — immun gegen die Seuche und konnten damit in den Dienst der sogenannten Forces treten, schnelle Eingreiftruppen, die immer da zum Einsatz kamen, wo Werwölfe Probleme machten.

Eine lebende Tochter dagegen würde stolz die Namen all ihrer weiblichen Vorfahren seit der Infektion tragen. "Cleopatra Alexandra Rowena Clara Magdalena Jessica Miller", murmelte Sandra. Ja, Cleopatra war ein schöner Name.

Doch mit einer Geburtenrate von einem fruchtbaren Mädchen in zwei Jahren, würde Menschheit noch eine lange Zeit benötigen, bevor sie sich wieder ohne die Hilfe von Werwölfen fortpflanzen konnten.

"Ich habe keine Ahnung", sagte sie zu guter Letzt. Besser Unwissenheit zugeben, als etwas Falsches zu sagen.

"Wir brauchen sie für alle notwendigen Hilfstätigkeiten im Rahmen der Forschung zur Wiederherstellung der vollen Fruchtbarkeit und Immunität. Ihr seid zu wertvoll, um euer Leben für solch gefährliche Tätigkeiten zu riskieren, wie DNS-Proben von Meereslebewesen zu sammeln."

War das Stolz in der Stimme des Computers?

"Wenn dieses Ziel einmal erreicht ist, werden wir das Werwolf-Ungeziefer sofort ausrotten, und Menschheit kann wieder ihre angestammte Heimat bevölkern."

*

"Du bist immun, Sandy." Chandra Gandhara Nabhanya Tanmayi Rabhya Basumatary wedelte mit einem Tablet.

Sie war die zweitjüngste einer Familie, die auf ihre indische Herkunft stolz war. Natürlich hatten fünf Generationen der Kreuzung mit Werwölfen aller Rassen die meisten Merkmale dieser Herkunft außer dem Namen und einer dunkleren Hautfarbe ausgebügelt.

Chandra kam dem am Nächsten, was Sandra eine echte Freundin nennen konnte. Die Inderin war nur zwei Jahre älter, und Lehrerin hatte den schweren Fehler begangen, die beiden Mädchen zusammen zu unterrichten, um ihrer beider "Sozialverhalten zu stärken". Sandra war es klar, dass es dabei hauptsächlich um ihr Sozialverhalten ging.

Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie jedes Mal geantwortet hatte, wenn Lehrerin etwas von Chandra wissen wollte, und dann behauptet hatte, der Computer hätte sie mit ihrem Spitznamen angesprochen.

Natürlich redeten Computer einen nie mit Spitznamen an, was ihr Lehrerin immer wieder geduldig erklärte, während die Mädchen kicherten und glucksten. Zurückblickend waren es die lustigsten Momente der letzten Jahre gewesen.

Jetzt war Sandra fast fünfundzwanzig und hatte es nicht geschafft, im ersten Schwung eine Tochter zu produzieren, was sie in den Augen ihrer Mutter, Großmutter, Urgroßmutter und so weiter im Wert deutlich herabstufte. Chandra hingegen hatte eine Tochter für die sechste Generation hervorgebracht, gab aber niemals damit an.

"Ich habe über eine Million Simulationen durchgeführt und über tausend Tests mit Klongewebe. Das Ergebnis ist sicher. Du kannst dir jetzt aussuchen, wo du auf der Erde eine Forschungseinrichtung leiten willst."

"San Francisco", antwortete Sandra ohne nachzudenken.

Das rezessive Gen für Immunität war der einzige Grund gewesen, warum man ihrer Großmutter erlaubt hatte, sich fortzupflanzen. Nicht viele der Blutlinien auf dem Mond besaßen dieses Gen. Die Millers, die Taylors, die Smiths; irgendjemand hatte spekuliert, dass es vielleicht aus dem alten England kam. Keine der Familien mit asiatischer oder lateinamerikanischer Herkunft konnte es vorweisen.

Seit dem Tag vor zehn Jahren, als die Untersuchung ihrer ersten gespendeten Eier die hohe Wahrscheinlichkeit nachgewiesen hatte, dass das Gen bei ihr aktiv war, hatte sie viel freie Zeit auf das Studium der Forschungslabore von Nordamerika verwendet.

Dann hatte sie das Video aus San Francisco gesehen, und sofort gewusst, dass sie dorthin wollte, dass diese Stadt ihre Bestimmung war.
Zuletzt geändert von Rainer Prem am So 22. Nov 2015, 21:26, insgesamt 1-mal geändert.
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Rainer Prem
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

Beitrag von Rainer Prem »

17

Sandra und Peter zogen sich zum zweiten Whisky ins Wohnzimmer zurück. Peter schwenkte danach auf Orangensaft um. Seine Gedanken schwirrten schon genug durch seinen Kopf; er musste ihnen nicht noch mehr Grund zur Verwirrung geben.

"Jetzt kannst du Fragen stellen." Sandra machte es sich auf einen teuer aussehenden Sessel gemütlich, aber ihre Körpersprache und ihr unsteter Blick verrieten ihm, wie angespannt sie in Wahrheit war.

Peter unterdrückte den Drang, zu ihr hinüberzugehen, sie in seine Arme zu nehmen und zu trösten; das würde höchstwahrscheinlich keine seiner dringenden Fragen beantworten. Es gab einfach keinen angenehmen Weg, diese Fragen zu stellen.

"An welchem Punkt deines Lebens hast du beschlossen, mit dem Werwolf-Ungeziefer gemeinsame Sache zu machen?"

Sandra zuckte zusammen.

"Ich —", sagte sie mit rauer Stimme. Dann räusperte sie sich. "Ich habe eure Spezies nie als Ungeziefer betrachtet. Bestien, ja. Gefährliche Bestien. Gefährlich schöne Bestien wie ein Schwertwal oder ein weißer Hai. Aber selbst Haie werden für das Gleichgewicht im Meer gebraucht."

"Wir sind keine Mörder", sagte er leise. "Nicht im größeren Maß als Menschen. Auf keinen Fall sind wir Haie. Wir fressen uns nicht gegenseitig. Wir fressen auch keine Menschen. Ich sehe dich nicht als Beute an."

Sandra machte eine wegwerfende Handbewegung und nahm noch einen Schluck von ihrem Whisky. Glenfiddich 2025 hatte auf dem Etikett gestanden. Wenn das eine Jahreszahl war, konnte er noch nicht einmal vermuten, was die Flasche gekostet hatte.

Eine Handvoll Menschen, welche über die Reichtümer einer ganzen Welt verfügten, konnten wohl problemlos im Luxus schwelgen.

"Ich weiß, ich weiß", sagte sie mit schwerer Zunge. Dann zeigte sie auf ihn. "Du. Du warst auf dem Video über das Aquarium von San Francisco. Du hast aus all diesen gutaussehenden, gebräunten Werwölfen herausgestochen."

"Wandler", sagte er ohne nachzudenken. "Ich?"

Sandra hatte ihn wohl nicht gehört. Sie kicherte betrunken. "Weißes Haar, weiße Haut. Du hast mich angestrahlt wie ein Scheinwerfer. Ich bin dir sofort verfallen. Ich wüsste noch nicht einmal, was dieser Ausdruck bedeutet, wenn ich nicht all die Liebesromane verschlungen hätte, die meine Ur-Urgroßmutter Jessica widerrechtlich auf dem Biologiebuch gespeichert hatte, das ich von ihr geerbt habe."

Sie nahm noch einen Schluck. "Und dann habe ich dich getroffen. Weißt du eigentlich, dass du ein Alpha bist?"

Er unterdrückte ein Aufstöhnen. Er hasste diesen Ausdruck. "Und welche Bedeutung hat das für dich?"

Stephen hatte sich lange Zeit dafür genommen, um Peter zu erklären, dass jede Wolfsfamilie — er hatte nicht den Begriff "Rudel" benutzt — ein Paar von Anführern gab. Es waren normalerweise die Eltern, bis sie zu alt wurden, und ihre Kinder begannen, sie herauszufordern. Wissenschaftler, die das Verhalten von Wölfen untersucht hatten, waren es, die diese Anführer als "Alphas" betitelt hatten.

In der Gesellschaft von New Hope füllten Stephen und Maria, die Ältesten, diese Rolle aus. Keiner der dort lebte dachte daran, sie herauszufordern. Wandler waren viel mehr Menschen als Wölfe.

"Unter anderem", lallte Sandra, "will jede Frau, die noch halbwegs bei Sinnen ist, so schnell wie möglich mit dir ins Bett. Warum, glaubst du, saufe ich mich hier voll?"

Das erklärte nicht nur Sandras plötzliches Verhalten, sondern im Nachhinein auch die vielen unsittlichen Anträge, die er während seiner Zeit auf der Universität bekommen hatte. Im Abschlussjahr war er sogar zum "meistbegehrten Junggesellen" gewählt worden.

"Stephen, Stephen", murmelte er, "davon hast du mir nichts erzählt."

Der alte Wandler hatte sich auf die natürliche Dominanz eines Alphas konzentriert. In einer zivilisierten Gesellschaft war sie nicht so offensichtlich, aber in einer Diskussion nahmen alle Nicht-Alphas seine Aussagen für bare Münze und zweifelten sie nicht an.

So wie sie sich benahm, war Angelina mindestens ebenso sehr Alpha wie Peter — oder wie Sandra, wenn sie nicht gerade betrunken war.

"Hast du …" Er zögerte.

"Was?"

"Hast du schon jemals mit einem Mann geschlafen?"

Sandra schüttelte energisch ihren Kopf. "Wir machen das nicht so, kleine Alexandra." Sie zitierte wohl gerade eine dieser "Computer-Persönlichkeiten", die sich wohl wie eine intelligente Lebensform verhielten. "Männer sind agg-aggressiv. So einer könnte dich verletzen. Selbst Morde während des Beischlafs sind dokumentiert. Unsere Grün-Gründermütter haben beschlossen, diese Gefahr ssu vermeiden."

"Irgendeine Art von Sex?"

Sandra zuckte ihre Schultern. "Als Teenager habe ich mal unter der Schalldusche mit Chandra herumgefummelt." Sie schüttelte wieder ihren Kopf. "Ich habe keine Idee, ob die Computer dafür sorgen, dass unsere Lib-Libido unterdrückt wird, oder alles auf dem Mond einfach nur fürchterlich todsterbenslangweilig ist. Bevor ich dich getroffen habe —" sie holte tief Luft. "— dachte ich, all diese heißen Szenen in den Liebesromanen wäre pure Pan-Pan-Phantasie. Aber seitdem …"

Sie ließ ihr halbvolles Glas auf den dicken Teppich fallen, mühte sich auf ihre Füße und stolperte zu ihm herüber.

Er hatte gerade noch Zeit, um seine Arme zu öffnen und sie aufzufangen, als sie sich in seinen Schoß fallen ließ."

"Isch liebe disch", lallte sie. "Die gan-ganze Zeit. Und jetzt kann isch es endlisch sagen." Dann küsste sie ihn, als gäbe es kein Morgen.

Ihm waren plötzlich zwei Dinge klar. Zum einen, wie sehr er selbst in sie verliebt war; und zum anderen: O Mann, ich stecke ja so in der Scheiße!
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Rainer Prem
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

Beitrag von Rainer Prem »

18

Peter lag auf seinem Rücken in Sandras sanft wogendem Wasserbett. Die Frau in seinem Arm hatte sich an ihn gekuschelt und schnarchte leise. Kurz nach ihrem Überfall auf seinen Mund war sie eingeschlafen, also hatte er keine Probleme gehabt sie sich vom Leib zu halten.

Seine Rücksichtnahme hatte ihn allerdings nicht davon abgehalten im einzigen Bett der Wohnung zu schlafen. Wenigstens war es groß genug für zwei. Bei weitem groß genug.

