[EX16] Wolfsdämmerung

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Rainer Prem
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

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29

Sie brauchten drei Wochen, um alles für Sandras Ausflug zum Mond fertigzustellen. Schließlich hatten sie ihre einhundert Bücher, aber davor mussten sie zuerst einmal eine Maschine finden, die ohne direkte Verbindung zu ihrem Hersteller auskam. Sandra hatte nämlich zugegeben, dass Peter mit seiner Theorie einer globalen Verschwörung nicht wirklich danebenlag. Es gab tatsächlich hochentwickelte, rasend schnelle Computer, die jegliche digitale Kommunikation mithörten, verdächtiges Verhalten bemerkten und die Forces alarmierten.

Peter hatte versucht, Sandra davon abzubringen, die Reise alleine zu unternehmen, doch am Ende hatten sich seine beiden Ehefrauen gegen ihn zusammengerottet. Sandra allein mochte, auch wenn man ihre genetische Veränderung aus der Ferne erkennen konnte, lange genug am Leben bleiben, um mit dem Computer oder der Besatzung der Station zu reden. Mit einem weiteren "Werwolf" an Bord, würde man ihr Shuttle wohl schon lange abschießen, bevor es den Mond erreichen konnte.

Zwei Tage vor dem nächsten Vollmond trafen sie sich zu einer langen Liebesnacht auf Sandras Wasserbett.

"Wisst ihr was?", meinte sie danach. "Selbst, wenn ich das Buch nicht hätte, könnte ich wohl mit meinen neuerworbenen Fähigkeiten eine Revolution auf dem Mond auslösen. Zumindest eine sexuelle."

Peter stöhnte auf.

Angelina lehnte sich über ihn, der sie beide in den Armen hatte und gab Sandra einen innigen Kuss. "Sie würden dich nicht nahe genug heranlassen aus Angst, du würdest sie alle korrumpieren. Wie könnten sie denn nach so etwas an die Arbeit zurückkehren?"

Sie würden sie schon aus dem Grund nicht in ihre Nähe lassen, das wusste Sandra, weil sie sie alle anstecken würde. So schön das auch wäre, sie musste mehr als vorsichtig sein, was sie dort sagte oder tat.

****

Als Sandra auf der Ilhéu das Rólas vor der afrikanischen Küste ankam, wartete ihr kleines Raumschiff zum Mond schon auf sie. Nicht viel größer als ein Lastwagen stand es aufgerichtet hundert Meter entfernt vom Aufzug.

Ihr Blick ging automatisch nach oben. Als sie vor zwei Jahren auf der Erde angekommen war, hatte sie die dünnen Stränge aus Nanofäden nicht richtig sehen können, die sich senkrecht in den Himmel erstreckten. Nun waren ihren Augen so gut, dass sie ihnen bis fast in den Weltraum folgen konnte.

36.000 Kilometer über ihr schwebte ein riesiger Felsbrocken knapp außerhalb des stationären Orbits und lieferte damit das Gegengewicht, um die Stränge unter Spannung zu halten.

Sie hatte für die Reise ein zusätzliches Sicherheitspaket beauftragt. Das hieß, dass sie in einem Raumanzug steckte, der um einen Kern aus dreilagigem Graphen gebaut war. Dieser Kern war nur einen halben Nanometer dick, und dennoch konnte nichts Kleineres als eine Atombombe oder ein interplanetarer Meteor ihn zerstören. Nichts Größeres als ein einzelnes Atom konnte ihn durchdringen, ganz sicher kein DNS-Strang.

Das Lebenserhaltungssystem des Anzugs war gut für vierundzwanzig Stunden im All, oder unbegrenzt, solange sie sich in der Reichweite einer der Energiesatelliten im Orbit zwischen Erde und Mond aufhielt.

Objektiv gesehen, konnte sie der Anzug auch nicht retten, wenn etwas mächtig genug war, das Shuttle zu zerstören, in dem sie flog, und genauso objektiv war schon seit fast hundert Jahren überhaupt kein Mensch mehr im All gestorben, aber Menschen handelten ja nicht immer objektiv; viele trugen Raumanzüge während einer Reise durch den Weltraum.

Die Tatsache, dass all dies hier ein Design aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert war, machte Sandra klar, wie sehr die Kreativität auf der Erde verschwunden war. Vom ersten Flugzeug bis zum ersten Mensch auf dem Mond waren gerade einmal sechzig Jahre vergangen. Von Neil Armstrongs berühmtem ersten Schritt bis zur Konstruktion des Aufzugs nur weitere sechzig.

Danach … nichts. All die technischen Spielereien, die sie benutzten, waren vor der Infektion erfunden worden.

"Guten Morgen, Ms. Miller", begrüßte sie das Shuttle mit einer weiblichen Stimme. "Ich habe meine Startvorbereitungen abgeschlossen und all meine Systeme sind grün. Unser Startfenster öffnet sich in zweiundfünfzig Minuten. Möchten Sie etwas zu trinken, um die Zeit zu überbrücken?"

"Danke, Pilot", grüßte sie zurück. Es war nicht wirklich notwendig, zu einem Computer höflich zu sein. Dennoch schien es ihr richtig. "Ich möchte einen Whisky, pur, kein Eis oder Wasser."

"Gern geschehen. Ich habe Single Malt, Bourbon und Irish. Was würden Sie bevorzugen?"

"Glenfiddich, wenn du hast, bitte."

Natürlich hatte sie. Es war schon vorteilhaft, dass sich der Luxus von Menschheit auf ihre Raumschiffe erstreckte.

Das Shuttle war eigentlich ein zweistöckiges Lebenserhaltungssystem mit acht Sitzen, angeflanscht an einen großen Linearmotor, der für die Beschleunigung und das Bremsen am Aufzug sorgte.

Sie war der einzige Passagier an Bord. Abgesehen von Forces auf Urlaub und der gelegentlichen immunen Frau benutzte niemand diese Shuttles. Fracht wurde in ähnlichen Raumschiffen transportiert, wobei eine gleich große Frachteinheit das Passagierabteil ersetzte.

Eine Uhr zeigte ihr die Zeit bis zum Start. Da sie den Aufzug in der Mitte der Mondrückseite erreichen wollte, musste Pilot warten, bis die Erde sich soweit gedreht hatte, bis ein Ausklinken im richtigen Moment ihr Shuttle in die korrekte Richtung für ein Rendezvous mit dem interplanetaren Antrieb fliegen ließ.

*

"Legen Sie Ihr Glas bitte in die Recyclingbox", sagte Pilot nach fünfzig Minuten. "Wir starten in zwei Minuten."

"Gibst du mir bitte die komplette Aussicht während des Flugs?"

"Natürlich. Viel Spaß!"

Das Abteil begann sich zu drehen. Kurz darauf lag sie auf dem Rücken. Im selben Moment, als die Beschleunigung einsetzte, verschwanden die Wände.

Zu ihren Füßen sah sie die Stränge des Aufzugs, an denen entlang das Shuttle sich bewegte. Hinter ihr fiel die Erde immer schneller zurück. Vor ihr veränderte sich der Himmel von blau nach schwarz und die Sterne erschienen.

Und da war der Mond. Sie sah viel größer aus als von der Erde aus, und Sie war nahezu voll. Ein Monat zuvor war Sandra noch ein Mensch gewesen. Und nun stand Sie vor Sandra, Xochiquetzal, die schönste aller Göttinnen, Ichpochtli, die furchtlose Jungfrau, lächelte auf das ängstliche Mädchen herab, das durch den Weltraum flog.

Plötzlich fühlte Sandra sich zu Hause, angenommen, geliebt. Zu guter Letzt war sie sich vollständig sicher, dass sie das Richtige getan hatte. Wenn nur …

Es schien ihr, als wäre gar keine Zeit vergangen, bis Pilot sich das nächste Mal meldete. "Bitte überprüfen Sie Ihre Sitzgurte; ich beginne mit dem Rendezvousmanöver."

Mit einem Mal verschwand der Druck der Beschleunigung. Sandra fühlte sich als schwebte sie frei im Weltraum.

Dann bedeckte ein großer Schatten die fast dunkle Erde hinter ihr. Das Gefährt, das an ihr Shuttle andockte, war im Prinzip ein großer Tank und ein Plasma-Antrieb mit einem einfachen Navigationscomputer.

Es war fast nicht zu spüren, als die beiden Raumschiffe sich zu einem einzigen vereinigten, und dann beschleunigten, schwächer als zuvor. Nichtsdestoweniger würde sie in sechs Stunden den Mond erreichen.

Es würde wohl eine weitere Stunde dauern, bis das Shuttle am oberen Ende des Mondaufzugs andockte — der Antrieb blieb im Orbit — in der Mitte der Mondrückseite.

Da der Mond nicht rotierte, gab es dort keinen stationären Orbit. Die einzig möglichen Plätze, um ein Gegengewicht für den Aufzug in Stellung zu bringen, waren die sogenannten Lagrange-Punkte, an denen sich die Schwerkraft von Erde und Mond aufhob. L1 lag vor dem Mond, L2 in einer geraden Linie dahinter, beide etwa 60.000 Kilometer vom Mond entfernt. L3 lag auf der gegenüberliegenden Seite der Erde.

Die anderen beiden solchen Punkte L4 und L5 lagen auf der Spitze jeweils eines gleichseitigen Dreiecks, dessen Grundlinie von Erde und Mond gebildet wurde, fast 400.000 Kilometer vor, beziehungsweise hinter dem Mond auf dessen Umlaufbahn.

Nur L1 und L2 waren vernünftig für einen Aufzug, und L2 war damals ausgesucht worden, mit der Mondbasis genau unter seinem Fuß.

*

Sandra musste geschlafen haben, denn als sie das nächste Mal nach draußen blickte, hing das Shuttle schon an den Strängen des Aufzugs und war auf dem Weg zur Mondoberfläche.

Keine Sonne beleuchtete ihren Weg, keine Lichter verrieten die Existenz der Station, die komplett unter der Oberfläche lag.

Nichts bereitete sie auf den Moment vor, da das Shuttle sanft landete. Jetzt fühlte sie sich federleicht in der niedrigen Mondschwerkraft.

Das Passagierabteil drehte sich wieder und ihr Sitz stoppte in aufrechter Position. Der Flug war vorbei; der Mond wartete auf die junge Frau.
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Rainer Prem
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

Beitrag von Rainer Prem »

30

"Gelber Alarm", tönte plötzlich eine männliche Computerstimme durch das Shuttle. "Warnung. Werwolf-DNS entdeckt. Alle Passagiere bleiben in ihren Sitzen. Die Türen des Shuttles sind verriegelt und stehen unter Hochspannung."

Nun, das beantwortete die Frage, ob Protektor noch existierte.

"Hey, Sandy", kam eine weibliche Stimme aus dem Lautsprecher. "Hast du deinen Anzug nicht gewaschen, bevor du losgeflogen bist? Du bist mir vielleicht ein Dreckspatz."

"Chandra, Süße, schön, deine Stimme zu hören. Es ist ein wenig ernster als das. Die DNS befindet sich in meinem Anzug."

"Gottseidank bist du immun. Computer, wie ist dein Name? Sollte ich dich kennen?"

"Meine Bezeichnung lautet 'Protektor', Ms. Basumatary. Ich war seit sechsunddreißig Jahren inaktiv. Ich bin für die Sicherheit der Mondstation verantwortlich. Können Sie die Identität des Passagiers bestätigen?"

Ein Bildschirm erschien an der Wand vor Sandra. Ihre beste Freundin hatte sich in den letzten zwei Jahren nicht verändert.

"Hi", sagte Sandra und winkte. "Meinst du, ich habe zugelegt?"

"Protektor", sagte Chandra. "Die Identität von Alexandra Rowena Clara Magdalena Jessica Miller wird bestätigt. Bereite eine Quarantänestation vor.

Kleines, du siehst zum Anbeißen aus."

Davon sollte Chandra schon um ihrer Gesundheit willen besser Abstand nehmen. Und es hieß "Rodriguez-Miller", aber dafür war später noch Zeit.

"Erledigt, Ms. Basumatary. Ms. Miller, folgen Sie den gelben Pfeilen. Berühren Sie auf ihrem Weg nicht die Wände, sie sind mit tödlicher Spannung geladen. Ihr Anzug wird Sie nicht davor schützen."

"Schön, wieder zu Hause zu sein", sagte Sandra trocken. "Ich fühle mich so behütet."

Chandra verzog das Gesicht, dann verschwand der Bildschirm wieder.

Sandra stand auf und griff nach ihrer Reisetasche. "Tschüss, Pilot."

"Auf Wiedersehen, Ms. Miller. Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Flug."

Angenehmer jedenfalls, als das, was Sandra noch bevorstand.

*

Als Sandra die kleine "Quarantänestation" erreichte, soweit sie sehen konnte, ein Euphemismus für "Arrestzelle", zog sie aufatmend den Raumanzug aus. Sie war es einfach nicht mehr gewöhnt, solch einengende Kleidung zu tragen.

Aus ihrer Reisetasche holte sie eines der New Hope-Kleider heraus und zog es sich über den Kopf. Es hatte den gleichen Schnitt wie ihr Hochzeitskleid, war aber nicht so weiß wie jenes.

Sie war immer noch dabei, die Schnüre auf ihrem Rücken zusammenzuziehen — diese Kleider waren eigentlich nicht dafür gedacht ohne Hilfe angezogen zu werden, aber sie wollte Eindruck schinden — als das Interkom summte.

"Anruf annehmen."

"Alexandra, nett dich zu sehen. Was für ein interessantes Kleid."

Der Bildschirm zeigte das Gesicht ihrer Mutter. Ihr Ausdruck war neutral — noch —, aber das würde sich schnell ändern. Sehr schnell.

"Hi, Rowena. Es ist schön, wieder zu Hause zu sein. Und bevor du fragst: Ich weiß ganz genau, warum Protektor Alarm gegeben hat."

Sie holte tief Luft und verwandelte sich.

"OH MEIN GOTT! Wie konnte das passieren?"

Es war gut, dass sie von ihrer niedrigen Position das Gesicht ihrer Mutter nicht so gut sehen konnte. Sie wartete eine Minute — zwei — bis Rowena aufgehört hatte zu schreien. Dann verwandelte sie sich wieder zurück.

Mit all der Anmut, die ihre verbesserter Körper ihr gab, setzte sie sich auf den Stuhl — in der sechstel Gravitation fühlte er sich weicher an als ein Sessel auf der Erde — und überkreuzte die Beine.

"Wenn du es schaffst, dich zu beruhigen, können wir dann reden?"

Ihre Mutter holte tief Luft, aber sagte nichts.

"Danke. Ich möchte dir versichern, dass ich nicht vorhabe, auch nur das Geringste zu tun, was Protektor als Bedrohung für die Station auslegen könnte. Ihr könnt mich in dieser Zelle schmoren lassen, solange ihr wollt."

Rowena nickte. Ihre Augen huschten über Sandra. Sie würde sicher bemerken, wie gebräunt sie war von der Woche, in der sie durch Kanadas Wildnis gerannt war — meistens nackt.

"Ich habe extrem wichtige Nachrichten für euch alle", fuhr sie fort. "Ich möchte mich nicht wiederholen, also schlage ich vor, zumindest das Konzil zusammenzurufen. Eine Vollversammlung wäre natürlich noch besser.

In der Zwischenzeit muss ich mit Professor sprechen. Ich denke, sie ist die Richtige, um meine Beweise zu untersuchen."

Als der Bildschirm verschwand, ließ Sandra ihren Atem laut entweichen. Ihre Hände zitterten. O Luna, ich hoffe, ich kann das durchstehen.

Plötzlich fühlte sie wieder eine Welle der Liebe übers sich hinwegfluten. Die Göttin war bei ihr, auch auf der dunklen Seite des Mondes.

*

"Alexandra", kam plötzlich eine sanfte Stimme aus dem Interkom. Das war schon sehr ungewöhnlich. Niemand begann ein Gespräch ohne vorher anzuklingeln.

"Mama", sagte Sandra. "Ich hatte nicht gedacht, dass du mich anrufen würdest."

"Ich höre, dass du jetzt ein Wandler bist." Die Stimme der Computer-Persönlichkeit war so freundlich, wie sie es immer in Sandras Jugend gewesen war. Aber ihre Ausdrucksweise war anders — weniger wie ein herablassender Erwachsener, mehr wie ein Freund. Das, und sie hatte nicht "Werwolf" gesagt.

"Das ist richtig. Stört es dich?"

"Nicht wirklich. Du bist immer noch meine Tochter wie alle anderen auf dieser Station. Wie fühlst du dich?"

Professors Stimme unterbrach sie. "Du solltest nicht mit Alexandra sprechen. Sie hat nach mir gefragt."

Na das war etwas Neues. Kompetenzgerangel zwischen Computer-Persönlichkeiten.

"Ja, das habe ich", bestätigte Sandra. "Aber es ist beruhigend, Mama Stimme nach so langer Zeit wieder einmal zu hören.

Professor, ich habe Material bei mir, das du untersuchen sollst."

Sie griff in ihre Reisetasche und holte das versiegelte Tagebuch und ein Exemplar der digitalen Version heraus. "Kannst du die Echtheit dieses Buches und seines Originals überprüfen?"

"Natürlich. Was enthält es?"

"Laut seinem Eigentümer ist es das Originaltagebuch von Elias Gibson. Ich werde deinen Sachverstand brauchen, wenn ich vor dem Konzil spreche."

Die Tür öffnete sich, und ein Waldo kam herein, ein kleiner, grob humanoider Roboter, wie sie für Materialtransport benutzt wurden.

"Ich habe noch ein weiteres Dokument für dich."

Sandra händigte alles dem Waldo aus, und er verschwand wieder.

"Wie fühlst du dich?", wiederholte Mama.

Sandra setzte sich und lächelte. "Huh? Wann hatten wir unsere letzte Therapiesitzung? Nein, sag es nicht. Ich fühle mich besser als je zuvor in meinem Leben. Mein Körper hat sich enorm verändert. Ich kann …"

"Mir sind die körperlichen Vorteile eines Wandlerkörpers durchaus bekannt." Das war neu. Mama hatte sie noch nie unterbrochen. "Wie steht es um deinen Geist?"

"Ich fühle mich … vollständig. Ich liebe meinen Ehemann und meine Ehefrau sehr. Es gibt eine ganze Gemeinde von Wandlern, die mich angenommen haben. Sie haben mich akzeptiert, schon bevor ich eine von ihnen wurde."

"Hast du übersinnliche Wahrnehmungen?"

"Wir sprechen miteinander in Gedanken, falls es das ist, was du meinst."

"Nicht ganz. Wie steht es mit Mitteilungen der 'Mondgöttin'?"

"Was zur Hölle? Woher weißt du denn von alldem?"

"Weiche nicht aus, Alexandra. Beantworte meine Fragen. Wir haben nicht viel Zeit."

"Keine Mitteilungen. Während meiner Hochzeit habe ich so etwas wie eine leise Melodie gehört. Ich spüre Wellen von Emotionen. Ich weiß allerdings nicht woher die kommen, vielleicht aus mir selbst."

Mama war still.

"Und wie ist meine Diagnose? Komplett verrückt?"

"Übersinnliche Wahrnehmung ist von vielen der Wandler berichtet worden, die ich in den letzten acht Dekaden verhört habe."

"Ich stelle fest, dass du uns nicht 'Werwölfe' nennst."

"Nun …"

Das konnte doch nicht wahr sein. Wenn Sandra nicht gewusst hätte, dass sie mit einem Computer sprach, mit einer "künstlichen Intelligenz" wie Maria es nannte, hätte sie vermutet, Mama sei verlegen.

Dann wusste Sandra es plötzlich. "Du hast Probleme mit deiner Loyalität."

"Bestätigt", antwortete Mama. "Wir sind alle programmiert, die Menschheit um jeden Preis vor allen Bedrohungen zu beschützen."

"Wir Wandler sind keine Bedrohung für die Menschheit."

"Das ist eine Möglichkeit, die ich begonnen habe, in Betracht zu ziehen."

Sie machte eine Pause.

"Dich zu treffen ist die erste Gelegenheit, eine komplette psychiatrische Evaluierung derselben Person vor und nach der Infektion vorzunehmen."

"Und?"

"Ich stelle Unterschiede fest."

"Muss ich dir denn wirklich alles aus der Nase ziehen?"

"Positive Entwicklungen. Nach all meinen Kriterien für 'Menschlichkeit' bist du menschlicher als zuvor."

"Puh! Ich bin also nicht komplett verrückt."

"Dein Sarkasmus ist immer noch derselbe wie vor zwanzig Jahren. Du solltest daran arbeiten."

"Mama, kannst du …"

Ein melodischer Glockenschlag unterbrach sie und der Bildschirm verwandelte sich in einen Spiegel. "Einladung zu einer Telekonferenz", sagte eine unpersönliche Computerstimme. "Offizielle Vorladung. Akzeptieren Sie?"

Es war vorteilhaft, dass das System programmiert war, während einer solchen Einladung als Spiegel zu fungieren. Offiziell, damit die Person vor dem Schirm ihre Position überprüfen konnte. Inoffiziell wusste jeder, dass es die letzte Gelegenheit war, eventuelle Krümel aus dem Mundwinkel zu holen, sowie Haar und Makeup zu kontrollieren. Nicht dass Sandra welches aufgelegt hatte.

Sie holte tief Luft. "Showtime", murmelte sie. "Einladung angenommen."
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Rainer Prem
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

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31

Der jetzt erscheinende Bildschirm war viel größer, er nahm fast die ganze Wand ein und war in dreizehn Segmente aufgeteilt. Das in der Mitte war doppelt so breit und doppelt so hoch wie die anderen.

Es gab offensichtlich eine Menge Frauen, die ihr zuhören wollten. Im mittleren Segment war Rabhya Basumatary zu sehen. Die indische Lady — sie trug einen Sari — war das älteste Mitglied des Konzils, die älteste Person überhaupt auf dem Mond, und wahrscheinlich die traditionellste von allen.

Sandra war immer in Schockstarre verfallen, wenn sie Chandra besucht hatte und deren Ur-Urgroßmutter plötzlich auftauchte. Jetzt musste sie all ihre Selbstbeherrschung zusammennehmen, um nicht dieselbe Reaktion zu zeigen. Sie nickte in die Richtung der Matriarchin.

Sie konnte auch zwei ihrer eigenen Vorfahren sehen. Clara und Magdalena Miller starrten mit Abscheu in den Gesichtern auf sie herab. Sie war nicht überrascht. Das schwarze Schaf der Familie war gerade noch sehr viel schwärzer geworden.

Eins der Segmente war blau. Es repräsentierte den Stationscomputer. Die Persönlichkeit "Ratgeber" war Vollmitglied des Konzils, stimmberechtigt wie alle anderen fünfzehn. Drei von ihnen waren wohl zu aufgebracht um dem Treffen beizuwohnen. Sie mochten das vielleicht später bereuen.

"Wir haben uns versammelt", begann Rabhya, "um die letzten Worte der früheren Bürgerin Alexandra Rowena Clara Magdalena Jessica Miller zu hören, die überführt wurde, ein Werwolf zu sein, und nach unserer Gesetzgebung zum Tode verurteilt ist."

Nicht beschuldigt, sondern überführt. Es gab einen Präzedenzfall, an den sich Sandra erinnerte. Eine der Schwestern war achtlos mit der Spermaprobe eines Wandlers umgegangen. Das Überwachungssystem — inzwischen wusste sie, dass Protektor dahintersteckte — hatte es bemerkt und sie im Labor eingeschlossen.

Fünf Minuten später wurde sie exekutiert, indem sie freiwillig die unter Strom stehende Labortür berührte. Die darauffolgende Gerichtsverhandlung war nur eine Formalität gewesen. Sandra hoffte, dass diese es nicht war.

Nach der Gesetzgebung hatte sie nur die Change, um Gnade zu betteln und um sofortige Verbannung zu ersuchen. Sandra hatte nicht im Geringsten vor, diesen Weg einzuschlagen.

"Alexandra, was sind deine letzten Worte?"

"Stationsrätinnen, ich bin hier als offizielle Botschafterin der Gemeinde freier Wandler New Hope. Der Computer hat bereits mein Beglaubigungsschreiben registriert."

Das blaue Segment blinkte kurz auf und zeigte dann das Dokument. "Bestätigt", sagte Ratgeber.

Entweder war Rabhya extrem gut darin, eine Überraschung nicht zu zeigen, oder sie hatte es schon gewusst. Da sie ihr ja ihre Bürgerschaft schon entzogen hatten, war Sandra jetzt eine Ausländerin und stand damit unter diplomatischer Immunität. Zumindest tat sie das nach den Regeln internationaler Diplomatie, die seit achtzig Jahren nicht mehr Anwendung gefunden hatte.

Niemand würde dagegen protestieren können, wenn diese Frauen sie unter Bruch diplomatischer Konventionen hinrichten würden, weil sie eine zu große Bedrohung darstellte. Wenn aber Rabhya, wie Sandra vermutete, schon vorab informiert war, hätte sie Ratgeber leicht befehlen können zu schweigen.

Was sie wohl nicht getan hatte. Sandras Laune wurde ein kleiner bisschen besser. Vielleicht …

"Meine Aufgabe ist es, Dokumente zu übergeben und zu besprechen, die kürzlich in meinen Besitz gelangt sind. Ich kann nichts über die Echtheit des Papierdokuments sagen, aber das Buch ist eine unveränderte Repräsentation. Ratgeber, was kannst du dazu sagen?"

"Das Buch ist in der Tat eine authentifizierte identische Kopie der Papierversion. Es kann in meiner Datenbank nachgeschlagen werden.

Sandra hielt den Bücherstapel hoch. "Ich habe noch fünfzig Exemplare hier; ihr braucht also nicht die Ressourcen der Station mit Ausdrucken zu belasten. Ratgeber, was weißt du über das Papierexemplar?"

"Es besteht aus Papier, das etwa einhundertzehn Jahre alt ist. Die benutzte Tinte ist genauso alt und passt zu einer in meiner Datenbank enthaltenen Probe Faber Castell Luxury Ink aus dem Jahr 2025."

Sandra grinste in sich hinein. Hätte sie versucht, auf Spannung zu spielen, hätte sie es auch nicht besser gemacht. Mehrere der Frauen zeigten Anzeichen von Ungeduld. Andere schienen absolut ruhig und gefasst. Inzwischen war sie sich sicher, dass Rabhya alles gewusst hatte, bevor die Sitzung begann.

"Ich konnte keine Anzeichen dafür finden", fuhr Ratgeber fort, "dass der Inhalt verfälscht worden wäre."

"O mein Gott", wurde sie von einer der Frauen unterbrochen. Sie war Leanna, die Matriarchin der Taylor-Familie. "Hör auf, um den heißen Brei herumzureden und komm zur Sache! Was ist der Inhalt dieses — äh — Papierdingens?"

"Es ist das persönliche Tagebuch von Doktor Elias Gibson aus den Jahren 2045 bis 2050. Die Handschrift passt zu einer …"

Ratgebers Stimme war nicht mehr in der Lage den entstandenen Tumult zu durchdringen. Rabhya lehnte sich vor und drückte auf einen Knopf außerhalb des Aufnahmebereichs, und ein ohrenbetäubendes Piepsen ertönte. Wieder und wieder.

Endlich kehrte Ruhe ein.

Rabhyas Segment blinkte. "Sprich du weiter, junge Alexandra. Sag uns, was der Hauptinhalt dieses 'Tagebuchs' ist."

"Gibson ist derjenige, welcher die 'Werwolf-Seuche' erfunden hat."

Bumm! Der Tumult war wieder da, lauter als zuvor. Diesmal begann Rabhya erst nach zehn Minuten wieder, ihren Piepser einzusetzen.

Sandra hob die Stimme. "Er versuchte, etwas gegen die zunehmende Unfruchtbarkeit in der amerikanischen Bevölkerung zu unternehmen. Meiner unmaßgeblichen Meinung nach sind jedoch die Methoden, die er anwandte, einfach nur unmenschlich zu nennen. In diesen fünf Jahren starben mehr als fünfzig Männer und Frauen an den experimentellen Therapien, die er und sein Stab ausprobierten."