Mach dir nichts vor, Peter. Wenn sie nicht weggetreten wäre, hättest du ihr schon längst gezeigt, wofür Männer in dieser Welt da sind.

Sie trug immer noch das sexy Kleidchen, und er hatte seine Shorts anbehalten, also bestand keine Gefahr, in etwas Kompromittierendes hineinzugeraten, während sie so betrunken war.

Es war extrem enttäuschend, wie der Abend geendet hatte. Nicht deswegen! Nein, er hätte noch so viele Fragen gehabt.

Obwohl sie immun gegenüber der "Werwolf-Seuche" war, blieb immer noch die Frage nach dem Essen. Sie waren zweimal mit der ganzen Abteilung zum Neujahrsessen in einem Restaurant gewesen, und Sandra hatte nicht gefastet. Die Pizzas, die sie heute Abend aufgewärmt hatte, waren zwar preislich weit jenseits von Peters finanziellen Mitteln, aber doch eine Standardmarke.

Sie nahm also genauso viele Polysteroide zu sich — 3,7,8-Polyestradiol, wie sie es genannt hatte — wie er und der Rest der Bevölkerung. Nach den Aussagen des alten Lexikons müsste sie schnell altern und sterben. Die Wandler konnten nur die ersten Jahrzehnte überleben, bis schließlich zu viele Telomerase-Fabriken zerstört waren.

Wenn sie ein Gegengift einnahm, konnte das ihm und den anderen unterdrückten Wandlern helfen, ihre Sinne trotz ihrer Diät zurückzubekommen. Er war kein objektiver Beobachter, aber er fühlte wie sein Gehirn langsam genauso verstopfte wie seine Nase.

*

Peter erwachte von Händen, die über seinen Körper strichen. "Hm", seufzte er mit geschlossenen Augen. "Das tut gut."

"Ich habe keine Ahnung, was ich als nächstes machen soll", murmelte Sandra in sein Ohr. "Ich weiß ja nicht, ob die Sachen aus diesen Liebesromanen Männern wirklich gefallen oder nur der Phantasie der Autorin entsprungen sind."

"Nur keine Angst", murmelte er zurück. "Ich sage dir schon, wenn mir etwas nicht gefällt. Soll ich mich erkenntlich zeigen?"

"Nein, bleib nur liegen. Ich will erst deinen Körper kennenlernen."

Er blickte auf die Uhr. Es war sieben Uhr morgens. "Wir haben nicht viel Zeit."

"Darum habe ich mich schon gekümmert. Ich habe mir einen Tag freigenommen."

"Und ich?"

"Du bist offiziell tot. Darum haben sich die Forces gekümmert. Anscheinend gab es genügend DNS-Spuren dafür, dass du in deinem Haus verbrannt bist. Thorsten ist auf einer schon lange geplanten Exkursion auf einem Einmann-Boot. Der Autopilot wird das Boot in den nächsten Sturm fahren, und dann dafür sorgen, dass es kentert und sinkt."

"Das hört sich verdammt professionell an."

Er fühlte, wie sie mit ihren Schultern zuckte. "Unfälle passieren hin und wieder. Leute verschwinden spurlos."

Das muss aufhören.

Aber dann war er nicht mehr in der Lage zu reden, geschweige denn klar zu denken. Ihre Hände bewegten sich an seinem Körper nach unten, bis sie die richtige Stelle gefunden hatten.

"Langsamer", stöhnte er auf. Keine Chance.

*

Einige Zeit später lag er immer noch auf dem Rücken, und Sandra küsste sich an seinem Körper entlang.

"Thorsten", sagte er plötzlich. "Was war mit ihm?"

"Was willst du wissen? Seine Aufzeichnungen sagen, dass er dir seine Geschichte erzählt hat."

"Sicher. Aber das erklärt noch nicht, wie jemand wie er genau hier im selben Institut wie du und ich landen konnte."

"Ich denke, er fühlte sich auch von dir angezogen. Er tauchte vor einem Jahr auf, zeigte mir seine Referenzen, die akademischen und die von den Forces, und ich stellte ihn ein."

"Sein schwedischer Akzent war nicht echt. Wo kommt er wirklich her?"

"Boston. Natürlich war sein Akzent falsch. Das ist eine der Sachen, womit die Forces den Anschein erwecken, dass die anderen Staaten noch existieren."

Peter schoss hoch. "Was heißt das denn?", keuchte er.

"Es gibt nichts Bewohntes außerhalb von Nordamerika. Europa liegt unter einer dicken Eisdecke. Es gab dort einen Atomkrieg, nachdem die Werwö — Wandler die russische Regierung übernommen hatten."

Peter konnte nur mit offenem Mund starren, während Sandra mit unbeteiligter Stimme weiter dozierte.

"In Afrika bekämpften sich die Stämme gegenseitig mit Fängen, Klauen, Sturmgewehren und Bomben. Die Überlebenden starben zusammen mit ihren Herden. In Indien fingen die Hindu-Wandler an, alle Moslem-Wandler umzubringen, die arabischen Moslem-Wandler mischten sich ein, und die Menschen waren Kollateralschaden."

Peter zwang sich zu atmen.

"Die Chinesen versuchten, ihre Wandler mit Giftgas auszurotten. Sie merkten zu spät, dass diejenigen, welche das Gas verteilen sollten, schon selbst Wandler waren. Und so weiter. Es gab eigentlich in jedem Land Minoritäten, die beschlossen, dass die Zeit für Revanche gekommen war."

Sie blickte ihn an, ihr Gesichtsausdruck ruhig. Das alles war genauso Geschichte für sie wie der Amerikanische Bürgerkrieg für ihn.

Lange vorbei, alle tot, warum sich darüber aufregen?

Nach langer Zeit erst konnte Peter fragen. "Und Amerika?"

"Die einzigen Unterschiede waren unsere Mondbasis und ein abgeschiedenes Labor, in dem Doktor Gibson das 3,7,8-Polyestradiol entdeckte."

"Bist du dagegen auch immun?"

Sandra lachte rau. "Niemand ist immun dagegen. Ich muss jeden Tag ein Gegenmittel nehmen."

"Wie groß ist dein Vorrat?"

Sie setzte sich auch auf. "Was denkst du?"

"Ich denke viel zu wenig im Augenblick. Ich möchte eine Lösung finden, wie die Wandler wieder über ihre vollen Kräfte verfügen können, ohne dass irgendjemand — Wandler oder Mensch — dabei sterben muss. Aber —" Er tippte gegen seine Schläfe. "— das Zeug macht mich dumm. Als ich in Kanada war, konnte ich ein Problem von der Größe eines kompletten Schachspiels im Kopf lösen. Jetzt bin ich froh, wenn ich nicht vergesse, das Licht einzuschalten, wenn ich in ein dunkles Zimmer komme."

Sandra legte den Kopf schief. "Ich kann behaupten, dass ich eine Packung verloren habe, ich kann mir eine extra für eine Exkursion besorgen. Das gäbe dir zwei Monate. Noch mehr und sie würden misstrauisch werden."

"Zwei Monate sind besser als gar nichts. Tu das, bitte."
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

Beitrag von Rainer Prem »

19

Sandras Bibliothek war eine Quelle der Weisheit. Ihre Bücher enthielten all das unterdrückte Wissen.

Der nächste Schock überfiel ihn, als er auf eine ungeschönte Bevölkerungsstatistik stieß. Die blühende Nation seiner Schulbildung, Heim für fast eine Milliarde Menschen, stellte sich durch diese kalten Zahlen als schwach besiedelter Dschungel heraus.

Nun, er hatte schon gewusst, dass nach der Erfindung der fliegenden Autos, die von sauberer Energie aus dem Weltraum angetrieben wurden, alle Straßen und Eisenbahnlinien zwischen den Städten aufgegeben, das Material recycelt und die Trassen wieder in den Naturzustand zurückversetzt worden waren. Alle Waren wurden nur noch von fliegenden Lastern transportiert. Irgendwelche erdgebundenen Langstrecken-Transportsysteme wie Eisenbahnen und Schiffe waren viel langsamer und weniger effizient.

Wenn man die Einstellung der "Menschheit" und der Forces gegenüber den Wandlern kannte, war es nicht verwunderlich, dass sie diese Entwicklung noch vorangetrieben hatten. Isolierte, sich selbst versorgende, Gemeinschaften waren viel leichter an die Leine zu legen als eine hochmobile Gesellschaft.

Peter hatte immer geglaubt, es gäbe Hunderte von Großstädten und zehntausende kleinerer Siedlungen in den Vereinigten Staaten.

Nada. Die Nation, die sich über den Kontinent von Mexiko bis Kanada erstreckte, bestand gerade mal aus etwa zwanzig "großen" Städten — jede davon im Durchschnitt mit einer Viertelmillion Einwohner — und umgebenden Wohnstädten für Leute, die lieber im Grünen wohnten.

Das war wenigstens ein gutes Zeichen. Auch in ihrem unterdrückten Zustand zogen es sehr viele Wandler vor, naturnah zu leben, selbst wenn sie dafür jeden Tag eine Stunde zur Arbeit fliegen mussten.

Die Nation hatte etwa zehn Millionen Köpfe. Millionen, nicht Milliarden.

Das Buch war aus Peters Händen gefallen, als er begann, über die Konsequenzen nachzudenken. Danach hatte er nicht die geringste Lust, noch mehr verstörende Fakten kennenzulernen und wandte sich sichereren Themen zu.

Geschichte zum Beispiel. Eigentlich langweilig. Nachdem die "Werkriege" von 2050 bis 2060 endlich vorbei waren, gab es im Prinzip keinerlei geschichtliche Ereignisse mehr.

Ganz im Gegensatz zu den Jahrhunderten davor. Die Zeit vor der Infektion war von Kriegen beherrscht gewesen, von Menschen, die sich gegenseitig aus ideologischen Gründen, Gier oder ungestilltem Sexualtrieb abschlachteten. Die Menschen hatten keinen Grund, ihre eigene Geschichte schwärzer darzustellen als sie gewesen war, also glaubte er den Büchern besser.

Er erschauerte, als er von Leuten wie Adolf Hitler, Josef Stalin oder Kim Jong Dal las. Offensichtlich hatten diejenigen beschlossen, die die modernen Versionen bereinigten, dass die Beschreibung von Massenmorden bei der unbedarften Leserschaft zu falschen Fragen führen würde.

"Und die nennen uns Bestien", murmelte er.

"Hast du etwas gesagt, Liebling?", rief Sandra vom Badezimmer.

"Ich rede nur mit mir selbst."

"Ach, leg doch diese schrecklichen Bücher weg und komm zu mir in die Dusche. Sie ist groß genug für zwei."

Tatsächlich war die Dusche groß genug für vier erwachsene Leute. Wie alles in Sandras Wohnung strahlte sie puren Luxus aus.

Eine Woche war vergangen, seitdem er offiziell für tot erklärt worden und Thorsten auf seine "Exkursion" gegangen war. Die Haie im Aquarium hatten ihre Arbeit offensichtlich gut erledigt. Sandra war zu ihrer Arbeit zurückgekehrt, und Peter konnte das Haus nicht verlassen. Seine Verbesserungen waren größtenteils wieder da, nicht alles, das Gegengift konnte wohl die Wirkung des Polysteroids nicht ebenso schnell aufheben wie das Gift in den Körper kam. Aber er konnte klarer denken. Nicht, dass ihn das bisher weitergebracht hatte.

Er seufzte. Eine Dusche mit seiner jungfräulichen Freundin, die ständig begierig war, etwas Neues auszuprobieren, war auf jeden Fall besser, als weiter deprimierende Bücher über Kriege zu lesen. Er zog seine Shorts aus. Mehr trug er in der Wohnung sowieso nicht.