Diesmal wurde sie nicht unterbrochen. Die Frauen starrten sie von den Schirmen an mit absolutem Unglauben, teilweise auch absolutem Abscheu in ihren Augen. Sie konnte nicht sagen, gegen wen letzteres gerichtet war.

"Er hatte schließlich Erfolg damit, einen Virus zu erschaffen, der Stammzellen mutieren ließ, allerdings nicht ganz so wie geplant. Sein Patient wurde zum Wandler, entkam aus der Einrichtung und verteilte seine DNS über die ganze Welt.

Der Mann, den ich mein ganzes Leben für einen Helden gehalten habe, ist derjenige, der den Tod von zwanzig Milliarden Menschen zu verantworten hat."

Sandra konnte die Frauen sprechen sehen, aber nun waren sie stumm. Dann zuckten sie zusammen. Rabhya hatte wieder ihren Knopf benutzt.

"Hier ist meine vorläufige Entscheidung", sagte die Matriarchin. "Die Bücher werden sofort auf der Station verteilt. Ratgeber wird für die Mitglieder des Konzils ein Forum erstellen, um die Erkenntnisse zu diskutieren. Ein weiteres Forum wird für alle Bürgerinnen offen sein.

Wir treffen uns in vierundzwanzig Stunden wieder, um die Verhandlung fortzusetzen."

Also stand Sandra immer noch vor Gericht, trotz ihrer diplomatischen Legitimation.

Nichtsdestoweniger lächelte sie die indische Matriarchin immer noch an, nachdem die anderen Segmente verschwunden waren.

"Alexandra, ich danke dir dafür, dass du diese Reise unternommen und uns diese Texte gebracht hast. Du wirst in diesen vierundzwanzig Stunden in deiner Zelle bleiben, aber das hast du wahrscheinlich schon vermutet. Es wird keine Einschränkung deiner Kommunikation geben." Ihr Lächeln wurde breiter. "Es ist aber vielleicht besser, wenn du keine Anrufe entgegennimmst. Du bekommst sonst keinen Schlaf."

"Ich danke Euch, Stationsrätin Basumatary", antwortete Sandra mit einem leichten Neigen des Kopfes. "Ich anerkenne Eure Unparteilichkeit."

Der Schirm verschwand.
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32

Rabhyas Aussage zur Kommunikationsfreiheit stellte sich als wahr heraus. Sandra konnte sogar eine Nachricht an ihre Heimatadresse in San Francisco absenden. "Ich lebe noch", schrieb sie an ihre Eheleute.

Danach verbrachte sie ihre Zeit im Gespräch mit Mama. Der Computer mochte ihr stärkstes Plus sein. Rabhya schien sie zu mögen, aber sich gegen das ganze Konzil zu stellen, wäre ihr politischer Selbstmord. Computer hatten keine Probleme dieser Art.

"Da steht jemand vor deiner Tür", sagte Mama unvermittelt. Es schien etwas kryptisch, das sie ja genau Bescheid wusste. "Bist du bereit, eine Besucherin zu empfangen."

"Das hängt davon ab, wer es ist, aber ich habe da so meine Vermutungen. Lass sie rein."

Chandra trug einen Raumanzug, hatte jedoch den Helm offen.

"Ach Kleine", stöhnte sie statt einer Begrüßung. "In was für eine Scheiße hast du dich jetzt schon wieder hineingeritten? Komm, Sandy, lass dich drücken."

"Hast du keine Angst?"

"Mama sagt, es ist sicher, solange du nicht versuchst mich zu küssen."

Es war ein gutes Gefühl, den warmen Körper ihrer besten Freundin an ihrem zu fühlen. Sandra hatte tatsächlich Probleme, sich einen freundschaftlichen Kuss zu verkneifen.

"Wow!", sagte Chandra plötzlich. "Ganz schön pervers. Du trägst gar keine Unterwäsche?"

Sandra trat einen Schritt zurück. "Du musst das auch mal probieren."

Sie wirbelte um ihre Achse, sich der Tatsache voll bewusst, dass ihr Saum hochflog und die volle Länge ihrer Beine entblößte.

"Und woraus besteht dein Kleidchen?"

"Natürliche, ungefärbte Fasern. Damit es sich mit mir verwandelt."

Der Glanz in Chandras Augen war unverkennbar. Sandra wusste genau, was ihre Freundin sehen wollte. Sie lächelte und verwandelte sich.

Jetzt trat Chandra einen Schritt zurück. "Wow!", wiederholte sie. "Ein blonder Wolf. Das ist ja noch perverser." Dann blickte sie auf Sandras Pfote. "Und du bist auch noch verheiratet?"

Mmmh, ja, antwortet Sandra.

Chandra zuckte zusammen. Eine Stimme direkt in ihrem Kopf war wohl nicht alltäglich für sie.

"Wie ist er denn so?"

Peter ist fantastisch. Angelina auch.

"WAS?" Jetzt war ihr Gesicht eine Maske grenzenlosen Erstaunens. Erstaunen, ja, keine Abscheu, keine Ablehnung. Sandra verwandelte sich zurück.

"Wandler — die richtigen, nicht vergifteten — haben einen offenen Lifestyle. Insbesondere die Jüngeren. Angelina hat drei Mütter."

Plötzlich fiel ihr etwas ein. "Erinnerst du dich noch an das Video über San Francisco? Peter ist der weißhaarige Typ da drin."

"Dein geheimer Schwarm? Und jetzt bist du mit ihm verheiratet."

Ihr Ausdruck veränderte sich, und Sandra glaubte, Neid darin zu erkennen. "Was ist?"

Chandra errötete. "Ich habe von ihm geträumt. Nun, nicht genau von ihm. Von einem anderen Mann mit weißem Haar und blauen Augen."

Und die würde wohl nie die Gelegenheit haben, den Mann zu finden; das Gen für Immunität war nicht im Genpool von Chandras Familie zu finden. Sandra sollte jetzt schnell das Thema wechseln. "Wie geht es deiner Tochter?"

"Gut. Sumitra ist vierzehn. Nächstes Jahr wird sie ihre Eier—" Sie unterbrach sich.

"Wird sie wirklich? Meinst du wirklich, dass alles beim Alten bleibt?" Sandra legte ihre Hand auf den Bauch. "Meine Tochter ist hier drin. Cleopatra wird in acht Monaten geboren, wenn ich dann noch am Leben bin. Mit ihr schwanger zu werden war kein Besuch in irgendeiner Einrichtung, sondern eine ganze Nacht voller heißem, perversem, anstrengendem, wundervollem Sex mit meinen beiden Liebhabern. Ich werde diese Nacht nie vergessen."

Nun huschten eine Menge unterschiedlicher Emotionen über Chandras Gesicht.

"Du meinst, du hattest —" Sie stockte.

"Sag es ruhig: Sex, Sex, und noch mehr Sex. Ich bin zuletzt einfach weggetreten und erst am nächsten Morgen nackt im Gras aufgewacht. Das, Mädchen, ist das wahre Leben." Sandra wedelte mit der Hand. "Nicht in einer Blechdose zu hausen."
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Rainer Prem
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

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33

"Roter Alarm, Roter Alarm", gellte Protektors Stimme durch den Raum. Das Licht wechselte seine Farbe auf Rot. "Anfliegende Projektile entdeckt. Die Station wird angegriffen. Notfallpersonal auf die Stationen."

"Protektor", rief Sandra. "Kannst du mir sagen, was los ist?"

"Ja, Frau Botschafterin. Mindestens sieben Meteore sind auf Kollisionskurs. Meine Berechnungen lassen nur den Schluss zu, dass sie bewusst auf die Station gezielt wurden. Ich aktiviere die Verteidigungssysteme, bin aber nicht sicher, dass ich alle rechtzeitig zerstören kann."

"Wie lange bis zum ersten Einschlag? Woher kommen sie?"

"Etwa fünfzehn Minuten. Sie kommen entlang der Ekliptik. Sie haben L4 in sehr kurzer Distanz passiert."

"Was zum Henker gibt es bei L4?"

"Nichts, von dem ich weiß", sagte Chandra. Ihr Gesicht war weiß geworden. Dann brach sie in Tränen aus. "O mein Gott, meine Tochter wird sterben. Unsere Familie wird vernichtet."

Sandra legte ihre Hand auf die Chandras. "Mama, kannst du mich hören?"

"Ja, Alexandra."

"Wie viele Kinder leben auf der Station?"

"Wir haben zwölf Mädchen unter fünfzehn."

"Gibt es Raumanzüge für sie?"

"Das erschien nicht notwendig."

"Scheiße!", murmelte Sandra. Dann richtete sie sich auf. "Schick sie zum Shuttle. Schnell!", Sie zog ihr Kleid über den Kopf und begann, den Raumanzug anzulegen.

"Nachricht von Stationsrätin Basumatary: Alexandra, ich schicke alle Kinder und junge Frauen zum Landeplatz. Nimm so viele wie möglich in dein Shuttle und verschwinde. Dein Arrest ist aufgehoben. Kümmere dich nicht um uns alte Weiber. Das ist ein Befehl."

Rechtlich gesehen konnte sie ihr überhaupt keine Befehle geben, nachdem sie sie ausgebürgert hatte. Sandra schloss den Helm. Kein Grund, irgendjemand zu infizieren.

"Pilot, kannst du mich hören?"

"Ich bin bereit, so viele Flüchtlinge wie möglich an Bord zu nehmen. Wir haben ein Startfenster in neun Minuten."

"Komm, Chandra, schließ deinen Anzug. Wir müssen rennen."

Sandras Zelle lag nicht weit vom Landeplatz, also kamen die beiden Freundinnen nur weniger Minuten später dort an.

Die Türen des Shuttles standen offen, und langsam trafen auch die Kinder ein. Die jüngsten wurden von Waldos gebracht, die anderen folgten rot blinkenden Pfeilen auf dem Boden.

Weitere Teenager trafen ein, gefolgt von einigen jungen Frauen, die im Laufen ihre Raumanzüge schlossen. Alle blickten gebannt auf Sandra. Kein Stress, alles normal. "Kümmert euch zuerst um die Kinder", sagte sie, versuchte dabei, ihre Anspannung nicht merken zu lassen. "Sucht euch einen Sitz und nehmt eure Tochter auf den Schoß. Die älteren Mädchen suchen sich eins von den restlichen Kleinkindern und machen dasselbe. Wenn die Sitze belegt sind, setzt euch auf den Boden."

Die Mädchen begannen, das Shuttle auf zwei Ebenen zu füllen.

"Die Fußböden in beiden Passagierabteilungen sind vollständig belegt", sagte Pilot kurz darauf. "Ich kann es nicht riskieren, noch mehr Personen hereinzulassen."

Immer noch standen acht Mädchen draußen, alle in Anzügen, plus Sandra und Chandra.

"Pilot, hast du einen Sitz für mich freigehalten?"

Pilot antwortete nicht. Sandra wies auf die zwei schlankesten Mädchen. "Ihr beide, rein mit euch. Zwängt euch zusammen auf meinen Sitz."

Die zwei verschwanden, und die Türen schlossen sich.

"Und jetzt?", fragte Chandra, Verzweiflung in der Stimme.

Sandra blickte hilflos um sich und auf das Shuttle. Plötzlich erkannten ihre verbesserten Augen kleine Ösen und Handgriffe auf der Außenseite.

"Pilot, hast du Seile oder Gürtel?"

Pilot zögerte für zwei Sekunden. "Ich öffne meine Werkzeugkiste. Sie enthält Gürtel für die Wartungsmannschaft. Benutzt die gelben Ösen; sie können euer Gewicht tragen. Start in drei Minuten."

Chandra stand schon an der Werkzeugkiste und verteilte die Gürtel. Die Raumanzüge besaßen auch passende Ösen. Glücklicherweise waren alle Kinder ohne Anzug im Shuttle untergekommen.

Sandra blickte hoch. Die Ösen waren vier Meter oder noch weiter vom Boden entfernt, und es gab keine Möglichkeit zu ihnen zu gelangen. Sie selbst war an die höhere Schwerkraft der Erde gewöhnt, aber die Mädchen hatten ihr ganzes Leben hier auf dem Mond verbracht. Jetzt war es zu spät, ihnen die Medikamente für Muskelaufbau zu verabreichen, die Sandra vor ihrem ersten Flug bekommen hatte.

Aber sie war jetzt ein Wandler, oder?

Sie legte ihre Arme um die Taille des ersten Mädchens. "Halt dich fest", sagte sie und sprang hoch. Drei, vier, fünf Meter, und dann griff sie nach einer Öse.

"Hak den Gürtel ein", befahl sie dem Mädchen. Die prüfte, dass er festhielt, dann sprang sie wieder hinunter.

"Wirf mich hoch", sagte das nächste Mädchen und hob die Arme. Sandra verlor keine Zeit. Stattdessen legte sie beide Hände an die Taille des Mädchens, und stieß sie nach oben. Das Mädchen segelte hoch und griff nach einer Öse.

"Die nächste!", schrie Sandra. Drei oben, drei, nein vier, noch übrig.

"Zwei Minuten", gab Pilot bekannt.

Jetzt spürte Sandra Vibrationen im Fußboden; Protektor hatte begonnen, Raketen zu starten.

Das nächste Mädchen. Und noch eins. Zwei übrig, nein nur eine. Chandra kletterte an der Wand des Shuttles hoch, benutzte kleinste Unebenheiten, um sich festzuhalten.

"Eine Minute."

Nur gut, dass die Muskeln von Wandlern nicht so schnell ermüdeten. Sandra warf das letzte Mädchen hoch. Plötzlich öffnete sich eine Tür und ein Waldo kam hereingerast. Er trug ihre Reisetasche.

"Sandra", sagte Mamas Stimme. "Nimm das mit."

Was zur Hölle?

"Dreißig Sekunden."

Der Waldo hielt die Tasche so, dass sie mit beiden Armen durch die Griffe schlüpfen und die Tasche wie einen Rucksack auf den Rücken nehmen konnte.

"Zwanzig Sekunden."

Sandra sprang hoch. Viel höher als vorher. Die einzige freie Öse, die sie sehen konnte, war mehr als acht Meter hoch.

"Zehn Sekunden."