Als er zum Badezimmer kam, klingelte es an der Tür. Er blickte auf die Wanduhr. Ach ja, es war Zeit für den Besuch von Ms. Alexa Miller, High Street 337, bei Ms. Alexandra Miller, High Street 373, mit der fehlgeleiteten Post — hoffentlich die nächste Lieferung mit dem Gegenmittel. Selbst Jahrhunderte der Weiterentwicklung hatten den Postdienst nicht von solchen Fehlern befreien können.

Eigentlich hatte er nicht mit irgendjemandem aus der Nachbarschaft reden wollen, aber als die Türglocke geläutet hatte — am ersten Tag, an dem Sandra wieder bei der Arbeit war — dachte er, es sei sie. Glücklicherweise war er ganz angezogen gewesen, als Alexa an der Tür stand.

Inzwischen war die andere Ms. Miller in das Geheimnis des jungen Liebhabers eingeweiht, von dem Alexandras Familie nichts wissen sollte.

Er schlang sich ein Handtuch um die Hüfte und hielt es mit einer Hand fest. Damit konnte er die Gespräche an der Tür auf jeden Fall abkürzen.

"Ms. Miller", sagte er beim Öffnen der Tür. "Was haben Sie denn diesmal?"

Aber da war keine Ms. Miller. Niemand stand da. Dann hörte er Husten von unten. Er schaute hinunter und sein Herz hörte auf zu schlagen.

"Angelina!"
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20

Rote Augen in einem bleichen Gesicht schauten Peter von unten an.

Angelina hustete noch einmal; für Peter hörte es sich sehr krank an.

"Wie …", begann sie, doch der nächste Hustenanfall brachte sie zum Schweigen.

"Nicht reden!" Peter blickte kurz nach links und rechts — Gottseidank war die Straße leer — dann ließ er das Handtuch fallen und hob Angelina in seine Arme.

Er wandte sich um, stieß die Haustür mit seiner Ferse zu und lief schnell ins Wohnzimmer. Dann ließ er die immer noch hustende Angelina auf das Sofa gleiten.

"Versuche, ganz flach zu atmen! Ich hole dir etwas."

Er rannte zum Regal, in dem das Gegenmittel lag, und nahm zwei von den Pillen. Dann jagte er in die Küche, um ein Glas Wasser zu holen.

"Wer war an der Tür, Liebling?", rief Sandra vom Wohnzimmer. "Oh", sagte sie dann.

Peter erstarrte. Ich bin ja so am Arsch!

Was für eine Szene! Sandra, splitterfasernackt. Er selbst, dito. Angelina, seine — äh — Freundin, Geliebte, Möchtegern-Wolfsgefährtin, auf dem Sofa, ihre Augen weit aufgerissen, ihr Gesichtsausdruck undurchdringlich.

Dann begann sie zu kichern, hustete, kicherte noch einmal und wurde vom nächsten Hustenanfall übermannt.

Er rannte hinüber. "Hier, nimm das!"

Angelina blickte ihn an. Ihre Augen glitzerten. Er brauchte nicht ihre Gedanken zu hören, um zu wissen, was sie dachte.

Glücklicherweise wirkte das Gegenmittel schnell. Schon eine Minute später konnte sie kichern ohne zu husten.

Sandra war inzwischen verschwunden und zurückgekehrt. Sie trug einen Bademantel und reichte ihm auch einen.

"Macht euch nur meinetwegen keine Umstände", sagte Angelina und stand auf. Jetzt war sie wieder ganz die Alte, feixte über das ganze Gesicht. Ihr Blick wanderte zu Peters Leibesmitte. "Es gibt nichts, was ich nicht schon gesehen hätte."

"Angelina, Sandra ist meine Chefin — äh — Ex-Chefin. Sandra, Angelina ist meine — äh —" Ihm wollte ums Verrecken kein passender Ausdruck einfallen.

"Begrüßerin", sagte Angelina und streckte Sandra eine Hand hin.

"Irgendwie habe ich das Gefühl", sagte Sandra lächelnd, während sie Angelinas Hand schüttelte, "dass eure Beziehung wohl etwas tiefer geht, als diese Bezeichnung vermuten lässt."

"Und ich habe irgendwie das Gefühl", sagte Angelina und musterte Sandra mit einem verwirrten Gesichtsausdruck, "dass eure Beziehung auch etwas tiefer geht als Ex-Angestellter und Ex-Chefin."

"Nicht so tief", warf Peter ein und wollte sich im gleichen Moment selbst in den Hintern treten.

Angelinas Blick wanderte von Sandra zu Peter. "Was ist los, Schnuckelchen?" Ihr Gesicht war plötzlich todernst. "Bist du plötzlich impotent geworden?"

Jetzt fing Sandra an zu kichern. "Er ist in die unerfahrenen Hände einer siebenundzwanzigjährigen Jungfrau gefallen."

Angelina winkte ab. "Dem können wir leicht abhelfen. Um das 'unerfahren' kann ich mich kümmern. Und wegen 'Jungfrau' —" Sie blickte demonstrativ auf Peters Bademantel, wo sich etwas versuchte, seinen Weg nach draußen zu bahnen. "Ich sehe kein Problem. Ihr etwa?"

Die zwei Frauen brachen in Gelächter aus.

"Ich mache Tee", sagte Peter panikerfüllt und floh.

Während er noch in der Küche beschäftigt war, hörte er das Wasser in der Dusche laufen. Als nach fünf Minuten immer noch niemand da war, nahm er das Tablett mit drei Tassen und folgte dem Geräusch ins Badezimmer.

Er hörte Angelina schon von weitem stöhnen. Waren die zwei wirklich so schnell so vertraut miteinander geworden? Seine Phantasie begann ihm Bilder vorzugaukeln …

"Ja, ja, ja genau daaaaa", ertönt Angelinas Stimme. Peter erstarrte. "Ooooo ist das gut."

Er öffnete die Tür einen Spalt, und sah, wie Sandra Angelinas Rücken mit einer Bürste bearbeitete. Okay, das war nicht ganz, was er erwartet — erhofft — hatte.

"Ooooo", machte Angelina gerade wieder. "Du ahnst ja nicht, wie gut das tut." Dann fiel ihr Blick auf Peter. "Wir müssen reden", sagte sie.

Peter hatte so einen abrupten Themenwechsel nicht erwartet, dennoch hatte er sich gut genug im Griff, um nicken zu können. "Das dachte ich mir schon."
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Rainer Prem
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

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21

"Keine Geheimnisse", sagte Peter und setzte sich auf den Sessel im Wohnzimmer. Sie trugen alle Bademäntel, und er war recht sicher, dass er wusste, wie der Abend enden würde. Es gab immer noch nur ein Bett in der Wohnung. Ein großes.

"Keine Ausflüchte", fuhr er fort. "Keine Lügen zwischen uns. So schmerzhaft die Wahrheit auch sein möge."

Sandra nickte.

Angelina nickte zögernd.

Peter wandte sich ihr zu. "Ich denke, im Augenblick haben Sandra und ich mehr zu erzählen, also sollten wir anfangen, und dann kannst du erst einmal darüber schlafen, bevor du uns erzählst, warum du hier bist. Ist das in Ordnung für dich?"

Angelina nickte, ihre Augen weit aufgerissen.

*

Nach einem langen erholsamen Schlaf erwachte Peter von den Berührungen von zwei Paar Händen. Es war der arbeitsfreie Tag in der Mitte der Woche, also musste Sandra nicht ins Institut. Und sie schien es weidlich ausnutzen zu wollen.

Er hielt die Augen geschlossen und genoss das Streicheln. Plötzlich hörte er Angelinas Stimme. "Du kannst ruhig deine Fingernägel benutzen, Sandra. Ein bisschen Schmerz verstärkt noch die Erregung, und wir Wandler heilen schnell."

Zwei Sekunden später stand Peter, nach Luft schnappend, neben dem Bett. Angelina grinste ihn an und zuckte ihre Schultern. "Vielleicht ein kleines bisschen weniger für den Anfang."

Sandra zog eine Schnute. "Aber er ist doch aus dem Bett. War das nicht der Sinn der Übung?"

*

"Maria meinte, du würdest mich brauchen", sagte Angelina beim Frühstück.

Peter schüttelte seinen Kopf. Marias Rolle als Orakel der Gemeinschaft passte immer noch nicht in seine Gedankenwelt. Der Prozess der Verwandlung war zwar seltsam, aber er hatte in Sandras Physikbüchern eine Menge über Dinge wie Paralleluniversen oder Wurmlöcher gelesen. Die Hin- und Herverwandlung verletzte grundsätzlich nicht den Energieerhaltungssatz, also wollte er eigentlich nicht an Magie glauben. "Was genau hat sie gesagt?"

Angelina zuckte ihre Schultern. "Nichts wirklich Spezifisches. Sie meinte du würdest in der Hölle brennen und dann vom Blitz getroffen werden."

Peter stöhnte auf. "Du denkst dir das doch nicht gerade aus? Mit all dem, was wir dir gestern Abend erzählt haben?"

"Peter", mischte sich Sandra ein. "Kannst du deinen Unglauben nicht einfach mal hintanstellen? Ich für meinen Teil glaube, was Angelina erzählt."

"Ihr macht gemeinsame Sache gegen mich", beklagte er sich. "Wie lange habt ihr noch gequatscht, nachdem ich eingeschlafen bin?"

Die Frauen blickten sich gegenseitig an. "Lange genug", sagte sie wie aus einem Mund und begannen zu kichern.

Sandra küsste ihn auf die Wange. "Lange genug, um zu wissen, dass Angelina nichts dagegen hat, wenn wir dich beide heiraten."

"Was? Heiraten?", keuchte Peter. "Wer sagt hier irgendetwas von heiraten?"

"Ich dachte", da war wieder Sandras Schmollmund, "das macht man so, wenn man seiner Freundin einen Braten in die Röhre geschoben hat."

"Was?" Peter fühlte Hitze aufsteigen. "Angelina", keuchte er. "Du bist schwanger?"

"Hm-ja", murmelte sie, ihren Blick auf ihren Teller gerichtet.

Sandra blickte erstaunt auf Peter. "Du hast es nicht gewusst?" Sie blickte vorwurfsvoll auf Angelina. "Du hast es ihm nicht zuerst gesagt?"

Angelina schüttelte den Kopf, ihre Augen fixierten das Brötchen auf ihrem Teller.

Peter zeigte mit dem Finger auf sie. "Du hast gesagt, das wäre kein Thema. 'Wir Wandler können unsere Fruchtbarkeit steuern', hast du gesagt."

Angelina zuckte ihre Schultern. "Ich wollte es", murmelte sie.

Dann richtete sie sich auf und blickte ihm in die Augen. "Du brauchst mich nicht zu heiraten, wenn du nicht willst. Eigentlich machen wir das auch nicht so in unserer Familie. Wir schlafen sozusagen herum, probieren so viele Genkombinationen aus wie möglich. Meine Geschwister haben alle unterschiedliche Väter."

Er holte tief Luft. Eigentlich hätte er sich ja sowas denken können. "Und dein Vater?"

"Er liebt all meine Mütter gleichermaßen. Er weiß, dass er ein Heim und eine Familie hat, die ihn liebt. Es kümmert ihn nicht, wen die Kinder seiner Frauen 'Papa' rufen."

Er schüttelte langsam den Kopf. "Ich habe keine Ahnung, ob ich so tolerant sein könnte. Aber warum hast du dich damit so beeilt?"

Angelina zuckte wieder ihre Schultern. "Es war das Richtige. Frag mich nicht, wieso, ich weiß es auch nicht. Ich wollte nie mein erstes Kind haben, bevor ich sechzig bin."

Er holte noch einmal tief Luft. Er hätte auch lieber gewartet, aber nun war es geschehen. Und eigentlich …

"Okay. Ich möchte eines sagen: Ich werde die volle Verantwortung für dieses — für unser — Kind tragen. Ich habe keine Ahnung, wie diese Welt aussehen wird, sobald — weißt du, was es wird?"

Angelina nickte. "Ein Junge. Was hältst du von 'Pierre'? Ich mochte immer, wie dein Name auf Französisch klingt."

Er nickte auch. "— wie diese Welt aussehen wird, sobald Pierre geboren wird. Wenn ich noch da bin, werde ich mich um ihn kümmern. Und um dich." Er wandte sich an Sandra. "Und um dich auch und alle Kinder, die du von mir haben willst." Noch ein tiefer Atemzug. "Und wenn das bedeutet, dass ich euch beide heiraten muss —" er schluckte "— dann mache ich das."

Sandra grinste breit. "Klasse! Kommt, Familienumarmung!"

Peter stöhnte auf.
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Rainer Prem
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

Beitrag von Rainer Prem »

22

"Angie", sagte Sandra viel später. "Du hast uns immer noch nicht erzählt, warum du da bist."

Sie saßen im Wohnzimmer, und Angelina probierte zum ersten Mal Sandras Whisky. "Boah, ist das Zeug gut! Wir brennen ja selbst, aber das hier ist kilometerweit davon entfernt."

"Hallo, Angelina", sagte Peter, "warum bist du hier?"

"Zwei Dinge. Maria hat gemeint, du bräuchtest etwas, damit du wieder zur Arbeit gehen kannst."

"Hast du vergessen, dass ich offiziell tot bin?"

Angelina wühlte in der Tasche herum, die sie mitgebracht hatte. "Ich bin sicher, dass ich das hier hineingesteckt habe."

Dann hatte sie eine Kordel in der Hand, auf die ein Stein aufgefädelt war. Es war offensichtlich dazu gedacht, um den Hals getragen zu werden.

"Komm her", sagte sie zu ihm,

Peter lehnte sich vor, und Angelina drückte ihm einen feuchten Schmatzer auf die Lippen. "Ahh, das habe ich gebraucht."

Dann legte sie ihm die Kordel um den Hals.

Peter runzelte die Stirn. Was sollte das sein? "Ich merke nichts."

"Ich sehe keinen Unterschied", meinte Sandra.

"Klar", sagte Angelina. "Es muss ja auch erst aktiviert werden. Du wirst aussehen, wie die Person, auf die du dich jetzt konzentrierst. Es sollte jemand sein, der am Institut nicht auffällt, aber der in nächster Zeit nicht da sein wird."

Peter blickte auf Sandra. Sandra blickte auf Peter. "Thorsten", sagten sie wie aus einem Mund.

"Gute Wahl — äh — hoffe ich", sagte Angelina. "Konzentrier dich jetzt."

Peter hatte immer noch seine Zweifel bei all diesem magischen Zeug, aber er tat wie geheißen. Sich in eine andere Person zu verwandeln war ja wohl nicht viel anders als einen Wolfskörper anzunehmen. Er versuchte, sich an seine letzte — nicht wirklich angenehme — Begegnung mit dem angeblichen Schweden zu erinnern, an sein blondes Haar, das rötliche Gesicht.

"Wow!", sagte Sandra. "Das sieht gut aus."

"Gut?" Angelina hatte Abscheu in ihrer Stimme. "Du müsstest mich dafür bezahlen, wenn ich den Typen anfassen sollte, geschweige ihn in mein Bett zu lassen."

"Ich war nie in deinem Bett."

Angelina winkte ab. "Details, Details. Sex unter freiem Himmel macht sowieso viel mehr Spaß."

Sandra seufzte verlangend.

"Bis man plötzlich einen Zweig im Hintern stecken hat", murmelte Peter.

Nachdem das Gelächter endlich erstorben war, meinte Sandra, "Was ist der zweite Grund? Abgesehen von meinem Training in erotischer Massage."

"Das allein wäre schon Grund genug gewesen", sagte Angelina, plötzlich wieder ernst. Sie wandte sich an Peter. "Maria muss dich vor dem nächsten Vollmond sehen, sagt sie."

Peter nickte. Die weißhaarige Frau durfte er nicht einfach ignorieren, Orakel oder nicht. "Vollmond ist am dritten um zwei Uhr morgens", sagte er ohne nachzudenken. "Das ist nächsten Mittwoch. Also muss ich am nächsten Dienstag dort sein. Von Winnipeg aus laufe ich fünf Tage, und es ist ein Tag dorthin mit dem Bus."

"Wir", mischte sich Sandra ein. "Wir müssen am nächsten Dienstag da sein. Du glaubst doch nicht, dass ich mir diese Gelegenheit entgehen lasse, eure Leute kennenzulernen. Ich habe ein Auto. Wir fliegen am Montagabend los und schlafen die Nacht durch. Da ist genug Liegefläche für uns drei. Das Polster ist Top-Qualität."

Peter runzelte die Stirn.

"Was?", fragte Sandra.

"Bist du wirklich soweit, ein ganzes Dorf voller richtiger Wandler zu verkraften?"

Sandra zuckte die Schultern. "Ich war schon mit zwei von denen im Bett, und keiner hat mich aufgefressen." Plötzlich errötete sie. "Äh — ich meine —"

"Aber du wirst dann im Institut vermisst", sagte Peter schnell.

"Ich werde eine Exkursion autorisieren für — äh — Thorsten und mich. Am Ufer der Hudson Bay entlang."

"Werden die Forces nicht dein Auto überwachen?"

"Darum kann ich mich kümmern", warf Angelina ein und begann wieder in ihrer Tasche zu wühlen. Dann holte sie ein großes Telefon heraus.

Wie? Peter starrte nur. Kein Stück Metall in New Hope, und hier schleppte die Frau ein Satellitentelefon mit sich herum?

Angelina begann zu sprechen. "Hi, Papa, wie geht’s? … Danke, mir auch. … Ja, ich benehme mich. … Nein, noch nicht. … Papa!" Sie zog eine Schnute. "Papa! Wir wollen nächsten Dienstag in New Hope sein. … Ja. Ich brauche jemand, der sich um unser Auto kümmert." Sie blickte auf Sandra. "Eine Woche? Ja, eine Woche. An der Hudson Bay entlangfliegen und Proben von Wasserlebewesen einsammeln. … Zwei Personen. Peter und seine Chefin. … Ja, genau die. … Nein, sie ist kein Sicherheitsproblem. Glaub mir. Ich verbürge mich für sie. Du wirst sie ja kennenlernen. … Ja, warte."

Sie richtete das Telefon auf Peter, dann auf Sandra und nahm zwei Fotos auf.

"Nein, das ist nicht, wie Peter normalerweise aussieht. Ich erzähle dir die Geschichte, wenn wir uns treffen. … Ja, der normale Treffpunkt. … Ja, ich kenne die Koordinaten … Papa! Ich bin erwachsen, falls du das noch nicht bemerkt hast. ... Ja. Ja. Ja. … Ich liebe dich auch. Tschüss!"

Dann blickte sie auf Peter. "Was?"

"Du hast ein Telefon?"

"He, wir sind schließlich keine Höhlenmenschen. Papa lebt in einer Holzfällersiedlung, fünfhundert Kilometer von New Hope entfernt. Das sind alles Freiwillige, die wie Außenseiter leben. Bevor ich hierherkam, war ich dort und habe mir einen Ausweis und das Telefon besorgt."

"Und sie schaffen es, kein Aufsehen zu erregen?"

"Ich sagte doch: Sie leben wie dumme Außenseiter. Sie haben ein Computerprogramm von der Regierung, das ihnen immer sagt, wo sie als nächstes arbeiten sollen. Onkel Russell — das ist der Vater von Mathilda — hat etwas damit gemacht, was er 'hacken' nennt, und jetzt können sie immer mal wieder einen kurzen Ausflug in die Gegend von New Hope machen."

Angelinas Stimme strömte so richtig Stolz auf ihre Leute aus. Es schien tatsächlich eine gut organisierte Truppe zu sein. "Und wie oft können die richtigen Urlaub machen?"

"Einmal im Jahr. Und ich kann dir eines sagen: Papa lässt so richtig das Tier raus, wenn er zu Hause ist."

Peter hob abwehrend die Hände. "So viele Details brauche ich nicht. Sie haben also zwei Leute, die uns ähnlich sehen, mit einem Auto umgehen, und uns eine Woche lang vertreten können?"

Angelina nickte.

Er wandte sich an Sandra. "Für mich hört sich das wie ein Plan an."
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Rainer Prem
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

Beitrag von Rainer Prem »

23

Nachdem sie gelandet waren, stellte Sandra das Auto im Schatten eines großen Baumes ab und sie warteten, bis Angelinas Vater auftauchte.

Auf einmal verdunkelte sich der Himmel. Ein Luftfahrzeug so groß wie ein ganzes Haus senkte sich langsam auf die Lichtung.

"Du hast uns aber nicht erzählt", meinte Peter zu Angelina, "was für ein Monster der Truck ist."

"Meistens kommen sie mit einem kleineren. Den hier benutzen sie als Wohnung, wenn sie längere Zeit im selben Gebiet arbeiten."

Das riesige Gefährt, das tatsächlich zum großen Teil aus einem Wohnhaus bestand, setzte sanft auf und wippte auf großen Füßen.

Ein hochgewachsener, breitschultriger Mann sprang heraus. Er hatte schwarzes Haar, trug einen dichten, schwarzen Vollbart und feste Kleidung. Ein Holzfäller wie aus dem Bilderbuch.

Angelina rannte los und sprang ihm in die Arme. "Daddy!", schrie sie. Dann flüsterte sie ihm etwas ins Ohr.

Sein Blick schweifte über Peter und Sandra. "Wirklich?"

Er winkte und die beiden kamen näher.

"Papa, das sind Peter und Sandra."

"Ich bin Arthur." Er schüttelte Sandras Hand und nahm dann Peters in den Schraubstock. "Ich denke, wir haben später genug Zeit, um zu reden. Ich komme mit euch ins Dorf. Aber eins nach dem anderen."

Er ließ Angelina herunter, öffnete eine Klappe am Truck, holte eine Tasche heraus und verteilte die übliche Kleidung. Natürlich ohne Fußbekleidung.

"Ihr könnte euch hinter dem Truck umziehen. Ich habe Beutel für eure Uhren, Telefone und Schmuck."

Er wies auf Sandra. "Zieht alles aus, auch die Ohrringe, und falls ihr irgendwelche Piercings habt, die auch."

Aber das war noch nicht alles. Als sie umgezogen waren, öffnete er eine Haustür.

Im Halbdunkel sah Peter einen Sessel stehen, der direkt aus einer Zahnarztpraxis zu kommen schien.

"Sandra", sagte Arthur und zeigte mit dem Finger auf ihr Gesicht. "Ich brauche deinen Zahn."

Sandra zuckte mit der Hand an ihre Wange. "Upps, den hätte ich beinahe vergessen."

Peter runzelte seine Stirn. "Wovon redet ihr?"

"Sie hat einen Peilsender in ihrem Backenzahn", meinte Arthur. "Es wäre wohl recht sinnlos, das Auto wegzuschicken, und den hierzulassen."

"Woher weißt du das?"

"Angelina hat mir am Telefon erzählt, dass Sandra mit den Forces zu tun hat. Die haben alle so einen Zahn."

Sandra blickte ihn fragend an. "Und trotzdem vertraust du mir?"