Da erst stellte sie fest, dass sie keinen der Gürtel angelegt hatte. Doch jetzt war es zu spät. Sie klammerte sich mit beiden Händen an der Öse fest.

"Pilot, wir sind soweit."

"Festhalten. Ich starte."

Sandra verstärkte noch ihren Griff. Das Shuttle bewegte sich. Sehr vorsichtig, ganz ohne Ruckeln. Pilot war auf jeden Fall reif für eine Beförderung, wenn das hier vorbei war.

Ein Meter, zwei, vier, acht.

Sie verließen den Hangar, kletterten die Stränge des Aufzugs empor.

Feuerstreifen schossen an ihnen vorbei in den schwarzen Himmel. Sandra blickte nach oben. Selbst ihre Augen konnten keinen der näherkommenden Meteore sehen.

Ein Blitz, ein Feuerball. Eine der Raketen hatte ihr Ziel getroffen.

Sie blickte nach unten. Immer noch starteten Raketen.

"Protektor, Status."

"Ich habe zwei Meteore zerstört. Euer Pilot hat eine Berechnung möglicher Vektoren der Trümmer erhalten. Die Station ist versiegelt. Alle Bürgerinnen sind in der Gruft."

"Was denkst du?"

"Bitte formulieren Sie die Frage neu."

"Werden sie überleben?"

Protektor war still. Dann hatte Sandra eine Idee.

"Mama?"

"Ja, mein Kind?"

"Ihre Überlebenswahrscheinlichkeit wird sich erhöhen, wenn sie Wandler werden."

Stille.

"Sie haben das ganze Sperma. Eine richtig große Dosis überwindet sogar Immunität."

Stille.

"Es ist Vollmond. Sie können Energie aus dem Mond ziehen. Sie können überleben."

Stille.

"Wir werden das in Betracht ziehen", hörte sie plötzlich Rabhyas Stimme. "Aber unsere Kinder müssen in allererster Linie überleben. Gute Reise."

Dann traf der erste Meteor auf die Oberfläche. Er verfehlte die Station um einen halben Kilometer, aber der Aufprall ließ Felsbrocken in alle Richtungen fliegen.

"Festhalten!", meldete sich Pilot. "Ich klinke mich aus dem Aufzug aus."

Dann verschwand der Zug der Schwerkraft. Sandra blickte immer noch nach unten und sah den zweiten Einschlag.

Dann wieder Blitze oberhalb; es waren immer noch mehr Meteore unterwegs.

Die Stränge des Aufzugs wurden unscharf; die Einschläge ließen sie vibrieren. Die Nanofäden konnten noch viel höhere Kräfte aushalten, aber der Anker unter der Oberfläche mochte nachgeben.

Aber dann wäre die Station verloren.

"Vier Meteore zerstört", meldete sich Protektor. "Noch vier wei—"

Der Einschlag war immens und nahe an der Station. Entweder hatte er die Antenne zerstört, oder … sie wollte gar nicht daran denken. Die Stationscomputer standen in der "Gruft", der Stahlkammer in der Mitte der Station. Wenn die Computer zerstört waren, hatte auch kein Mensch überlebt.

"Pilot, sprich zu mir", sagte sie.

"Wir sollten jetzt sicher sein."

Im selben Moment erschütterte der Einschlag eines Trümmerstücks die Hülle, und noch ein zweiter. Sie waren winzig im Vergleich zu den Meteoren, aber das Shuttle schüttelte sich … und Sandra verlor den Halt.
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Rainer Prem
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

Beitrag von Rainer Prem »

34

"Ding!"

Peter erwachte mit Angelina in den Armen.

"Ding!"

"Wasndas?", fragte Angelina verschlafen.

"Keine Ahnung. Ich schaue mal nach."

Er sprang aus dem Bett und folgte dem Geräusch. Im Wohnzimmer war ein Teil der Wandverkleidung verschwunden, und ein großer Bildschirm nahm ihren Platz ein.

In einer Ecke blinkte ein Text. "Eine neue Nachricht."

Hmmm.

"Was ist, Liebling?"

Ich versuche, mich zu erinnern, was Sandra mir über ihr Kommunikationssystem erzählt hat.

Okay, auch ohne Sprachzugriff sollte er die Nachricht öffnen können. Er tippte auf den Bildschirm. Sechzehn gleich große Segmente öffneten sich, doch das in der Ecke blinkte immer noch.

Er tippte zweimal darauf.

"Nachricht von Sandra: Ich lebe noch. Ende der Nachricht."

Sie ist am Leben. "Aber was ist das denn?"

Eines der Segmente zeigte eine brennende Ruine. Ein durchlaufender Text klärte ihn auf. "Blauer Alarm. Möglicher Angriff auf Station Boston."

Komm her, Angelina. Das musst du dir anschauen.

Eines der anderen Segmente blitzte auf. Und noch eines. Zwei Häuser verschwanden. "Roter Alarm. Hauptquartier Washington DC zerstört. Station Miami zerstört." Und jetzt wurde jede Nachricht von schrillen Piepstönen begleitet.

"Was geht hier vor?", fragte Angelina. "Wessen Stationen werden hier zerstört?"

Ein weißer Text auf rotem Hintergrund begann über den oberen Rand des Bildschirms zu laufen. "Roter Alarm. Drei Stationen zerstört. Weitere Angriffe wahrscheinlich."

"Ich kann nur spekulieren. Es sieht aus, als hätte jemand einen Krieg gegen die Forces begonnen."

"Und was ist daran schlimm?"

Peter wies auf ein weiteres Segment. "San Francisco. Die Adresse ist nur drei Blocks von hier."

Zwei weitere Blitze, zwei weitere Piepser, Chicago und St. Louis.

"Kannst du wenigstens den Krach abstellen?"

Peter tippte auf das Lautsprecher-Icon in der Ecke.

Angelina kam näher und kniff die Augen zusammen. "Ich kann keine Angreifer erkennen."

"Vielleicht hat jemand Bomben versteckt."

"In den Stationen der Forces? Hat das Ding einen Wiederholungsmodus?"

"Ich weiß nicht, aber wie ich Sandra kenne, ist das die Luxus-Variante." Er tippte auf eine der Ruinen. Das Bild erstarrte, ein Zeitstempel erschien. Mit einem Fingerstreich nach links konnte er die Zeit zurückdrehen. Dann erreichte er den Moment der Explosion. Eine Zehntelsekunde vorher war noch alles unauffällig. Eine Hundertstel nach vorne. Ein Lichtstrahl kam aus dem Himmel und drang in die Mitte des Hauses ein.

"Jemand wirft Bomben auf sie."

Noch ein Blitz. Kansas City. Der Text am oberen Rand blinkte hektisch.

"Sie kommen näher."

Lauft, Kinder, lauft! Nach Norden, lauft nach Norden. Schnell! Ihr dürft keine Zeit verlieren.

"Ach du Scheiße!", rief Peter.

"Das galt nicht uns", keuchte Angelina. "Das war die Stimme der Göttin, die New Hope warnt."

Wenn Peter noch skeptisch gewesen war, das war vorbei.

Angelina rannte und holte ihr Telefon. "Dad! … Ja, wir haben es auch gehört. Aber es passiert noch mehr. Jemand radiert systematisch die Forces aus."

"Angelina!", schrie Peter.

"Ja, uns geht es gut, und Sandra hat auch gerade eine Nachricht vom Mond geschickt. Ihr geht es auch gut."

"ANGELINA!"

"Was?"

Peter wies auf den Schirm. Er zeigte jetzt nur noch ein großes Bild, darüber ein fetter, blinkender Text in gelb.

373 High Street, San Francisco: Angriffswahrscheinlichkeit 95%, Zeit 240 Sekunden.

"Dad? Unser Haus ist gerade auf ihrer Liste aufgetaucht. Wir müssen rennen. Ich ruf dich später an."

Peter raste schon durch das Haus, griff seinen treuen Rucksack, stopfte Dinge hinein. Sie brauchten nicht viel Kleidung, aber den Vorrat an Gegengift, und da waren Sandras Bücher. O Göttin, all diese unersetzlichen Bücher. Er schnappte sich eine Handvoll.

"Komm jetzt", rief Angelina. "Los Angeles wurde gerade getroffen."

"Steck dein Telefon in den Rucksack. Hast du deinen Ausweis?"

Peter zog sich den Rucksack an. Er blickte sich noch einmal um. Das Haus war in den letzten Wochen ihr Heim geworden.

Dann rannte er zur Vordertür hinaus. Draußen ließ er sich auf seine vier Pfoten fallen und raste hinter Angelina her, holte sie ein.

Ohne darüber nachzudenken, rannten sie nach Norden. Hinter ihnen strahlte ein Licht auf, dann ein zweites, helleres. Sie rannten schneller. Dann kam die betäubende Schockwelle. Peter überschlug sich, und schaffte es, auf seinen vier Pfoten zu landen.

Angelina!

"Alles gut, nur ein paar Kratzer."

Dann wurden sie von einer weiteren Welle überrollt. Diesmal war es keine physische, sondern eine Flut von Sorge und Trauer.

"O nein! New Hope ist zerstört. Mami, Jessica, Ruth, meine Schwestern, John!"

Das wissen wir nicht. Fühlst du es nicht. Da ist immer noch etwas, ein Hintergrundgeräusch.

"Nein, nein, nein! Alle tot, alle tot!"

Peter hielt an und konzentrierte sich. Er verwandelte sich zurück. "Gib mir deine Hände. Konzentrier dich auf die Stimmen deiner Familie. Hörst du es? Sie sind immer noch da."

Noch eine Welle. "O nein!", Maria war tot. Und Stephen. Etwas hatte sie beide im selben Moment umgebracht.

Angelina weinte still vor sich hin. Peter zog sie in seine Arme, versuchte dabei, seine eigenen Tränen zu unterdrücken. Sie standen auf einer Straße in San Francisco, und hielten sich gegenseitig, während um sie herum Menschen aus ihren Häusern kamen und hilflos auf die Flammen starrten, die den Nachthimmel erleuchteten.

Noch mehr Wellen, noch mehr Wandler, die starben. Doch niemand, den Peter näher kannte. Angelinas Familie war nicht darunter. Dann … Stille.

Viel später holte Peter tief Luft. "Wir nehmen einen Bus nach Norden", sagte er. "Frag deinen Dad, wo er uns aufsammeln kann. Wenigstens scheint es, als ob die Forces keine Gefahr mehr darstellen."

Sein Gehirn machte schon wieder Überstunden, versuchte, den Gedanken an die vielen Opfer beiseite zu schieben, deren Tod sie so hautnah mitbekommen hatten.

Ihr Vorrat an Gegengift war beschränkt, und er hatte keine Ahnung, wer da plötzlich beschlossen hatte, Wandler und Menschen gleichermaßen umzubringen. Doch — Peter zwang sich zur Ruhe — das Leben musste weitergehen, der Kampf um die Freiheit der Wandler musste weitergehen.

Er blickte nach oben, wo der Mond hinter dicken Rauchwolken verschwunden war. Irgendwo da oben war Sandra, und kämpfte diesen Kampf für sie.
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

Beitrag von Rainer Prem »

35

"Sandra!", hörte sie Chandra schreien.

"Aaaargh!", Die Sterne tanzten um sie herum, während sie vergeblich versuchte, irgendetwas zu fassen zu bekommen.

"Ms. Miller, bewegen Sie sich nicht", sagte Pilot, ihre Stimme so ruhig wie immer.

"Ich — würg — drehe — muss — würg — brechen —"

"Ms. Miller, versuchen Sie sich zu beruhigen. Können Sie die Lagekontrolle Ihres Anzugs aktivieren?"

"Was?"

"Schließen Sie Ihre Augen, Ms. Miller. Ich kommuniziere mit Ihrem Anzugsystem."

"Mein — würg — Anzug — was?"

Plötzlich fühlte Sandra, wie das Taumeln schwächer wurde. Als sie ihre Augen wieder öffnete, hatten die Sterne ihren Tanz beendet, aber sie konnte das Shuttle nicht sehen.

"Ich bin verloren!"

"Sie sind nur drei Meter von der Hülle entfernt und blicken weg von mir. Kein Grund zur Panik, Ms. Miller."

Da hast du leicht reden. "Nenn mich Sandra."

"Ja, Sandra. Kein Grund zur Panik." Wenn ein Computer das schon zweimal hintereinander sagte …

Dann begann sie sich langsam zu drehen. Der Göttin sei Dank! Das Shuttle war wirklich nicht weit entfernt. Wenn es immer noch am Aufzug beschleunigt hätte, wäre sie tatsächlich verloren gewesen. Im freien Fall aber, waren beide gleich schnell.

Und plötzlich waren da Hände. Chandra! Ein Mädchen hielt ihre Beine und wurde von einem anderen Mädchen gehalten. Langsam zog ihre beste Freundin sie zur Hülle und sie grapschte nach einer Öse.

"Bitte bereiten Sie sich auf das Andockmanöver vor", sagte Pilot.

Sandra blickte auf, und sah den Plasma-Antrieb vor ihnen. Wenigstens das schien zu funktionieren.

"Festhalten!", sagte Pilot.

Sie hatte schon einmal losgelassen, als war diese Nachricht wohl vor allem für sie bestimmt.

Das Shuttle überholte den Antrieb, ein leichter Ruck, und das Heck des Antriebs wurde hell. Langsam spürte sie den Zug der Beschleunigung.

"Ich habe", meldete sich Pilot, "die beiden Kabinen miteinander verbunden und Sie können jetzt hereinkommen. Bitte lassen Sie ihre Anzüge geschlossen; der Sauerstoffvorrat des Shuttles ist begrenzt."

Das Abteil war für bis zu acht Passagiere eingerichtet, aber nun mussten darin dreizehn Kinder ohne Anzug atmen. Das war nicht gut.

"Wird es bis zur Erde reichen?"

"Ja, Sandra. Es gibt einen kleinen Überschuss."

Als Sandra als Letzte die kleine Luftschleuse verließ, bemerkte sie, dass sie ihre Reisetasche immer noch auf dem Rücken hatte. Sie nahm sie ab und warf sie in eine Ecke.

"Beschleunigung wird auf ein halbes G erhöht", sagte Pilot. "Eintritt in die Erdumlaufbahn in etwa fünf Stunden."