"Meine Tochter sagt mir, dass sie dir absolut vertraut. Mir reicht das." Er machte eine einladende Handbewegung zu dem Zahnarztstuhl. "Nur keine Angst, Mädchen, wir haben das Beste von Besten hier. Es hat mich eine Menge Gefälligkeiten gekostet, das Ding auszuleihen. Nun setz dich schon hin. Damit wir anfangen können. George und Silvia wollen auf ihre Hochzeitsreise gehen."

Die zwei jungen Leute, die inzwischen aus dem Truck ausgestiegen waren, sich aber die ganze Zeit im Hintergrund gehalten hatten, protestierten entschieden gegen diese Unterstellung.

Fünf Minuten später waren sie mit dem Zahn in einem Kasten auf dem Weg nach Osten.

Zehn Minuten später kam Sandra aus dem Haus, und Peter konnte sehen, wie sich ihre Zunge über einen frisch gebauten Ersatzzahn bewegte.

Sie lächelte. "Die sind verdammt professionell", sagte sie.

Peter lachte. "Das waren doch genau meine Worte über eure Art, mit Beweisen umzugehen."
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Rainer Prem
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

Beitrag von Rainer Prem »

24

Sandra fühlte sich zum ersten Mal seit Wochen richtig entspannt. Sie kuschelte sich im warmen Wasser der Frauenbadewanne gegen Angelina.

Das war ein Platz, wo sie den Rest ihres Lebens verbringen könnte. Nach einer Jugend in der Konservenbüchse von Mondstation, und den letzten beiden Jahren auf der verseuchten Erde fühlte sie sich wirklich frei.

"Die sollten den Zahn in die Hudson Bay schmeißen, zusammen mit meinem Auto und allem anderen."

Angie kicherte. "Meinst du wirklich, du kannst ohne dein Telefon überleben?"

"Wenn alle Menschen, die ich mag, in Rufweite sind, wozu brauche ich das dann noch?"

"Das überrascht mich aber. Hier bist du umzingelt von Leuten, die sich innerhalb von Sekunden in Bestien mit mörderischen Fängen verwandeln können. Heute Nacht ist Vollmond. Ich dachte du wärest wenigstens ein bisschen ängstlich."

Sandra grinste. "Du hast doch nur gehofft, du könntest mich trösten, weil ich das brauche."

"Und? Brauchst du es?"

"Du kannst mich so oft und so lange trösten wie du willst. Du brauchst doch keinen Vorwand dafür."

. . .

Jemand neben der Wanne räusperte sich.

Sandra öffnete ihre Augen. Neben der Wanne stand eine wunderschöne Frau mit schneeweißen Haaren, weißer Haut und blauen Augen. "Ichpochtli", sagte sie mit einem tiefen Knicks. "Willkommen in unserem bescheidenen Dorf."

"Was?" Sandra war wie gelähmt. Aus den Augenwinkeln sah sie totale Überraschung auf Angies Gesicht stehen. Sie rutschte etwas tiefer ins Wasser und hoffte, dass es ihre Brüste verdeckte.

"Mein Name ist Maria, und ich bin Eure ergebene Dienerin."

"Mein Name ist Sandra, und ich habe keine Ahnung, wovon du redest."

"Ich weiß", sagte Maria lächelnd. "Beides sogar." Dann zog sie schnell ihr Kleid über den Kopf und rutschte neben Sandra in die Wanne. "Ah", stöhnte sie wohlig. "Das habe ich gebraucht."

"Sie?", platzte Angie plötzlich heraus. "Sie kann doch nicht Diana sein. Sie ist noch nicht einmal eine von uns. Maria, sie ist ein Mensch."

Maria nickte. "Nirgendwo steht geschrieben, dass sie ein Wandler sein muss."

Sandra schnaubte. "Diana! Itschpotsch — was auch immer. Könnt ihr mir mal bitte erzählen, wovon ihr redet?"

Maria schloss die Augen. "Wir haben noch zwei Stunden Zeit, also können wir das ausführlich machen." Diese blauen Augen öffneten sich wieder und ihr Blick fiel auf Sandra. "Du bist Anthropologe?"

Sandra nickte. "Und Mediziner, Astronom, und noch ein paar andere Diplome. Ist das irgendwie relevant?"

"Das erste ist es. Bist du Christin?"

Sandra schüttelte den Kopf. Was für ein Themenwechsel. "Nicht wirklich. Wir feiern Weihnachten und Ostern, aber du kannst uns gerne schlampige Kirchgänger nennen."

"Der Gott der Christen ist ein männlicher Gott. Frauen sind noch nie wirklich mit ihm warm geworden."

"Äh —" Sandra wühlte in ihren Erinnerungen. "Er hat sich aus einem Stammes-Kriegsgott entwickelt. JHWH — Jahwe, der die Feinde der Kinder Abrahams tötete."

"Genau." Maria nickte. "Am Anfang des Jahwe-Kults, zumindest schrieben einige Historiker das, hatte er eine Ehefrau. Sie hieß Aschera, wurde aber abserviert, als das Volk Israel nach Babylon deportiert wurde. Dann im Neuen Testament gibt es Johannes den Täufer, Jesus und seine zwölf männlichen Jünger, und dann den heiligen Paulus mit seinem Frauenhass als erstem von vierhundert männlichen Päpsten und Zillionen männlicher Kardinäle und Priester."

Sandra nickte. Maria hatte schon irgendwo Recht, aber worauf wollte sie hinaus? "Okay. Frauen waren also in den monotheistischen Religionen der alten Welt massiv unterrepräsentiert. Und?"

"Frauen sind aber stärker spirituell veranlagt als Männer. Seitdem wir Wandler entstanden sind, fühlen wir den Einfluss, den der Mond auf uns hat. Du weißt schon: Luna, Selene, der Mond war immer eine Frau. Wir haben unsere eigene spirituelle Mitte gefunden, unsere Göttin. Die Griechen nannten sie Artemis, die Römer Diana …"

"Aber …", wurde sie von Sandra unterbrochen.

Maria blickte sie an. "Angelina, sag doch mal Sandra, was die Attribute der Göttin Diana sind."

"Sie ist die Göttin des Mondes. Sie ist Jungfrau. In ihrer Rolle als Luna hat sie fünfzig Töchter. Aber ich kann nicht sehen, was …"

Aber Sandra konnte. Selbst mit geschlossenen Augen. Es gab einfach zu viele Übereinstimmungen. Sie blickte auf ihre Freundin. "Angie, ich wurde auf dem Mond geboren. Ich könnte locker fünfzig — oder sogar fünfhundert — Töchter haben, wenn sie nicht alle Embryos getötet hätten. Und ich bin immer noch Jungfrau, wenn ich auch selbst nicht weiß, wieso."

Angelina nickte langsam.

"Und du kamst zu uns 'Bestien'", fuhr Maria fort. "Niemand hat dich gezwungen. Du bist Ichpochtli, die furchtlose Kriegerin der Azteken, Xochiquetzal, die Mondgöttin, die schönste aller Göttinnen; Vögel und Schmetterlinge folgen ihr auf dem Weg."

"Aber …" Sandras Stimme brach. Sie holte tief Luft. "Ich bin doch keine Göttin. Ich weiß das."

"Äh —", sagte Angelina.

"Still, Mädchen!" Sandra wandte sich an Maria. "Was erwartest du denn von mir?"

"Erwarten? Gar nichts. Kein Zwang. Sei einfach, wer du bist. Die schwangeren Frauen des Dorfes werden versuchen, dich zu berühren —"

Sandra stöhnte auf.

Maria lachte. "Wünsch ihnen einfach Glück. Mehr brauchst du nicht zu tun. Aber sag mir: Was erwartest du denn von dir selbst?"

"Ich? Glücklich leben bis an mein seliges Ende." Sie lachte unsicher. Ihren Frieden wollte sie. Oder sollte sie etwa mit Peter zusammen die Welt retten?

"Mit deinem Prinzen?"

Sandra nahm Angelinas Hand in ihre. "Mit unserem Prinzen."

Maria hob eine Augenbraue. "O, das ist etwas Neues! Äh —"

Angelina lachte. "Wir hätten das auf Video aufnehmen müssen. Maria weiß etwas nicht. Da ist ja sowas von saustark!"

Maria setzte ein ernstes Gesicht auf. "Benimm dich, Enkelin. Wenn du mich hier veräppelst, musst du die Konsequenzen tragen."

Angelina feixte. "Uh, jetzt hast du mir aber richtig Angst gemacht. Was sind denn die Konsequenzen?"

"Wenn du dich nicht benimmst, könntest du verheiratet sein, bevor die Sonne wieder aufgeht."

Sandra hielt ihren Atem an. Sollte das wirklich …? War das der Grund, warum Maria Peter hierherbestellt hatte? Und was war mit ihr? Bevor sie noch zu Ende gedacht hatte, wandte sich Maria ihr zu.

"Und du auch, wenn du gerade die Wahrheit gesagt hast."

Sandra seufzte. "O ja, das ist die volle Wahrheit."

"Aber …" Maria runzelte die Stirn. "Es besteht eine Gefahr. Wenn ihr die Ehe vollzieht …"

"Bin ich keine Jungfrau mehr. Ich lebe doch nicht hinter dem Mond." Sie lachte unsicher auf. "Nicht mehr …"

"Das ist nicht, was ich gemeint habe. Du bist menschlich. Du hast gesagt, dass du Medizin studiert hast. Erzähle uns doch, wie deine Immunität funktioniert."

Sandras Augen wurden weit. Ihr schwante da etwas. "Mein Immunsystem erzeugt schneller Antikörper als die Invasoren mich infizieren können."

Maria nickte langsam. "Dann nimm einfach mal an, dass dein Körper mit Millionen von Invasoren in wenigen Sekunden geflutet wird …"

Sandra holte tief Luft. "Meine Immunität wird versagen. Kann das passieren, wenn Peter mit mir schläft?"

Maria zuckte ihre Schultern. "Du bist kein Teil meiner Vision, deswegen kann ich das nicht mit Bestimmtheit sagen. Es kann sein." Sie zögerte und senkte den Blick. "Nein. Es wird ziemlich sicher sein. Insbesondere unter dem Vollmond. Insbesondere, wenn Peter der Eine ist, der Wandler, welcher viel mehr Energie aus dem Mond ziehen kann als wir anderen."

Sie blickte Sandra unsicher an. "Ja, Alexandra. Du musst befürchten, dass du als Wandler aufwachen wirst."

Sandras Augen öffneten sich weit. "Das … das wäre … wundervoll!"
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

Beitrag von Rainer Prem »

25

Als Peter von seinem Bad zum Blockhaus der Chamberlains zurückkam, traf er auf Jessica, Ruth und die Kinder. Angelina und Sandra waren immer noch verschwunden, genau wie Annie und Arthur. Na ja, bei den zwei Letzteren war es relativ klar, wie sie Wiedersehen feierten.

Im Haus war das reine Chaos. "Was ist los?"

"Ein Fest, ein Fest", sangen die Kinder im Chor.

"Wir müssen unsere besten Sachen anziehen", rief Melissa, Jessicas jüngere Tochter.

Kinder bei einer Vollmondfeier? Das hörte sich aber sehr verdächtig an. Hatte Angelina ihm einen Bären aufgebunden, wie es hier bei Vollmond zuging? Und warum hatte Maria ihn noch nicht kommen lassen? Sie hatte ihn doch vor dem Vollmond sehen wollen.

"Hier, Peter", sagte Ruth. "Ich habe einen von Arthurs Festanzügen kürzer gemacht."

Der Festanzug bestand wie alles andere aus Hemd und Hose, allerdings waren die aus feinerem Stoff.

"Ich habe deinen Lei geflochten." Mathilda, Jessicas ältere Tochter, hielt ihm einen geflochtenen Kranz aus blauen Blüten hin, damit er den Kopf durchstecken konnte.

Er blickte sich um. Die Kinder hatten ähnliche Kränze um den Hals, aber ihre Blüten waren rosa, rot, gelb und weiß. Er hatte gar nicht mitbekommen, dass hier so viele verschiedene Blumen wuchsen.

"Danke, Ruth. Danke, Mathilda." Irgendwie fühlte er sich überrollt.

*

Eine halbe Stunde später startete die kleine Prozession in Richtung zu dem Hügel, wo er Stephen getroffen hatte. Die zwei Mütter liefen plaudernd in der ersten Reihe; John mit feierlichem Gesicht neben Peter, und die Kinder in Pärchen dahinter, ununterbrochen kichernd und flüsternd.

Irgendwie kam ihm die ganze Marschordnung bekannt vor, aber er konnte seinen Finger nicht darauf legen, woher.

Auf dem Weg zum Fuß des Hügels ging die Sonne hinter ihnen unter, und der Mond vor ihnen auf. Es kam ihm vor, als hätte gerade jemand das Bühnenlicht für einen großen Auftritt eingeschaltet. Er fühlte sich immer unbehaglicher. Was hatten die Leute vor?

Dann erreichten sie die Kuppe. Trotz der Dunkelheit konnte Peter sehen, dass die ganze Fläche mit Leuten gefüllt war.

Kein einziger Wolf befand sich unter ihnen. Die alten Leute, die er an seinem ersten Tag vermisst hatte, blieben die meiste Zeit in ihrem Wolfskörper. Es war viel bequemer für sie, auf vier Pfoten herumzulaufen als auf zwei Füßen zu balancieren. Heute Nacht aber standen sie in ihren Menschenkörpern da.

Alle schienen gekommen zu sein. Die Erwachsenen standen in Kreisen, die Kinder saßen im innersten Ring vor ihnen auf dem Boden. In der Mitte stand eine Frau.

Maria.

Peter war unwillkürlich stehen geblieben, aber John begann an ihm zu ziehen, und er folgte, bis er in der freien Mitte direkt vor Maria stand.

"Liebe Freunde", begann sie, "wir haben uns hier zusammengefunden —"

O mein Gott! Habe ich wirklich versprochen, dass ich die beiden heiraten will?

Sein Blut rauschte so laut in seinen Ohren, dass er nichts mehr von dem hören konnte, was sie als Nächstes sagte. Stattdessen hörte er etwas anderes. Es schien ihm, als ob der Mond selbst eine Melodie spielte, nicht in seinen Ohren, sondern direkt in seinem Geist.

Bewegungen am Rand seines Gesichtskreises ließ ihn hochsehen. Von zwei Seiten näherten sich Leute. Von links kam Angelina, geführt von ihrem Vater. In Peters Augen sah sie noch mehr wie ein Engel aus als am ersten Tag. Ihr Kleid war reinweiß und trägerlos; eine Korsage betonte ihre Brüste, und der Rock bedeckte beinahe ihre Knie. Sie trug einen Lei um den Hals und einen weiteren auf dem Kopf in derselben Farbe wie Peters.

Von rechts kam Sandra. Abgesehen von ihrem blonden Haar, das sie als Zopf mit eingeflochtenen blauen Blüten trug, sah sie wie ein Spiegelbild von Angelina aus.

Ihren "Vater der Braut" spielte Stephen. Der alte Mann strahlte eine Befriedigung aus, die Peter selbst aus dieser Entfernung spüren konnte.

Dann standen die zwei Frauen links und rechts neben Peter. Er konnte ihre Aufregung riechen. "Wenn das hier vorbei ist", flüsterte er, "lege ich euch beide übers Knie und versohle euch den Hintern für diese Geheimnistuerei."

Die Bräute seufzten tief auf.

"Wie könnt ihr …" In dem Moment stießen zwei Ellbogen von beiden Seite zu.

Er blickte hoch. Offensichtlich war ihm etwas entgangen. Maria blickte ihn erwartungsvoll an. Dann hörte er hunderte von Leuten soufflieren.

"Ja, ich will", sagte er. Was sollte er auch sonst sagen?

"Alexandra Rowena Clara Magdalena Jessica Miller, willst du Angelina Carola Esmeralda Chamberlain und Peter O'Connor Rodriguez zu deinen Lebensgefährten nehmen?"

"Ja, ich will", sagte sie.

"Willst du diese Verbindung akzeptieren im Bewusstsein, dass sie dein Leben für immer verändern kann, es dich von deiner früheren Familie entfremden und in Lebensgefahr bringen wird?"

Was war das denn für eine Formulierung? Bei einer "normalen" Hochzeit stand das aber nicht im Skript.

"Ja, ich will", sagte sie. "Ich blicke freudig allem entgegen, was auch immer heute Nacht passieren mag."

"Kniet nieder."

Die zwei Frauen wandten sich an Peter, nahmen ihn an den Händen und zogen ihn nach unten."

"Im Namen von Luna —" eine Woge voller Liebe wusch über Peter hinweg "— Diana —" noch einmal "— Selene und Artemis, Han-'llat und Wadd, Chang'e und Chandra, und all der anderen Namen, die die Menschen in ihrer Geschichte für unsere Göttin gefunden haben, im Namen der Kraft und der Liebe, die sie uns allen schenkt, erkläre ich euch zu Lebensgefährten."

Peter holte tief Luft. Er hatte nicht bemerkt, dass er die ganze Zeit den Atem angehalten hatte.

"Steht auf. John, die Ringe."

John trat vor, ein Kissen in der Hand. Drei Pärchen von Ringen lagen darauf, gemacht aus bläulich glimmendem Stein.

"Da zwei von euch nicht mit unseren Sitten vertraut sind, will ich euch sagen, dass wir hier keine Metallringe austauschen, sondern solche, die aus den Geburtssteinen des jeweils anderen angefertigt wurden. Aus purem Zufall —" die Worte hallten laut in Peters Ohren "— seid ihr alle drei am selben Tag geboren, also erhält jeder zwei Ringe aus Mondstein."

Peter war sprachlos. Er hatte das von Angelina ja gewusst. Aber Sandra? Nun, dass sie nicht so alt war, wie ihr Gesicht aussah, hatte er schon ausrechnen können, bevor sie ihm erzählt hatte, dass es vor ihrem Einsatz auf der Erde chirurgisch verändert worden war, damit sie besser in ihre Rolle passte.

Aber dass sie in derselben Vollmondnacht, während derselben vollständigen Mondfinsternis — von der auf der Rückseite des Mondes natürlich nichts zu sehen war — geboren wurde, war ihm neu. Purer Zufall? Wirklich?

Die Ringe waren getauscht, die drei Jungvermählten blickten Maria an.

Sie trat einen Schritt zurück. "Und jetzt, Sandra, kommt etwas ganz Besonderes für dich. Wir wollen dir unsere Wertschätzung zeigen für das, was du getan hast und was du noch tun willst." Sie hob die Arme.
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Rainer Prem
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

Beitrag von Rainer Prem »

26

In einem Moment war die Hügelkuppe von Menschen bedeckt, deren weiße Kleidung im Mondlicht leuchtete. Sie waren scheinbar zwischen einem und achtzig Jahren alt, obwohl Sandra wusste, dass manche unter ihnen schon zur Zeit der ersten Infektion alt gewesen waren.

Im nächsten Moment war sie der einzige Mensch, der da noch stand, umgeben von hunderten von Wölfen. Alle kamen näher. Wann immer sie sich in ihrem Leben Werwölfe ausgemalt hatte, bestand das Bild hauptsächlich aus tödlichen Fängen und mörderischen Klauen. Nichts hatte sie auf das Bild vorbereitet, das zwanzig oder mehr Wolfswelpen abgaben, die auf sie zu rannten, an ihr hochsprangen, und sie unter ihren Körpern begruben.

Sie leckten ihr Hände und Wangen, und Sandra küsste ihre Schnauzen, kraulte ihre Ohren und umarmte sie. Lachend und weinend, von Liebe und Freude übermannt. Dann, wie auf Kommando, ließen alle von ihr ab, und sie konnte sich aufsetzen.

Danach kamen die Erwachsenen; einer nach dem anderen grüßte sie mit einer Verneigung und ließ sich von ihr in die Arme nehmen.

Alle kamen außer zweien. Als schließlich alle anderen im Dunkel der Nacht verschwunden waren, lagen die beiden vor Sandra auf dem Bauch, einer schwarz, einer weiß, und schienen sie voller Liebe anzulächeln.

"Renn!", meinte sie plötzlich zu hören, eine Frauenstimme mitten in ihrem Kopf.

"Was?" Sie stand langsam auf. "Meinst du …?"

"Lauf!" Das war Peters Stimme. "Genieße es!"

Barfuß in der Nacht durch einen unbekannten Wald laufen?

"Es wird dein Leben für immer verändern", hatte Maria gesagt. Und genau jetzt war der Moment der Entscheidung.

Bisher war alles harmlos gewesen. Die Werwölfe waren nicht im Geringsten wie in den Horrorgeschichten, sondern Leute wie du und ich, die ihre Form verändern konnten. Sie waren freundlich; sie hatte sie gerade in ihrer Gemeinschaft akzeptiert als der Mensch, der Sandra war — ihr Erzfeind, ihre Nemesis, eine von denen, die sie alle töten wollten.

Wenn sie jetzt stehen blieb oder nach Hause ging — wo immer "zu Hause" im Moment auch war — würde sich nichts ändern … es sei denn, sie folgte dieser Aufforderung. Aber das wollte sie doch, Veränderung. Was war das Leben ohne ein bisschen Spaß? Und was war Spaß ohne ein kleines Risiko?

Na dann, spielen wir Nachlaufen!

Sie dreht sich um und rannte los. Die Wölfe waren sofort neben ihr, der weiße zu ihrer Linken, der schwarze rechts. Sandra nackte Füße berührten den Boden als hätte sie ihr Leben lang nichts Anderes getan. Es kümmerte sie nicht, dass die Bäume schwarze Schatten warfen.

Immer wieder einmal beschleunigte einer ihrer Gefährten, schubste sie in eine neue Richtung. Ihr Vertrauen wuchs. Sie lief einfach, ohne zu sehen, wohin es ging. Die beiden würden nicht zulassen, dass irgendetwas sie verletzte.

Immer wieder einmal sprang einer ihrer Gefährten hoch, streichelte sie mit seinem fellbedeckten Körper. Ihr Kleid … langsam aber sicher löste es sich auf. Stücke des Rockes blieben immer wieder an Büschen und Zweigen hängen, an denen sie zu nah vorbeirannte. Die Korsage war am Rücken geschnürt. Gewesen, denn vor allem Angelina schaffte es, die Bänder wieder und wieder mit ihren Klauen zu zerschneiden. Und immer, wenn Peter hochsprang, riss er ein Stück Stoff mit seinen Fängen weg.

Inzwischen rannte Sandra vollständig nackt auf eine hellere Stelle zu. Da war Mondlicht vor ihr, schien auf eine kleine Lichtung. Plötzlich war Angelina zwischen ihren Füßen. Sandra stolperte, fiel — genau auf Peters nackten menschlichen Körper. Die Wucht des Aufpralls riss sie beide herum, und sie kam unter ihm zu liegen. Als hätten sie es eine Million Mal geübt, glitt er in sie hinein.

Dann lagen sie da, nur für einen Augenblick; genug Zeit für Angelina, sich neben sie zu legen und sie zu küssen.

Peters leuchtend blaue Augen waren alles, worauf sie schauen konnte. Er sagte kein Wort, er sah sie nur an, eine Frage in seinem Blick.

"Ja, ich will", flüsterte sie.