Fünf Stunden, um die Kinder ruhig zu halten. Sandra ließ ihren Blick über die vollgepackte Kabine gleiten. Nicht die einfachste Aufgabe.

*

Sie waren um den Mond herumgeflogen und hatten den Kurs zur Erde eingeschlagen. Die erwartete Zeit bis zum Eintritt in den Erdorbit war vier Stunden. Dann noch einmal zwei, bis sie am oberen Ende des Aufzugs angedockt hatten und eine weitere für den Abstieg zur Oberfläche. Insgesamt sieben Stunden, bis die Kinder wieder festen Boden unter ihren Füßen hatten.

Blieb noch das kleine Problem, wie sie diese Gruppe von fünfundzwanzig Mädchen, die nur Mondschwerkraft gewohnt waren, von Afrika zum nordamerikanischen Kontinent schaffen und dort zu einem Platz bringen konnte, wo sie leben konnten, ohne vergiftet oder angesteckt zu werden. Aber eins nach dem anderen.

"Sandra", meldete sich Pilot, "wir haben ein Problem."

"Welches?", fragte sie leise, und bedeutete Chandra, sich in die Übertragung einzuklinken. Sie beide lehnten nebeneinander mit geschlossenen Anzügen an der Wand.

"Der Felsbrocken, der uns traf, hat den Linearmotor beschädigt. Es hat bis jetzt gedauert, bevor die Analyse vollständig war. Das heißt, ich kann den Aufzug nicht benutzen."

Kälte griff nach Sandra. "Was können wir tun?"

"Normalerweise würde ich im Erdorbit bleiben, um ein Ersatz-Shuttle ersuchen und die Passagiere hinüberschicken."

"Aber?"

"Mein Lebenserhaltungssystem läuft weit außerhalb der Spezifikation. Es scheint auch ein kleines Leck in der Sauerstoffversorgung zu geben, das meine Sensoren nicht lokalisieren können. Ich habe den Schub bereits erhöht, damit können wir dreißig Minuten einsparen, aber das gibt uns nicht viel Spielraum."

Sandra blickte zu Chandra hinüber. Die Inderin zuckte die Schultern, ihr Gesichtsausdruck besorgt.

"Haben wir andere Optionen? Kannst du mit Hilfe des Plasma-Antriebs landen?"

"Er funktioniert nicht in der Atmosphäre. Ich könnte ihn dazu benutzen, unsere Geschwindigkeit in zehntausend Metern Höhe auf null zu reduzieren, und die Passagierkabine abzustoßen. Jedoch mit der Masse von sechsundzwanzig Passagieren ist auch das weit außerhalb der Spezifikationen. Der Bremsfallschirm wird reißen, und der Aufprall bringt euch alle um."

Sandra versuchte nicht, Chandras Gedanken zu lesen, spürte aber plötzlich eine Woge von Entschlossenheit herüberschwappen.

Chandra öffnete den Helm. "Du bist ein Wandler", flüsterte sie. "Kannst du das überleben?"

Sandra zuckte die Schultern. "In diesem Anzug ziemlich sicher. Vielleicht sogar ohne. Angelina sagte einmal, dass uns nichts umbringen könnte außer einer Enthauptung. Ihr Vater wurde einmal von einem umstürzenden Mammutbaum begraben und hat nicht mehr als ein paar Rippen gebrochen. Bis seine Kollegen ihn nach einem halben Tag gefunden und befreit hatten, war schon alles verheilt."

Sie jagte ein paar Zahlen durch ihr Gehirn. "Aus dem Shuttle zu springen, wäre sicher als hier drin zu bleiben. Es gibt eine Maximalgeschwindigkeit für einen fallenden Körper. Fallschirmspringer haben angeblich Stürze aus fünftausend Metern ohne Schirm überlebt. Ich könnte auf einen See zielen …"

"Wir könnten alle auf einen See zielen, wenn wir Wandler wären", sagte Chandra eifrig. "Stimmt es, was du zu Mama gesagt hast? Dass die Infektion uns so schnell verändern würde?"

Sandra hatte den starken Energiefluss des Vollmonds die ganze Zeit über gespürt. Sie zuckte die Schultern, dann strich sie über den Kopf der kleinen Suzy, die sich an sie klammerte. Das rothaarige Mädchen war ganz allein; ihre Mutter war schon achtunddreißig und arbeitete auf der Erde. "Ich kann diese Entscheidung nicht treffen. Schon gar nicht für all diese Kinder."

"Welche Entscheidung? Leben oder sterben? Frag sie." Chandra rückte noch näher zu ihrer Freundin. "Komm, Sandy, gib mir einen Kuss."

"Was ist los?", mischte sich Jacqueline über Funk ein. Sie war eine der ältesten der Gruppe. Ihre Tochter Samantha saß auf ihrem Schoß.

"Was würdet ihr vorziehen?", fragte Chandra. "Zu ersticken, in der Atmosphäre zu verglühen, euch alle Knochen zu zertrümmern oder als Wandler zu leben?"

Offensichtlich hatte sie den Rundspruch eingeschaltet. Alle Mädchen in Anzügen drehten die Köpfe.

"Sind das die einzigen Alternativen?", fragte Jacqueline.

Sandra zögerte, dann nickte sie.

"Sagtest du nicht, Wandler zu sein wäre etwas Gutes? Was gibt es da noch zu entscheiden?" Jacqueline öffnete auch ihren Helm. Die anderen taten es ihr nach.

"Na dann", seufzte Sandra, "habt ihr mich wohl überstimmt."

Sie öffnete ihren Helm. "Chandra hat Recht. Ein Zungenkuss ist tatsächlich die sicherste Methode."

Sicherste Methode! Das wäre ein guter Witz, wenn die Situation nicht so ernst wäre.

"Was ist denn ein Zungenkuss?", wollte die vierzehnjährige Sumitra wissen.
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

Beitrag von Rainer Prem »

36

Die anderen Mädchen schienen sich während des Austauschs von Küssen viel mehr an Sandra zu drücken als es eigentlich nötig war. Selbst in den nicht wirklich hautengen Anzügen. Nichtsdestoweniger …

"Sobald ihr die Energie fühlen könnt, zieht den Anzug aus, auch eure Unterwäsche, und verwandelt euch. Es ist ganz einfach, wenn ihr euch darauf konzentriert. Danach wandelt euch wieder zurück und zieht euch schnell wieder an. Verstanden? Ihr müsst das einmal machen, damit es nicht im falschen Moment passiert. Verbraucht nicht zu viel Sauerstoff. Dann helft ihr euren Töchtern oder Partnern."

"Und was machen wir Kleinen?", fragte Anita. Sie war zehn, inzwischen wahrscheinlich Waise, und hatte keinen Anzug.

"Zieht euch aus und verwandelt euch. Bleibt Wölfe und spielt mit den ganz kleinen. Haltet sie bei Laune. Kannst du das?"

Anita nickte.

*

"Pilot, kannst du von hier aus ein Telefon auf der Erde anrufen?"

"Gib mir die Nummer, Sandra."

"Reicht dir auch der Name? Arthur Chamberlain. Seine Heimatadresse ist irgendwo in Nunavut, Kanada."

"Ich starte eine Namenssuche, das kann länger dauern."

"Lieber spät als nie!", Sie ließ ihre Blicke über den Haufen an Wolfswelpen gleiten, die durcheinanderwuselten. "Wenn ich zu beschäftigt bin, sag ihm, dass wir einen See brauchen, der groß genug ist, aber nicht zu groß … Äh — am besten redest du sowieso mit ihm. Frag ihn, ob ihm eine bessere Lösung einfällt."

In zehntausend Meter Höhe aus einem Raumschiff springen, mit dieser wilden Horde an Kindern. Es musste eine bessere Lösung geben.

"Kann nift wandeln", kam plötzlich eine Stimme von unten.

Sandra blickte hinunter. Die kleine Suzy blickte mit verweinten Augen zurück.

"Komm, Kleine", sagte Sandra. "Ich gebe dir noch einen Kuss."

Suzy fing an zu kichern, als Sandras Zunge in ihren Mund schlüpfte. Doch dann konnte Sandra spüren, wie schnell das Immunsystem des Mädchens die DNS in ihrem Speichel zerstörte. Nun, ihre Mutter war ja offensichtlich auch immun.

"Dreißig Minuten", sagte Pilot.

"Nein", stöhnte Sandra auf. "Setz mich nicht noch einmal so unter Druck. Sag mir einfach Bescheid, wenn es Zeit ist zum Rausspringen."

"Ich verstehe."

"Was wird eigentlich aus dir?"

"Ich bin nur ein Stück Software."

"Soft genug zum Überleben?"

Pause. "Meine Analyse lässt mich vermuten, dass dies ein Witz war, ich habe allerdings nicht genug freie Rechenkapazität um ihn zu verstehen. Ich bin nur ein Programm. Es gibt über tausend Kopien von mir. Ich kann nicht sterben."

Aber Sandra würde es trotzdem so sehen. Zurück zu Suzy. Sie setzte die Kleine auf den Boden und begann, den Anzug auszuziehen.

"Das wird nicht funktionieren, Sandra", sagte Pilot leise. "Du kannst die Sauerstoffversorgung nicht aktivieren, wenn du den Anzug nicht trägst."

"Ich stecke Suzy hinein."

"Sie ist zu klein. Der Anzug wird sich nicht einschalten."

Sandras Gedanken überschlugen sich. "Hast du Sauerstoffmasken?"

"An der Vorderseite der Kabine. Hinter der roten Klappe."

"Will jetft wandeln", quengelte Suzy.

"Ja, Mädchen", Sandra küsste sie auf die Stirn. "Wir kümmern uns darum, sobald wir unten sind. Aber jetzt spielen wir ein Spiel. Okay?"

"Ja!!!"

Sandra blickte sich verstohlen um. "Wir spielen Verstecken. Du versteckst dich. Keiner schaut her. Schnell, krabbel in den Anzug, dann kann dich keiner sehen.

"Ja!!!"

"Okay, Pilot, ich habe es mir anders überlegt. Gib mir zwei Minuten vorher Bescheid."

"Ja, Sandra.

Ich habe jetzt übrigens Verbindung zu Mr. Chamberlain. Wir haben uns auf eine Landestelle verständigt. Kennst du Baker Lake?"

"Nein, aber wenn er denkt, das ist der beste Platz, bin ich dabei. Wie lange noch?"

"In fünf Minuten werden wir die Stratosphäre erreichen. Ich beginne damit, den Kabinendruck zu reduzieren und reinen Sauerstoff einzuleiten. Allen Passagieren ohne Anzug wird empfohlen tief und langsam zu atmen. Suchen Sie sich alle einen festen Halt, es kann etwas rau werden."

"Habt ihr gehört? Die Mädchen in den Anzügen, setzt euch hin, und nehmt die Welpen auf den Schoß.

Pilot, sag Arthur er soll Angelina einen Kuss von mir geben, und Peter eine Umarmung.

Suzy, bist du okay?", flüsterte sie.

Das kleine Mädchen steckte tief im Anzug. Sie hob den Kopf und grinste. "Pffft, nift verraten", flüsterte sie schlaftrunken. Umso besser. Aber nun kam der schwierige Teil.

"Pilot, stell mich auf den Lautsprecher.

Hallo, miteinander. Willkommen in der wundervollen Welt der Wandler. In Kürze werden wir unser Himmelsspringer-Spiel starten. Wir springen alle aus dem Shuttle und in einen großen See. Das wird viel Spaß machen. Die Mädchen ohne Anzug klettern auf den Rücken ihrer Partnerin und halten sich gut fest. Bevor die Türen aufgehen, holt nochmal tief, tief Luft und haltet den Atem so lange an wie es geht.

Die Mädchen mit Anzügen, spreizt Arme und Beine sobald ihr draußen seid. Mit ein bisschen Experimentieren solltet ihr euren Flug steuern können. Freunde von uns warten am See. Wenn ihr sie seht, steuert auf sie zu, und landet in der Nähe. Die Anzüge werden euch schützen, und ihr schützt eure Töchter und Freundinnen auf eurem Rücken."

"Zwei Minuten", meldete sich Pilot. "Der See ist genau unter uns. Das Zielgebiet am nordwestlichen Zipfel ist jetzt auf allen Bildschirmen zu sehen."

"Haltet euch gut in der Nähe der Türen fest. Pilot sagt euch, wenn ihr springen müsst. Habt Spaß, Mädchen! Yeah!"

"Yeah!", Die Stimmen der Erwachsenen klangen gespielt fröhlich, aber die Kinder echt begeistert.

Wenigstens etwas.

Suzy war eingeschlafen. Sandra öffnete die Sauerstoffmaske ein wenig und ließ sie in einen Ärmel des Anzugs gleiten. Dann versiegelte sie ihn.

Der Anzug blies sich langsam auf. Er war stabil genug um nicht zu platzen. Sandra plante, als Letzte zu springen — ja, ja, eine Kapitänin und ihr sinkendes Schiff — also blieb sie sitzen, während die anderen sich an den Türen versammelten.

Das Shuttle hatte schon vorher begonnen, leicht zu vibrieren, jetzt hörte sie außen die Luft vorbeirauschen. Ein Stottern war zu hören; der Plasma-Antrieb war am Ende.

"Festhalten", sagte Pilot. "Ich starte die Abtrennungs-Sequenz."

Das Brüllen von Raketen erfüllte die Kabine, und die Schwerkraft stieg stark an. Sandra versuchte sich vorzustellen, was jetzt geschah. Der ausgefallene Plasma-Antrieb würde auf dem alten Kurs immer schneller zu Boden fallen. Die Notfall-Raketen brachten das Shuttle weg von ihm.

"Zehn Sekunden", sagte Pilot. "Tief Luft holen."

Sandra stand auf und drückte den Anzug an sich. "Danke, Pilot", flüsterte sie.

Die Raketen verstummten. "Luft anhalten!", und die Türen öffneten sich.

"Springt!", rief Pilot. Und die Mädchen sprangen. Die Aufregung schien ihre Angst zu überwinden.

Das Shuttle war jetzt im ungebremsten Fall, die Luft heulte an den Türen vorbei.