Und ihr Leben änderte sich für immer.
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Rainer Prem
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

Beitrag von Rainer Prem »

27

Sonne in den Augen weckte Sandra. So weit im Norden musste es wohl schon bald Mittag sein, und die Strahlen bedeuteten, dass sie weder ein Dach über dem Kopf noch Wände um sich hatte. Sie schloss die Augen wieder. Dann spürte sie eine leichte Brise auf ihrer Haut. Am ganzen Körper.

Sie hatte also in der kanadischen Wildnis geschlafen ohne einen Fetzen am Leib zu haben. Nun, das könnte man ja wohl als geändertes Leben bezeichnen.

Sie lag auf dem Rücken, zwei Wolfskörper links und rechts an sie geschmiegt, und ihre Hände kraulten gedankenverloren zwei fellbedeckte Rücken.

Sie holte tief Luft, und zwei verschiedene Gerüche erreichten ihre Nase. Einer war ganz sicher Rosenduft. Der andere …

"Das sind Chili-Enchiladas", hörte sie Angies Stimme in ihrem Kopf. "Unser Ehemann stammt schließlich aus Texas."

"Ich liebe das. Ich könnte mich an Enchiladas totessen."

"Wovon redet ihr beiden?", kam Peters gähnende Stimme.

"Dein Duft", dachte Angie.

"Lecker!", fügte Sandra hinzu.

Auf einmal fühlte sie Peter sich verwandeln und aufspringen. "Was?", rief er. "Was ist passiert? Sandra, geht es dir gut?"

Sie öffnete die Augen. "Ich habe mich noch nie in meinem Leben so gut gefühlt."

"Zeig's ihm", sagte Angie.

Ohne lang darüber nachdenken zu müssen, fühlte Sandra ihren Körper sich verwandeln. Sie lag immer noch auf dem Rücken, aber die Hand vor ihren Augen war jetzt eine Pfote, bedeckt mit blondem Fell. "Meine Klauen sind zu lang. Ich brauche eine Maniküre. Oder heißt das Klauiküre?"

"O mein Gott", schrie Peter. "Was habe ich getan?"

Sandra verwandelte sich wieder zurück. "Nichts, was ich nicht wollte."

"Aber du bist doch immun!"

Sandra stand auf und zuckte die Schultern. "Immunität wird überbewertet. Wann gibt es Mittagessen?"

Jemand musste in der Nacht auf der Lichtung gewesen sein. Auf einem großen Stein lag ein Kleid. Es war offensichtlich für sie gedacht, weil ihre beiden Ehepartner wieder in der "formalen" Kleidung von gestern steckten.

"O mein Gott", jammerte Sandra. "Mein Hochzeitskleid ist in Fetzen."

Angie blickte sie an und legte den Kopf schief. "Und warum ist das wichtig?"

"Ach, nur eine alte Sitte." Hochzeitskleider, und was man mit ihnen machte, war ein Thema in den Liebesromanen, die die gelesen hatte. Auf dem Mond hatte es seit der Infektion keine Hochzeit gegeben.

Wenn sie allerdings daran dachte, wie sie das Kleid verloren hatte … nun, das mochte eine gute Idee für eine neue Sitte sein, statt das Ding in einen Schrank zu hängen und nie wieder zu tragen.

Sie zog das Kleid über ihren Kopf. "Laufen wir zurück zum Dorf oder rennen wir als Wölfe? Ich habe keine Ahnung, wie weit weg wir sind."

"Es ist nicht weit", kam eine Stimme vom Waldrand. "Aber wir müssen uns zuerst unterhalten", sagte Maria und kam näher.

"Maria", jammerte Peter, "ich habe Sandra infiziert. Sie ist …"

Maria winkte ab. "Das wussten wir schon vorher."

"Und warum habt ihr mir nichts davon erzählt?"

"Wie hoch ist denn die Wahrscheinlichkeit", meinte Angie, "dass du nicht ausgebüxt wärst, wenn du es vorher gewusst hättest?"

Sandra zog eine Schnute. "Nicht existent. Ich müsste den Rest meines Lebens als alte Jungfer herumlaufen."

"Aber …"

"Können wir das Thema fürs erste verschieben?", Marias Stimme war todernst. "Ich muss euch etwas erzählen, was sonst niemand weiß." Dann verwandelte sie sich. "Und bitte unterbrecht mich nicht. Es ist auch so schon schwer genug, von etwas zu sprechen, was selbst mein Gefährte nicht weiß."

Sie wartete, bis sich die anderen um sie herum niedergelassen hatten.

"Meine Geschichte beginnt im Jahr 2050 …"
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Rainer Prem
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

Beitrag von Rainer Prem »

Marias Erinnerungen

Dr. med. Maria Hernandez blickte nach links und rechts, bevor sie die Straße zu dem alten Backsteingebäude an der Ecke Wills Avenue und East 145th Street überquerte. Nicht wegen der Autos, Verkehr in der Waagerechten war jetzt überall unterhalb von einhundert Metern Höhe verboten. Fünfhundert hier in Lower Manhattan.

Nein, Maria hielt nach anderen Gefahren Ausschau. Die South Bronx war immer noch eine der schlimmsten Ecken, wenn es um Kriminalität ging. Laut ihren Chef, Doktor Elias Gibson, war das genau der Grund, warum er seine Fruchtbarkeitsklinik hier angesiedelt hatte.

Die meisten ihrer Patienten hatten keine Krankenversicherung, und stellten keine Fragen, wenn Elias, Maria oder ein anderer von Elias' Ärzten an ihnen herumexperimentierten. Es stellte auch niemand anders unbequeme Fragen, falls einer ihre Patienten später tot aufgefunden wurde. Unfälle kamen manchmal vor.

Als Maria zu dem Team gestoßen war, wollte sie zuerst sofort wieder kündigen. Doch dann erfuhr sie, dass ihre Arbeit viel wichtiger war, als sich die meisten der Angestellten hätten träumen lassen.

Die Geburtenrate der USA sank seit über zwanzig Jahren immer weiter. Nicht, weil die Leute beschlossen hatten, weniger Kinder haben zu wollen. Dieser Trend war das ganze letzte Jahrhundert von Einwanderern aus weniger entwickelten Ländern ausgeglichen worden.

Nein, es gab immer mehr Paare, die verzweifelt versuchten, Kinder zu bekommen, es aber nicht schafften. In diesen zwanzig Jahren war der Ansturm auf Fruchtbarkeitskliniken landesweit immer stärker geworden.

Glücklicherweise war ein Angestellter des Bundesamts für Statistik als erster darüber gestolpert. Seine Chefs hatten ihn schnell zum Schweigen gebracht, bevor einer der Newsblogs davon Wind bekommen hatte.

Seitdem wurde die Geburtenstatistik im ganzen Land, dank der Künstlichen Intelligenz "Pascal" sorgfältig manipuliert, bevor sie Öffentlichkeit sie zu Gesicht bekam. Die Computer in allen Ebenen der Verwaltung bis hin zu den kleinsten Gemeinden in Kansas oder Alaska zeigte fasche Zahlen.

Wenn die Leute immer noch Ausdrucke benutzen würden, hätten sie es wahrscheinlich schon Jahre vorher bemerkt. Nun aber hatten die militanten Ökologen im Jahr 2033 ein komplettes Verbot der Papierherstellung erwirkt. Dauerhafte Ausdrucke jedweder Art wurden fünf Jahre später auch untersagt. Alle Daten wurden inzwischen nur noch digital gespeichert.

Als nun also die Bundesregierung die schwindende Geburtenrate zur Kenntnis nahm, begann sie im Geheimen eine Reihe von Forschungsgruppen zu finanzieren. Jeder, der von den geheimen Zuschüssen wusste, und eine gute Idee hatte, schwamm danach im Geld.

Wie zum Beispiel Doktor Elias Gibson. Er hatte vorher erfolglos als Gynäkologe in einer Kleinstadt in Maine gearbeitet. Jetzt war er der Direktor einer der größten Fruchtbarkeitskliniken von New York. Seine Politik, jedermann kostenlos zu behandeln, führte dazu, dass die Armen ihm die Tür einrannten.

Maria war immer noch kurz davor, zu kündigen, als er ihr eine Partnerschaft anbot.

"Maria, bitte", flehte er sie an. Er konnte schon ziemlich charmant sein. "Ich stelle dir die allerbeste Ausrüstung zur Verfügung, du kannst ganz ohne Druck forschen.

Und unabhängig, wer von uns die Heilmethode findet, werden unser beider Namen über dem Artikel stehen."

Sie war allerdings erst überzeugt, als er sein schwerstes Geschütz auffuhr. "Ich werde dich persönlich für den Nobelpreis vorschlagen, wenn du es schaffst. Du weißt wie außerordentlich meine Verbindungen sind."

Und, nun, hier war sie, auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz in der South Bronx. Bestochen vom Nobelpreis. Sie war nicht immer glücklich über diesen Gedanken.

"Hi, Gory, Don", grüßte sie die beiden hochgewachsenen Schwarzen, die rechts und links vom Eingang zur Klinik standen, Maschinenpistolen in den Händen. Sie waren Mitglieder der "Pius Fighters", der Straßengang, die sich nach der St. Pius-Kirche auf der anderen Seite der Straße benannt hatte. Die Klinik lag in ihrem Revier, und immer zwei von ihnen standen rund um die Uhr Wache. Bis jetzt hatte noch keiner seine Maschinenpistole benutzen müssen, aber wer konnte schon wissen?

"Hi, Mary", grüßte Gory zurück. "Hübsches Wetter heute", legte Don nach.

Maria blickte zum Himmel. "Ja, klar." Wenigstens regnete es nicht aus den dicken Wolken.

Sie betrat die klimatisierte Eingangshalle und verschwand in einem der Aufzüge.

*

Station Elf lag im dritten Untergeschoß. Ohne die richtigen Zugangsrechte kam hier keiner herein, und das galt auch für die meisten Angestellten der Klinik. Die Station bestand nur aus fünf vollautomatischen Intensivbehandlungseinheiten, perfekt abgeschlossenen Betten mit einem Lebenserhaltungssystem. In jeder von ihnen dämmerte ein Mann im Drogenkoma vor sich hin.

Wann immer einer dieser Klienten starb, verschwand er still und leise und wurde durch schon bald durch ein neues Versuchsobjekt ersetzt. Niemand vermisste drogensüchtige Obdachlose im Big Apple.

Maria überprüfte die Lebensfunktionen, als Elias hereinkam. "Irgendetwas Neues?"

Maria schüttelte den Kopf. "Nichts Positives. Das Perentyl-Hydrochlorid hat die Produktion von Spermien um zehn Prozent erhöht, aber sie sind immer noch zu achtundneunzig Prozent steril. Die Flagella ist viel zu kurz. Und dafür ist das Zeug viel zu gefährlich. Dieser hier hatte drei Herzstillstände während der letzten Nacht."

"Also ist das auch eine Sackgasse. Hast du schon mit der DNS-Therapie angefangen?"

Maria schüttelte wieder den Kopf. "Keiner von denen hier würde das überleben. Alle meine Simulationen führen zu einem systemischen Schock, sobald die Viren beginnen, die Stammzellen zu reprogrammieren. Der Klient muss in hervorragendem Zustand sein, bevor wir das verabreichen. Sollen wir unter den Angestellten nach Freiwilligen suchen?"

Elias begann durch den Raum zu laufen. "Nein, die sind alle zu gut ausgebildet um sie zu vergeuden. Wir müssen unter den normalen Klienten nach Testpersonen Ausschau halten."

"Aber wir brauchen Männer, und die sind immer nur kurz im Haus."

"Wie wäre es, wenn wir den Ehemännern kostenlose Übernachtungen anbieten, während ihre Frauen sich der Befruchtungsprozedur unterziehen? Wären drei Tage genug, um eine Reaktion zu sehen?"

"Ich werde eine Simulation laufen lassen, aber wir können nicht riskieren, dass hier zu viele Ehemänner verloren gehen."

Elias hielt an und zuckte die Schultern. "Wir lassen einen Hintergrundcheck laufen, sobald sie ankommen. Wenn sie keine Verwandten haben, wird man das Verschwinden eines Paares nicht bemerken."

Maria erbleichte. Eine Frau zu töten, nur weil ihr Ehemann die DNS-Therapie nicht vertragen hatte, schien ihr etwas hart. Dann fiel ihr etwas ein.

"Wie wäre es mit Gangmitgliedern? Diejenigen, die hier Wache stehen, sehen immer sehr gesund aus. Wenn wir einen Gangkrieg vortäuschen …"

Elias runzelte die Stirn. "Wir könnten dafür sorgen, dass die Forces nicht-tödliche Waffen benutzen, dann sollen sie alle für tot erklären und sie hierherbringen. Damit hätten wir zwei Probleme auf einmal erledigt. New York würde etwas sauberer werden, und wir hätten ruckzuck eine Station voller Testpersonen. Das ist eine hervorragende Idee."

Er blickte sich um und wedelte mit der Hand. "Lass die hier entsorgen. Wir reservieren die ganze Station für den Test."

*

Zwei Wochen später überlebte ein Klient die Therapie. Es war am Freitag, den 6. Mai 2050. Es war ein Vollmond und eine totale Mondfinsternis. Weder Maria noch Elias sahen eine Bedeutung darin. Nicht bis viel später. Maria und Elias waren viel zu begeistert, als Ali Ben Mustafa alias Fred Houston bis zum nächsten Tag, dem siebten Mai, überlebte.

Als Maria am Morgen des achten in Station Elf kam, war die Intensivbehandlungseinheit leer, in der Ali im Koma gelegen hatte. All diese Einheiten konnten auch von innen geöffnet werden, und niemand bemerkte die leicht verbogenen Scharniere bis viel später.

Nachdem Maria den Sicherheitsdienst benachrichtigt hatte, schob sie die offensichtlich defekte Einheit in den Frachtaufzug, damit sie zur Reparatur gebracht und durch eine andere ersetzt werden konnte.

Sie bemerkte nicht Alis Speichel auf den Handgriffen des Deckels, wo er die Einheit mit seinen Fängen geöffnet hatte. Es waren schon zwei Tage nach dem Vollmond, also stellten sich während der nächsten vier Wochen bei ihr keine offensichtlichen Symptome ein. Während dieser Zeit hinterließ sie jedoch ihre eigenen Körperflüssigkeiten auf einer Reihe von Türklinken und in mehreren öffentlichen Toiletten.

*

Ali Ben Mustafa schrieb die seltsamen Erfahrungen jener Nacht — nachdem er endlich wieder erwacht war — seinem früheren Drogenmissbrauch zu und schwor jeglichem zukünftigen Genuss ab.

Als er zurück in seinem Revier war — in menschlicher Gestalt und nur mit einem Krankenhaus-Hemd bekleidet — stellte er fest, dass seine komplette Gang verschwunden war. Irgendjemand hatte sie wohl verpfiffen; also plünderte er das Notfallversteck, rief sich ein Taxi und verließ die Stadt mit einem Flugzeug nach Los Angeles, um ein paar alte Freunde zu besuchen. Bei dieser Aktion ließ er DNS-Spuren im Taxi und vielen weiteren Stellen zurück, wo andere Menschen sie aufnehmen konnten. Vor allem sein kurzer Ausflug auf die Toilette im JFK International Airport hatte weitreichende Auswirkungen.

Als der Mond sich das nächste Mal rundete, hatte nicht nur Nordamerika ein "Werwolf-Problem".
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Rainer Prem
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

Beitrag von Rainer Prem »

28

Peter hatte aufgehört sich zu wundern, als er von Sandras Geburtsort und ihrer Familie erfahren hatte. Aber zu hören, dass Maria, die von allen Wandlern im Dorf die am höchsten geachtete Frau, direkt für die Herstellung und Verbreitung der Seuche verantwortlich war, stellte doch einen noch größeren Schock dar.

Ihm wurde schlecht, wenn er an die Menschenverachtung dachte, die sie bei ihrer Forschung an den Tag gelegt hatten. Menschen ohne weitere Gedanken umzubringen, konnte er nicht verstehen. Das Ziel konnte doch nicht solche Mittel heiligen. Sie hatten zwar letztlich mit ihren Forschungen Erfolg gehabt, eine neue und — nach seiner Meinung — viel besseren Spezies geschaffen, die die Welt von den Menschen erben würde.

Aber zu welchem Preis? Die neueste Bevölkerungszählung der Forces hatte eine Zahl von zehn Millionen ergeben, mit absteigender Tendenz. Die sogenannte Menschheit bestand aus ungefähr zweitausend, nur einhundert davon Frauen. Zwanzig Milliarden Menschen weltweit waren gestorben, niemand davon aus vernünftigen Gründen.

Die wenigen männlichen Menschen waren steril, und die Fruchtbarkeit der Wandler litt unter der lebenslangen Vergiftung mit dem Polysteroid.

Das musste aufhören. Die Menschen mussten überzeugt werden, dass Wandler keine Gefahr für sie waren, und selbst einer zu werden, keinen Abstieg darstellte. Dann konnten sie aufhören, das Gift zu verteilen, und alle konnten glücklich bis an ihr Ende leben.

Er schüttelte den Kopf. Natürlich würden die ehemaligen Menschen mit dem Ende der Vergiftung ihre natürliche Aggressivität zurückbekommen. Die Welt würde nicht plötzlich zu einem Paradies werden; die Menschen hatten schon immer einen Grund gefunden, sich gegenseitig umzubringen. Und Wandler brauchten noch nicht einmal Waffen dafür.

Wenigstens gab es erst einmal viel Platz damit sie sich nicht gegenseitig auf die Füße treten würden.

Man kann ja hoffen.

*

Angefangen mit Maria hatten alle sich zurückverwandelt und standen jetzt stumm in einem Kreis.

Sandra fühlte ihre Gedanken schwimmen. Sie räusperte sich. "Du sagtest, dass unser — äh — der 'Menschheit' hochverehrter Held direkt für die Seuche verantwortlich war? O Gott. Ich kann das nicht glauben.

Entschuldigung, Maria", fügte sie dann hastig hinzu. "Nur eine Redensart. Ich weiß, dass du nicht lügen kannst, wenn du in Gedanken zu uns sprichst."

"Das war genau der Grund", gab Maria zurück, "warum ich es auf diese Art getan habe. Meine Vision sagt mir nicht, wie es jetzt weitergeht, aber ich musste euch das erzählen." Sie schlug die Augen nieder. "Ich hoffe, ihr könnt mir meine Rolle vergeben."

Angelina war wie immer die Erste, die das Richtige tat. Sie rannte zu Maria und schloss sie in die Arme. "Ich liebe dich", sagte sie. "Und nichts, was du in der Vergangenheit getan hast, kann das ändern."

Sandra schloss sich ihr an, mit Tränen in den Augen. "Ich liebe dich auch. Die einzige Wahl, die du hattest, war die zwischen Pest und Cholera. Sozusagen."

Sie machte einen Schritt zurück. "Habt ihr denn je herausgefunden, was die eigentliche Ursache für die schwindende Fruchtbarkeit war?"

Maria schüttelte den Kopf. "Nach Juni 2050 hatte keiner mehr den Kopf weiter zu forschen. Als ich verstand, was Elias da ausgebrütet hatte, habe ich mich gefragt, wie er es geschafft hat, vor dem Atomschlag aus New York herauszukommen. Er war immer noch da, als ich mich nach meinen ersten Visionen aus den Staub machte."

"Hatte er hochgestellte Freunde?"

"Vielleicht."

"Ich", warf Peter ein, "frage mich etwas Anderes. Hast du denn in diesem ersten Monat vermieden, auf ihn zu treffen?"

"Aber nein", sagte Maria. "Wir haben uns sogar recht oft getroffen, um herauszufinden, was geschehen war."

"Und? War er immun?"

Sandra erstarrte.

Maria schüttelte den Kopf. "Ich habe nicht gesehen, dass er sich verwandelt hätte, aber, wenn ich es recht bedenke, hat sich sein Charakter schon deutlich verändert. Wisst ihr, zu schnüffeln, wann immer jemand den Raum betritt, in dem man sich aufhält, ist eine typische Wandler-Angewohnheit. Sobald ich erkannte, dass ich mich vor den Menschen verstecken musste, habe ich mir das sehr schnell abgewöhnt, aber vor dem ersten Vollmond taten wir es alle und machten unsere Witze, wie würzig die Luft in der South Bronx plötzlich geworden war."

Sandras Gedanken begannen zu wirbeln. Peter lachte auf.

"Was ist?", fragte Maria.

"Jetzt ist Sandra auf dem Hirntrip."

"Mach dich nicht über mich lustig! Das sind revolutionäre Nachrichten. Es würde alles verändern, wenn die Frauen auf dem Mond das wüssten. Wenn wir doch nur Beweise hätten…"

"Haben wir", sagte Maria leise.

*

Sandra blätterte vorsichtig die Seiten von Doktor Gibsons Tagebuch um, ihre Hände in seidenen Handschuhen.

Die Tinte war teilweise ausgebleicht und an anderen Stellen durch die Seiten hindurchgedrungen.

"Ich habe es gestohlen, bevor ich verschwunden bin. Ich wusste, wo er es versteckte."

Sandra nickte geistesabwesend. Sie war tief in der Lektüre des Dokuments versunken, versuchte die fast unlesbare Handschrift zu entziffern. Nichtsdestotrotz war sie überwältigt von dem Ausmaß an Bösartigkeit, die jede Seite ausstrahlte.

"Ich muss heimfliegen", murmelte sie. "'Professor' muss das sehen. Sie kann es bestimmt lesen."

"Sind eigentlich all eure künstlichen Intelligenzen weiblich?", fragte Maria.

Sandra blickte auf. Maria hatte diesen Ausdruck schon vorher benutzt. "Äh — ja, denke ich. Ich bin noch keiner männlichen begegnet. Warum?"

"Ich frage mich, was aus 'Protektor' geworden ist. Die Zeitungen waren damals voll des Lobes, wie hoch der Automatisierungsgrad der Mondstation war. Protektor war verantwortlich dafür, ankommende Meteore zu zerstören. Ganz allgemein sollte er die Basis auch vor allen unbekannten Bedrohungen schützen können. Er war die damals am weitesten entwickelte allgemein bekannte KI."

"Ich kann ja fragen."

"Hast du denn eine Funkverbindung zum Mond." Peters Stimme klang zweifelnd.

"Habe ich. Aber ich muss ihnen dieses Tagebuch bringen."

Maria starrte sie geschockt an. "Ich möchte dieses Dokument wirklich nicht verlieren."

"Wenn du eine bessere Idee hast — ich bin offen für Vorschläge."

"Zumindest", schlug Peter vor, "sollten wir es zuerst duplizieren. Wir jagen jede Seite durch den 3D-Scanner und machen ein richtiges Buch daraus." Er errötete. "Ich meine ein elektronisches Buch, mit Echtheits-Zertifikat."

"Wir bräuchten hundert Kopien", warf Angelina ein. "Mindestens. Wir können nicht riskieren, diesen Text zu verlieren. Er könnte bedeutsamer sein als die Prophezeiung."

Peter zuckte zusammen.

"Welche Prophezeiung?", fragte Sandra.

"Frag nicht", murmelte er.
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