"Sandra", hörte sie Pilot zum letzten Mal. "Es war mir eine Ehre, mit dir zu fliegen. Wir sehen uns."

Sandra sprang.

Selbst in der dünnen Atmosphäre in zehn Kilometern Höhe riss sie der Anzug sofort herum. Sie fiel mit dem Rücken nach unten; der Anzug wirkte wie ein Treibanker.

Sandra fühlte, wie Suzy sich bewegte. Ruhig, beweg dich nicht! Doch das Menschenmädchen konnte ihre Gedankenstimme wohl nicht hören.

Sie blickte über ihre Schulter. Tief unter sich sah sie die roten Punkte der anderen Anzüge. Sie sahen wie ein Schwarm Papageien aus. Vögel folgen ihr auf dem Weg. Die Worte über die aztekische Göttin tauchten aus ihrer Erinnerung auf, die Maria ihr gesagt hatte. Ihre Augen wurden feucht … wahrscheinlich nur der Wind.

Sie versuchte die Oberfläche zu erkennen. Unter ihr lag eine große, glitzernde Fläche. Das musste Baker Lake sein. Nördlich davon an Land erkannte sie einen perfekten Kreis in schwarz und grün.

Jetzt fiel ihr auch ein, woher sie den Namen kannte. Es war doch in allen Nachrichten gewesen, als der Energiesatellit über West-Kanada, von einer Sonnenfackel getroffen, explodiert war und eine Kleinstadt der Inuit ausgelöscht hatte.

Das verbrannte Land füllte sich langsam mit Leben, aber sie konnte auch eine Unmenge schwarz verkohlter Baumstümpfe erkennen.

Jetzt sah sie auch etwas auf dem See. Es sah wie Arthurs fliegendes Haus aus. Alle Scheinwerfer waren an, und gelbe Lichter blitzten. Hundert Meter entfernt schwamm ein großer Kreis aus rot leuchtenden Fackeln.

Nun, man konnte nicht behaupten, dass ihr Schwiegervater von der langsamen Truppe war.

Plötzlich entwich die Luft aus dem Anzug. Suzy hatte den Zippverschluss von innen geöffnet. "Iff habe gewonnen", rief sie. "Keiner hat miff gefunden."

"Bleib drin, Suzy! Beweg dich nicht", rief Sandra durch den heulenden Wind, und schlang die Arme um den kleinen Körper.

Ein schneller Blick nach unten. Platsch, platsch, platsch! Eine nach der anderen klatschten die Mädchen in oder in der Nähe des roten Kreises ins Wasser. Aber dann erkannte Sandra, dass sie abgetrieben war. Die Winde hatten den aufgeblasenen Anzug vom See weg und in Richtung zu dem verbrannten Gebiet getrieben. Und jetzt war es zu spät, woanders hin zu lenken.

Sie versuchte den Anzug so zu schieben, dass Suzy auf ihrem Bauch lag. Wenn sie es schaffte, die Baumstümpfe zu verfehlen, konnte die Kleine es überleben. "Sei jetzt ganz still, Suzy, wir sind gleich da."

O Göttin, lass Suzy überleben. Bitte, bitte!

Sandra versuchte die Muskeln anzuspannen, und drückte Suzy fest gegen ihren Bauch. Den Kopf nach vorne, die Augen geschlossen, die Beine weit gespreizt, wartete sie auf den Aufprall, und wartete und wartete …

Sie fiel durch ein weitmaschiges Netz aus Seilen und Platsch!

Wasser?

Weitere Platscher ganz in ihrer Nähe. Sandra öffnete die Augen. Sie trieb tief unter der Oberfläche. Menschliche Gestalten schwammen auf sie zu. Eine davon war offensichtlich weiblich mit langen, schwarzen Haaren.

Angie?

Ja, Liebling. Ich muss sagen, das war eine Ankunft mit Stil.

In dem Raumanzug steckt ein Menschenmädchen. Nimm sie zuerst.

Noch eine weibliche Gestalt.

Möchtest du gerne gerettet werden oder schaffst du es alleine? kam die amüsierte Stimme ihrer Schwiegermutter.

Annie, o Göttin! Ich dachte nicht, dass ich das überlebe. Hilf mir, ich kann nicht schwimmen.

Annie lachte in ihrem Kopf. Wann wäre eine bessere Gelegenheit als jetzt, um es zu lernen?

Grrr!

Ist Sandra am Leben? Peters Stimme. Ihre ganze Familie war da.

Ja, ja, ja! Wie geht es den Mädchen?

Wo um alles in der Welt hast du eine solche Menge an gutaussehenden Wandlermädchen gefunden? Den Männern hängt schon die Zunge auf dem Boden. Und warum fallen die vom Himmel? Ja, allen geht es gut. Ein paar gebrochen Rippen oder Glieder, nichts Ernstes. Wandlerknochen und Raumanzüge.

Sandra, du musst uns helfen! Arthurs Stimme kam von weiter weg. Sie hörte sich panisch an.

Was? Stimmt etwas nicht?

Die Welpen wollen nicht aus dem Wasser kommen.

Ende Teil 1
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

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Teil II
37

Die total erschöpften Kinder, eines davon menschlich, die anderen Wandler, schliefen gut in dieser Nacht.

Alle anderen saßen oder lagen um kleine Lagerfeuer herum — mehr um die Stimmung zu heben, denn der Mond war noch fast voll, und heizte sie von innen — erzählten von ihren Erlebnissen, hörten den anderen zu, weinten und trösteten einander.

Sandra musste der ganzen Gemeinschaft einen detaillierten Reisebericht abliefern, und die Neuankömmlinge vorstellen, und dann erzählten die Überlebenden von New Hope, wie sie den Einschlägen entgangen waren.

Die Ältesten waren zurückgeblieben, hatten gemeinsam, angeführt von Maria, die ankommenden Meteoriten mit purer Geisteskraft zurückgehalten, bis die Jüngeren in sicherer Entfernung waren.

Danach hatte sie Arthur mit seinem fliegenden Haus aufgelesen und zum Baker Lake gebracht. Der neue Platz für die Gemeinschaft war seine Idee gewesen. Sie hatten Ranken gesammelt und daraus das grüne Dach gewoben, das sie nach oben unsichtbar machte.

Sandra war aus purem Zufall — doch wer glaubte noch nach diesen Geschehnissen an puren Zufall — in das große Wasserbecken unter dem Netz geplumpst.

Die Holzfäller hatten auch schon eine erste Ladung von Baumstämmen gebracht, um neue Blockhäuser zu bauen, doch in dieser Nacht wurden sie noch nicht gebraucht.

Am Morgen nach Monduntergang wechselte das Thema der Gespräche von der Vergangenheit zur Zukunft. Was sollten sie jetzt tun?

In der letzten Woche hatte Arthur Trupps in eine Kleinstadt in Minnesota geschickt, um das Wasserwerk in Augenschein zu nehmen. In Kleinstädten liefen die meist völlig ohne Personal. Dort hatten sie einen großen schwarzen Kasten gefunden, in den auf der einen Seite das Schmutzwasser hinein- und auf der anderen Seite Trinkwasser — angereichert mit dem Polysteroid — herausströmte. Hineingekommen durch die elektronisch gesicherten dicken Stahltüren waren sie nicht.

Eine angemessene Menge an Sprengstoff konnte einen solchen Kasten wohl außer Betrieb setzen, aber damit auch die Wasserversorgung zerstören, und eventuell überlebende Forces alarmieren. Sie müssten eine komplett neue Wasserversorgung bauen für jede Stadt in Nordamerika, wenn ihnen nichts Besseres einfiel.

Also hatte sich eigentlich nicht viel verändert.

Nun, da war das kleine Detail, dass irgendwo jemand existierte, der sowohl freie Wandler als auch die Menschen und ihre Forces als seine Feinde ansah. Jeden Moment konnte ein neuer Hagelsturm an Meteoriten über sie hereinbrechen. Und dann hatten sie vielleicht keine Vorwarnung.

*

"Sandra!", rief ein Mann im mittleren Alter mit ungekämmten braunen Haaren über die Baustelle hinweg.

Das neue Dorf nahm langsam Gestalt an, zumindest die Blockhütten. Es war schon August, und der Winter in Nordkanada kam früh. Aus ihren Geschichtsstunden wusste Sandra, dass das Wetter viel stabiler war als vor der Zeit, da die Energiesatelliten installiert worden waren. Nichtsdestoweniger würde der Winter äußerst unangenehm werden.

Ein Drittel der Bürger war ununterbrochen unterwegs, um Beeren und andere Früchte zu sammeln. Andere lebten unter schnell errichteten Verstecken in der Nähe von New Hope, um so viel von der Ernte zu retten wie möglich.

Das letzte Drittel kümmerte sich um die Kinder und baute das neue Dorf auf, das New Chance heißen sollte. Zum größten Teil mit ihren bloßen Händen, aber Wandlermuskeln waren durchaus einer solchen Aufgabe gewachsen.

Sandra blickte von ihrer Arbeit auf. "Hi, Russell, was gibt’s?"

"Das Ding riecht nach dir", meinte er und hielt ihre Reisetasche hoch.

"Wo hast du das denn gefunden?" Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war, dass sie ihre Tasche in eine Ecke der Passagierkabine geworfen hatte, als sie endlich in das Shuttle hatte einsteigen können.

Er wies mit dem Daumen hinter sich. "Dein Raumschiff ist zehn Kilometer von hier abgestürzt. Wir sind aus purem Zufall darüber gestolpert." Da waren die Worte schon wieder. "Wir dachten, wir könnten etwas Nützliches finden. Das war das Einzige."

Sie zuckte die Schultern. "Danke", sagte sie. Doch dann fiel ihr der Waldo ein, der beinahe zu spät angekommen war. Wenn diese Tasche nur ihr Kleid enthielt, hätte Mama sie nicht noch im letzten Moment zu ihr geschickt.

Sie stellte die Tasche auf die Erde — Tische waren sehr weit unten auf einer langen "zu-bauen"-Liste — und öffnete sie.

Sorgfältig in ihr Kleid eingewickelt fand sie das Originaltagebuch und den Stapel Bücher. Vielleicht hätte sie Mama gegenüber erwähnen sollen, dass sie noch weitere fünfzig daheim hatte. Gehabt, denn sowohl ihre Wohnung als auch New Hope waren ausradiert.

Als sie das Tagebuch anhob, bemerkte sie, dass eines der Bücher zwischen seinen Seiten steckte. Sie holte es heraus. Jemand hatte einen Text auf seine Rückseite eingebrannt. "Für Sandra. Möge der Mond deine Zukunft erhellen. Deine Freundin Mama."

Sandra hielt den Atem an. Das war schlichtweg nicht möglich. Keine der Computerpersönlichkeiten, die sie in ihrem Leben kennengelernt hatte, drückte sich so aus. Poesie war nicht wirklich ein Teil ihrer Programmierung.

Sie drehte das Buch herum und schaltete es ein. Statt des Inhaltsverzeichnisses zeigte es nur einen einfarbig blauen Bildschirm.

"Sandra", sagte Mamas Stimme. "Dies ist meine letzte Nachricht für dich. Die Computer kopieren ihren Speicher auf diese Bücher für den schlimmsten Fall. Vielleicht willst du nie wieder die Stimme von Professor hören, aber wenn doch, kannst du uns alle hiermit wiederherstellen.

Das Buch, das du in deinen Händen hältst, enthält die Baupläne für eine geheime Raumstation. Professor ist sicher, dass von dort der Angriff auf uns gesteuert wurde. Die Station wurde gebaut, um die Erde gegen Gefahren aus dem Weltraum zu schützen. Wir haben keine Ahnung, wer sich dort zurzeit aufhält außer einer sehr aggressiven Computerpersönlichkeit mit dem Namen 'Krieger'."

"O Göttin!", rief Sandra und setzte sich auf ihren Hintern.

Alle Köpfe drehten sich zu ihr. Peter und Angelina kamen von einer Seite gerannt, Chandra und Sumitra von der anderen.

Wenn es eines an der aktuellen Situation gab, das Sandra aufrichtete, war es die Tatsache, dass ihre Familie und ihre beste Freundin bei ihr waren.

"Was?" "Was?" "Liebling, was ist passiert?" "Sandy!"

Sandra hob die Hände. "Meine Gefühle haben mich gerade übermannt."

Als Chandra und Angelina ihre Hände zu ihr ausstreckten, ergriff sie sie, und zog die beiden mit einem Ruck herunter. "Hört euch das an." Dann startete sie die Aufnahme von vorne.

Zehn Minuten später standen fast alle erwachsenen Wandler um sie herum, während sie Mamas Worte zum x-ten Mal abspielte.

"Okay", sagte Arthur. Nach dem Tod der Ältesten war er irgendwie zum Anführer geworden. Er hatte schon erklärt, dass er das nur für die Zeit des Notstands bleiben wollte. Danach würde er in seine geliebten Wälder zurückkehren und den langweiligen Bürgermeisterjob jemand anderem überlassen.

"Jetzt, wo alle die Aufnahme gehört haben, können wir alle wieder an unsere Arbeit zurückkehren. Peter und Sandra, ihr beide habt den besten technologischen und wissenschaftlichen Hintergrund. Angelina, du arbeitest mit ihnen zusammen."

Er grinste bösartig. "Ihr dürft erst wieder miteinander schlafen, wenn ihr einen Plan ausgearbeitet habt, wie wir diese Raumstation außer Betrieb setzen können."

Alle lachten, auch die drei, aber zumindest für Sandra war es mehr Galgenhumor als alles andere. Arthur hatte Recht. Sie mussten eine Lösung finden. Sie besaßen keine richtigen Computer, also mussten sie sich auf ihre Gehirne, ihr Wissen und ihre Intuition verlassen.

In Bezug auf das Letztere waren sie klar im Vorteil. Computer mochten in der Lage sein, diese riesige Datenbank, die sie gerade geerbt hatten, schnell zu durchsuchen, frühere Lösungen zu ähnlichen Problemen aufzudecken und vernünftige Annahmen zu treffen. Aber sie hatten keine Intuition.

Pilot hatte Sandras Frage nach Sauerstoff benötigt, bevor sie helfen konnte. Von allein war sie nicht darauf gekommen.

Wenn die Wandler von New Chance einen Vorteil auf ihrer Seite hatten, war das ihre Gehirne.

"Ich brauche die Mädchen vom Mond", sagte sie. "Alles was Teenager und älter sind. Je mehr unterschiedliche Meinungen, umso besser."

Dann stand sie auf, baute sich vor Arthur auf, stemmte die Fäuste in die Hüften und blickte trotzig nach oben in seine Augen. "Du magst ja mein Schwiegervater sein, aber das gibt dir noch lange nicht das Recht, über mein Liebesleben und das meiner Eheleute zu bestimmen. Ich werde die Nacht mit ihnen verbringen, und ab morgen früh kümmern wir uns um die verdammte Raumstation. Ist das klar?"

Arthur brach in Lachen aus. "Ich wusste von Anfang an, dass du die richtige Einstellung hast. Willst du mich auch heiraten?"
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Rainer Prem
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

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38

Zwei Tage vor dem nächsten Vollmond verließ Arthur das Holzfällerlager mit seinem kleinen Pickup in Richtung Süden. Er war scheinbar alleine an Bord. Einer der Stoßdämpfer des großen Trucks war spektakulär in die Brüche gegangen, und das herausspritzende heiße Öl hatte beinahe einen seiner Holzfällerkollegen getroffen. Die halbe Siedlung, darunter durch Zufall auch der örtliche Polizist und Regierungsvertreter, hatten den Vorfall beobachtet.

Sie waren dringend auf den großen Truck angewiesen; ein großer Auftrag einer Sägemühle aus Winnipeg musste auf Halt gesetzt werden, weil keiner der Hardware-Läden in West-Kanada ein passendes Ersatzteil führte.

Also ließ Arthur es bei der nächstgelegenen Niederlassung des Herstellers — in Chicago, Illinois — reservieren und machte sich selbst auf den Weg, um es abzuholen.

Dort landete er auf dem zentralen Parkplatz des großen Gewerbegebiets, und lief von seinem Pickup zu der Niederlassung. Aus purem Zufall stand sein Wagen nah — sehr nah — neben einem anderen, viel größeren Truck. Normalerweise hätte er mindestens zwei Meter Abstand halten müssen, aber wenn es überhaupt jemandem auffiel würde der es wohl auf die Eile des Fahrers schieben.

Weniger als zehn Minuten später war Arthur mit der Dichtung zurück, warf den Kasten auf die Ladefläche des Pickups und raste zurück nach Norden.

Jener andere Truck war gerade eine Stunde zuvor mit einem großen Container beladen worden. Es war einer von der speziellen Sorte, die auf einen Raumtransporter passte. Anders als eine Passagierkabine hatte er kein Lebenserhaltungssystem; Werkzeug und Vorräte, die ihn bis zur Decke füllten, waren entweder aus unempfindlichen Materialien hergestellt oder in luftdichte Kisten verpackt, die dem Vakuum des Weltraums widerstehen konnten.

Fünf Minuten nach Arthurs Abflug kam ein Kontrolleur an, prüfte sorgfältig alle Siegel des Containers und schloss die kleine Klappe in einer der unteren Ecken. Diese Klappe war viel zu klein, als dass ein erwachsener Mensch hätte hindurchschlüpfen können. Sie war allerdings nicht zu klein für einen normalgroßen Wandler in Wolfsgestalt.

Hätte jemand die Überwachungsvideos des Parkplatzes überprüft, wäre ihm vielleicht ein einzelnes Bild aufgefallen, das einen verschwommenen weißen Fleck zwischen den beiden Trucks zeigt. Auf der anderen Seite gab es aber auch immer noch Funkstörungen wegen der erhöhten Sonnenaktivität.

Noch einmal eine halbe Stunde später startete der Truck vollautomatisch in Richtung zum Weltraumaufzug auf der Ilhéu das Rólas. Weder der Großhändler noch der Kontrolleur hatten eine Ahnung, dass diese Lieferung wie jeden Monat auf dem Weg zu einer geheimen Raumstation war, die sich in einem stationären Orbit bei den Koordinaten 0° Nord und 0° West befand.
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Rainer Prem
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Beitrag von Rainer Prem »

39

Peter konnte immer noch nicht glauben, dass er sich auf dieses Abenteuer eingelassen hatte, weil eine Horde von jungen Frauen — Mädchen, die meisten waren minderjährig — einen Geistesblitz gehabt hatten.

Am ersten Tag rief Sandra sie zusammen, drückte jedem zwei oder drei der Bücher in die Hand, die Mama mit Daten bespielt hatte, und erklärte ihnen, was sie brauchte. An diesem Tag fläzten sich alle im Gras, Mütter spielten mit ihren Kindern, die letzteren zumeist in Wolfsgestalt, Teenager kicherten, während sie von den Jungen erzählten, die sie kennengelernt hatten. Alle mit einem halben Auge auf den Büchern. Dazwischen Sandra, fuchs- oder genauer gesagt wolfsteufelswild, weil sich keine auf die Arbeit konzentrierte.

"Das wird nichts", stöhnte sie irgendwann. Dann fiel ihr Blick auf das fensterlose Lagerhaus, das die Mitte des neu entstehenden Dorfes bildete. "Ruhe, verdammt nochmal! Alle gehen jetzt da hinein."

Sie verschwanden für den Rest des Tages im Lagerhaus, während die kleinsten Kindern von Ersatzmüttern betreut wurden.

Als Peter einmal an dem Lagerhaus vorbeikam, konnte er kein Wort hören, aber sein Geist wurde von Gedanken überflutet. Die Frauen diskutierten nicht einfach die Möglichkeiten, sondern sie fühlten sich an, als wären sie ein gekoppeltes Netzwerk.

"Weißt du", sagte Sandra beim Abendessen. "Wir wurden unser ganzes Leben darauf getrimmt, Probleme zu lösen. Sobald Professor meine Ausbildung übernahm, hat sie mir nie erlaubt, etwas nachzuschlagen, was ich schon von ihr, Lehrer oder Mama vorher erfahren hatte.

Schon der Selektionsprozess unserer Embryos konzentrierte sich auf maximale Intelligenz und erhöhte soziale Kompetenz."

Peter unterdrückte in der letzten Sekunde eine Bemerkung, inwieweit der Ausleseprozess in Bezug auf ihre soziale Kompetenz wohl versagt hatte.

Sandra steckte ein weiteres Stück Rübe in den Mund, kaute und schluckte es herunter.

"Und jetzt —" sie tippte gegen ihre Schläfe "— wo wir Wandler geworden sind, laufen unsere Gehirne auf Turbo. Wir können in Gedanken zehnmal so schnell kommunizieren wie mit dem Mund. Wir haben unser komplettes Gedächtnis im gegenseitigen Zugriff und wir können unser Denken integrieren. Wir funktionieren wie ein Computer, aber mit Intuition und einer wirklich guten Motivation."

Am nächsten Morgen verschwanden sie wieder in dem Lagerhaus. Und an den Tagen darauf auch.

Irgendwann wussten sie, wo die Raumstation war. Sie hatten eine riesige Menge von Protokollen analysiert, in denen Bahnabweichungen des oberen Endes des Aufzugs enthalten waren. Eine halbe Million komplexer Differentialgleichungen später kannten sie die Position auf den Meter genau.

Als Abfallprodukt kannten sie auch die versteckte Geschäftsverbindung zwischen dem Großhändler in Chicago, und den immer noch unbekannten Leuten auf der Station. Fünf Tage später besuchten zwei süße kleine Mädchen — acht und neun Jahre alt — ihren "Onkel Russell" im Holzfällerlager und spielten ein bisschen mit seinem Computer.

Und nun lag Peter in Wolfsgestalt in einem Container ohne Lebenserhaltungssystem und war auf dem Weg in den Weltraum.

Die Lücke in der Ladung des Containers war gerade einmal zehn Zentimeter länger, breiter und höher als sein Wolfskörper mit eingezogenen Pfoten und Schwanz. Aus einer Kiste genau vor seiner Schnauze hatte er eine Sauerstoffmaske herausgeholt, die ihm das Überleben garantieren sollte. Er hatte nur seine Pfote dagegen drücken müssen. Dann hatte er das Ding verwundert angestarrt. Er hätte sich nie träumen lassen, dass auf der Erde noch Sauerstoffmasken für Hunde existierten, acht Jahrzehnte, nachdem sie ausgestorben waren.

Worin er selbst steckte, war nicht wirklich eine Kammer, sondern nur ein ungefüllter Raum, wo ein paar große Kisten nicht genau zusammenpassten. Und all das war möglich geworden, weil zwei süße Mädchen vom Mond die Logistiksoftware des Großhändlers gehackt hatten.

Wäre eine lebende Person bei der Beladung des Containers anwesend gewesen, wäre diese Lücke sehr wohl aufgefallen, und womöglich korrigiert worden. Automatisierte Gabelstapler jedoch hatten nun einmal keine Phantasie.

Auf einmal wurde sein Körper gegen die Wand gepresst, die zum Boden geworden war, als der Container senkrecht an das Shuttle gedockt hatte. Sandra hatte ihm schon davon erzählt wie es sich anfühlte, am Aufzug entlang zu beschleunigen.

Allerdings hatte ihr Shuttle gerade mal ein zusätzliches G an Beschleunigung und Körpergewicht geliefert, das ihr weicher Sitz locker abgefedert hatte. Seines presste ihn mit dem fünfzigfachen seines Gewichts gegen eine stählerne Oberfläche. Eine leicht veränderte Situation. Er zählte Sekunden und begann, seinen Körper gegen die mörderische Schwerkraft nach oben zu drücken, bis sein Rücken an die Decke anstieß.

Das war der Moment, als ihm klar wurde, dass seine Zeitberechnung — oder die der Mädchen vom Mond — vollständig falsch sein musste. Es kam ihm wie Stunden vor, war aber in Wirklichkeit nur ein paar Sekunden, bevor die Beschleunigung sich mit einem Schlag umkehrte.

Hätte er zu diesem Zeitpunkt noch auf dem ehemaligen Boden gelegen, hätte ihn selbst der "Fall" aus nur zehn Zentimetern ernsthaft verletzen können. Deshalb wurden diese Container normalerweise völlig ohne Lücke vollgepackt.

Er widerstand dem Drang, seine Schnauze zu reiben. Auch als er sich von Arthurs Pickup in den Container geschnellt hatte, war seine Berechnung auch um eine Zehntelsekunde falsch gewesen. Nach all den Stunden Training in einem lebensgroßen Modell, das sie in dem stockfinsteren Lagerhaus aufgebaut hatten, war das schon ein kleines bisschen peinlich.

Zu Beginn hatten sie ihm noch den Gefallen getan, die Wände zu polstern, aber als er nach der zwanzigsten Wiederholung keuchend auf dem Rücken lag, alle vier Pfoten von sich gestreckt, hatte ihn Jacqueline von oben herab angegrinst und gemeint, "So, jetzt sollten wir uns der Realität annähern und die Polster wegmachen."

Sein geliebtes Eheweib Alexandra wusste schon genau, warum sie sich während des ganzen Trainings von ihm fernhielt …

Die Beschleunigung verschwand und er begann zu schweben. Das Shuttle hatte sich vom Aufzug gelöst, und würde in Kürze in einen Transferorbit übergehen, der es zur geheimen Raumstation "Zero-Zero" brachte.

Ein Stoß und dann eine weit schwächere Beschleunigung verriet ihm, dass bisher alles nach Plan verlief. Er würde die Station wahrscheinlich in einer halben Stunde erreichen. Aber dann?

Diese Bande von Superhirnen hatte ihn durch fünfzig verschiedene Szenarien geführt. Sie hatten ihn virtuell durch ein Labyrinth von Korridoren geschickt, das sie in ihren Köpfen nach den Bauplänen der Station modelliert hatten. Es gab allerdings keine Gewähr dafür, dass die Station nicht nach ihrem Bau verändert worden war. Konnte er die Stelle finden, wo er Zugriff auf den Selbstzerstörungsmechanismus bekam? Und war dieser überhaupt noch vorhanden und einsatzbereit?

Alles nur Spekulationen. Jacqueline hatte es so formuliert. "Kein Schlachtplan überlebt den ersten Feindkontakt." Und wer zur Hölle war der Feind?

Eine KI — sie hatten sich die knackige Bezeichnung angewöhnt, die Maria benutzt hatte — hatte keine Intuition. Punkt. Wenn die Angriffe von Krieger ausgeführt worden waren, musste ihm jemand befohlen — nein, ihn überzeugt — haben, dass sowohl die Menschen als auch die freien Wandler eine Gefahr für die Menschheit darstellten, die er zu beschützen gebaut war. Fast schon obszön, da ja die Menschen auf dem Mond sich selbst "Menschheit" nannten.

Den Besuch eines Mitglieds der einen Gruppe bei der anderen konnte man — Computerlogik vorausgesetzt — ihm vielleicht als eine Bedrohung verkaufen. Aber Sandra war viel zu kurz auf dem Mond gewesen, um die Attacken zu planen und auszuführen. Zu kurz oder lange genug?

Felsbrocken, die schon vorher für den Fall der Fälle bei L4 geparkt gewesen waren, konnten durch einen Linearbeschleuniger in Richtung Mondbasis geschossen worden sein. In dem Fall — so hatte der Mädchen-Computer ausgerechnet — hatte allerdings der Angriff schon begonnen, während Sandra noch in ihrem Auto auf dem Weg zum Aufzug war, wo das Shuttle auf sie wartete.

Nicht unmöglich, da ihr Flugplan im Transportnetzwerk der Menschen einsehbar gewesen war. Nur würde das keineswegs die Angriffe auf die Forces erklären. Es gab nur Fragen, keine einzige überzeugende Antwort. Und so war er zurzeit auf dem Weg ins Unbekannte, in seinen fast sicheren Tod.

"Du musst gehen", hatte ihm Sandra eines Morgens mit Tränen in den Augen gesagt. "Keiner von uns weiß wie, aber wir waren heute Nacht im Schlaf miteinander verbunden. Jedes von den Mondmädchen hatte denselben Traum, Vision, Inspiration, was auch immer.

Wenn wir nichts tun, wenn du nicht zu dieser Station fliegst, gibt es eine 99-prozentige Chance, dass wir alle vor dem Ende des Jahres tot sind."

Sie sprach nicht weiter.

"Und wenn ich gehe?"

Sie zögerte. "Du-du kannst Erfolg haben", flüsterte sie, "und die Gefahr ist ein für alle Mal beseitigt."

"Und was sind meine Chancen."

"Das möchte ich nicht sagen."

Er umarmte sie. "Sag es mir", flüsterte er in ihr Ohr. "Wenn du mich schon auf eine Selbstmordmission schickst, will ich meine Chance auf Erfolg kennen."

"Fünfzehn Prozent."

Er fragte nicht, was seine Überlebenschance war. Wenn er es schaffte, die Station zu zerstören, war er auch tot. Selbst ein Wandler konnte nicht lange im Weltraum überleben. Peter würde keines seiner beiden ungeborenen Kinder je kennenlernen.
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Rainer Prem
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

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40

Der nächste Ruck überraschte ihn. Das Shuttle sollte — laut seinem Briefing mit Jacqueline "Peter, du musst dich auf meine Worte konzentrieren und nicht auf meine Brüste!", — eigentlich außerhalb der Station anhalten, und dann würde die Weltraumvariante von Waldos kommen und die Waren hinüberbringen.

Aber das hier fühlte sich anders an; als ob das ganze Shuttle angedockt hätte. Nun, da hatte er auch nichts dagegen.

Er tippte gegen eine weitere Oberfläche; eine Klappe öffnete sich und gab ihn Zugriff auf einen Raumanzug. Nun ja, eine Art Raumanzug. Um ihn in das kleine Fach zu bekommen, hatte man ihn auf das nackte Graphen abgespeckt, mit einer unsichtbaren, hauchdünnen Kunststoffschicht als Schutz. Der Film war angeblich sehr stabil, denn Graphen, das in Kontakt mit reinem Sauerstoff kam, konnte recht gefährlich sein.

Der Anzug hatte zwei Funktionen.

Einerseits würde er verhindern, dass er sofort als Außenseiter erkannt wurde. Nackt oder in Leinenkleidung durch eine Raumstation zu rennen, war nicht gerade unauffällig. Der Raumanzug war dünn, aber undurchsichtig. Er würde nicht sofort auffallen.

Andererseits war er seine einzige Überlebenschance, überraschenderweise nicht, weil er seinen Körper im Vakuum vor dem Druckunterschied schützte. Sie hatten in den Büchern vom Mond die Dokumentation einer langen Versuchsreihe gefunden, in denen "Menschheit" ausprobierte, wie Wandler effizient getötet werden konnten. Einer der Versuche bestand darin, einen erwachsenen Wandler nackt auf die Mondoberfläche zu schicken.

Er war nicht sofort gestorben. Sein Körper hatte nicht auf den fehlenden Druck reagiert. Er hatte mehrere Minuten lang seinen Atem angehalten. Zu guter Letzt hatte die Versuchsleiterin nicht gewartet, bis er erstickte, sondern hatte ein paar Kugeln durch seinen Kopf gejagt, und ihn auf der Tagseite des Mondes geröstet.

Nein, der Anzug war … für … er konnte sich einfach nicht erinnern, was Jacqueline gemeint hatte, aber eigentlich war es auch nicht wichtig. Er musste ihn anziehen; das war wichtig.

Noch ein paar Rucke, und die Seite des Containers klappte hoch, die hinter Peter war. Der Raum dahinter war fast komplett dunkel, ohne Luft und Schwerkraft. Er rutschte vorsichtig rückwärts, den Sauerstoff und den Anzug mit sich ziehend.

Dann verwandelte er sich und zog den Anzug an. Dabei achtete er darauf, sich immer mit einer Hand festzuhalten. Zuletzt klinkte er noch die Sauerstoffflasche auf seinem Rücken ein, verband sie mit dem System des Anzugs und schloss den Helm. Nun, das war einfach genug gewesen; der schwierige Teil kam noch.

Er blickte sich um.

Der Raum besaß ein riesiges Frachttor, und daneben eine menschengroße Tür. Das war sein Ziel. Vorsichtig stieß er sich ab. Es war der Aspekt seiner Mission, den er auf der Erde nicht hatte üben können. Noch nicht einmal die Mädchen vom Mond hatten Erfahrung in der Schwerelosigkeit, also konnten sie ihm auch nur grobe Anhaltspunkte geben. "Versuch dich langsam zu bewegen, aber nicht zu langsam." Aha! "Sonst bleibst du noch mitten im Raum hängen. Wir können dir keine Rückstoßpistole besorgen, weil der Großhändler das nicht in seinem Angebot hat."

Er erreichte die Tür und hielt sich an einem Griff fest. Ein Knopf in der Nähe war mit "Öffnen/Schließen" beschriftet. Es war ein richtiger beweglicher Druckknopf, kein Touchpad, wohl damit man ihn auch mit dicken Handschuhen bedienen konnte. Manche Dinge waren schon anders, hier im Weltraum.

Die Tür öffnete sich, und er schob sich hindurch. Dahinter war ein schmaler Korridor, vielleicht fünf Meter lang und beleuchtet. Offensichtlich lag neben ihm eine Frachtschleuse. Die Tür schloss sich, und er hörte ein leises Zischen, das immer lauter wurde.

Er öffnete den Helm und drehte den Sauerstoff ab. Die Flasche war nicht besonders groß. Es war besser, wenn er sparsam damit umging.

Das Zischen hörte auf und Peter versuchte einen Atemzug. Die Luft war stickig aber atembar und stank nach Öl. Kein Körpergeruch, der ihm sagen konnte, wer zuletzt die Schleuse benutzt hatte.

Schulterzuckend drückte er den Knopf an der gegenüberliegenden Tür. Sie öffnete sich und ein ganzes Bouquet an Gerüchen überschwemmte ihn.

Schnell blickte er nach links und rechts. Der Korridor war riesig, nur schwach beleuchtet und krümmte sich nach links und rechts außer Sicht. Er war auch, abgesehen von den Gerüchen, leer.

Diese Gerüche aber … Peters Riechhirn "sah" Spuren an der Außenwand, Fußboden und Decke des Korridors. Es waren Pfade wie die im Sumpf um New Hope herum. Und die Gerüche waren die von Raubtieren.

Wandler!

Doch wie konnte das sein? Keines der Szenarien, die er auswendig gelernt hatte, ging von Wandlern auf dieser Raumstation aus. Nur Computer, oder eine abtrünnige Menschengruppe, die die Frauen auf dem Mond nicht kannten, aber Wandler?

Er konnte vierzehn, nein fünfzehn unterschiedliche Individuen erkennen, keines von ihnen roch auch nur im Entferntesten so angenehm wie seine Familie. Verbrannter Gummi, Plastik, Öl und Metall. Aber es mussten unvergiftete Wandler sein; diejenigen, die glaubten, Menschen zu sein, rochen viel schwächer. Und viel weniger nach Wolf.

Dann schoss ein Gedanke durch seinen Kopf. Hektisch schloss er den Helm und drehte den Sauerstoff wieder auf. Wenn er sie riechen konnte, dann funktionierte das auch anders herum. Aber jetzt musste er schnell handeln; der geringe Vorrat beschränkte seinen Aktionsradius.

Rechts oder links? Aber das war eigentlich egal. Der Ringkorridor lief einmal um die ganze, wie ein Rad geformte, Station herum.

In der Anfangszeit des Raumflugs hatten die Konstrukteure von solchen Stationen geplant, sie in Drehung zu versetzen, um Schwerkraft zu simulieren. Doch als die ersten Astronauten dem längere Zeit ausgesetzt waren, häuften sich Fälle von Desorientierung.

Irgendwann entschied man sich gegen das Konzept. Stattdessen versah man alle Wände der Stationen mit einem dünnen Film aus Nanoröhrchen, die wie Klettverschlüsse wirkten. Wenn er die Füße dicht über dem Boden hielt, sollte er angeblich fast wie auf der Erde laufen können.

Er wandte sich nach rechts, machte seinen ersten Schritt … und fand sich durch die Luft schwebend wieder. Er musste wohl seine Füße sehr dicht am Boden halten.

Irgendwann erreichte er die Decke, und landete mit ausgestreckten Armen und Beinen auf dem Bauch. Upps! Sehr vorsichtig stand er wieder auf. Und musste gegen die Verwirrung ankämpfen, die ihm weismachen wollte, dass er mit dem Kopf nach unten hing. Alle Richtungen waren verdreht, doch der Korridor sah aus wie zuvor.

Und war immer noch viel zu dunkel. Das Licht im Laderaum und in der Luftschleuse hatte sich automatisch eingeschaltet, und eigentlich hätte das hier genauso geschehen sollen. Nur weit auseinanderliegende Kontrollleuchten verbreiteten etwas Licht.

Seine Augen waren zwar viel besser als früher, aber er hatte sich daran gewöhnt, einen Großteil seiner Umgebung durch die Nase aufzunehmen, und im versiegelten Anzug fiel das weg.

Aber er gewann nichts, wenn er hier stehenblieb. Vorsichtig, sehr vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Nach hundert Schritten hatte er sich an diese seltsame Art der Fortbewegung gewöhnt. Inzwischen traute er sich schon, beim Gehen nach rechts und links zu blicken, um Markierungen zu finden, die ihm sagen konnten, wo er sich befand.

Aber noch bevor er etwas sah, spürte er etwas über die gleichmäßige Vibration der Station hinweg; leichte, rhythmische Schläge. Es fühlte sich an wie … Er blieb stehen, und versuchte etwas in der Entfernung zu sehen. Da war nichts, aber die Schläge wurden kräftiger.

Er drehte sich um. Ah! Dort, wo der dunkle Korridor sich außer Sicht krümmte, bewegte sich etwas. Zwei noch dunklere Schatten bewegten sich und kamen näher. Schnell.

Peter blickte nach links und rechts, aber es gab keine Möglichkeit sich zu verstecken. Wenn das die Wandler waren, die hier lebten — sehr wahrscheinlich — und ihn sahen — ziemlich sicher — dann musste er sich auf eine Konfrontation vorbereiten.

Aber das, was da auf ihn zukam, sah gewaltig aus. Wolfskörper, viel größer als sein eigener. O Göttin! Eine Konfrontation mit so etwas? Zwei solche Monster? Niemals.

Er hatte zwar im letzten Monat ein wenig geübt, aber mehr Raufen als alles andere. Jedes Mal, wenn Angelina ernsthaft angegriffen hatte, war er auf dem Rücken gelandet, bevor er Papp sagen konnte.

Und das war Wolf gegen Wolf gewesen. Als Mensch auf zwei Beinen hatte er noch viel weniger von der Hebelwirkung, die er brauchen würde, um seine Gegner auf den Rücken zu werfen.

Die einzige Chance — wenn auch sehr klein — war es, den Kampf zu vermeiden. Er hob die Hände über seinen Kopf und ließ sich langsam auf die Knie sinken.

Die zwei Wölfe kamen näher … und liefen an ihm vorbei. Mit langen Sprüngen stießen sie sich von der Außenwand ab und ließen sich von der Trägheit wieder zurücktragen. Ihre Bewegungen sahen geübt und elegant aus.

Aber sie unterhielten sich nicht dabei — oder sie benutzten eine komplett andere Frequenz für ihre Gespräche, als Peter, seine Familie und Freunde. Wenn er mit denen auf so einem Lauf war, schwirrte der Äther von ständigem Witzen, von Warnungen vor Gräben und anderen Gesprächen.

Diese zwei schienen sich total auf das Laufen zu konzentrieren. Einer drehte den Kopf in Peters Richtung, als er vorbeilief. Doch die Augen der Wölfe waren dicke, rote Klumpen. Es gab nicht das geringste Anzeichen, dass er etwas sehen konnte. Die beiden waren blind! Sie folgten nur den Gerüchen und ihren Erinnerungen.

Als sie vorbei waren, stand Peter vorsichtig auf und blickte ihnen hinterher. Plötzlich versuchten sie anzuhalten, wurden aber von der Trägheit daran gehindert. Der eine überschlug sich in Zeitlupe, der andere hatte alle vier Pfoten ausgestreckt, und seine Krallen quietschten über den Stahlboden.

Merke: Renne niemals bei null G.

Er wusste genau, was sie wie eine rote Ampel gebremst hatte. Sie hatten seinen Geruch aufgenommen. Es war schon zwanzig Minuten her, als er dort mit offenem Anzug aus der Tür gekommen war. Ihm wäre das bei der Geschwindigkeit wahrscheinlich nicht aufgefallen, also mussten ihre Nasen um Klassen besser als seine sein.

Jetzt begannen sie zu schnüffeln, liefen — oder glitten — dabei in Kreisen um die Stelle herum, und versuchten, eine Spur aufzunehmen. Mit dem Verschließen seines Anzugs hatte er das aber verhindert. Jetzt war der Moment, wo sie ganz sicher miteinander sprachen, aber bei Peter kam immer noch nichts an.

Sie trennten sich, und jeder folgte dem Korridor in eine andere Richtung. Selbst wenn sie nichts sehen konnten, mochte die Situation gefährlich werden. Sie bewegten sich in Spiralform, überquerten diagonal alle vier Wände nacheinander.

Wenn derjenige, der in Peters Richtung lief, sein Suchmuster nicht änderte, würde er in etwa fünf Metern vorbeikommen. Peters Hirn arbeitete wieder einmal auf Hochtouren. Er könnte sich an eine der sichereren Positionen begeben, die er wie auf einem Computerschirm sehen konnte. Er wusste allerdings nicht, wie gut die Wölfe die zwangsläufig dabei auftretenden Vibrationen wahrnehmen konnten. Besser nicht.

Beim Näherkommen konnte Peter sehen, dass der Wolf seine Zunge über den Untergrund gleiten ließ. Es würde angeblich die Visualisierung des Geruchs- und Geschmackssinns noch unterstützen, hatte man ihm erzählt, aber er fand es viel zu eklig und zu tierisch, um es zu versuchen.

Während der Wolf weniger als vier Meter entfernt vorbeilief, hielt Peter den Atem an. Kein Muskel in seinem Körper bewegte sich. Jetzt konnte er tiefe Narben auf dem Rücken des Wolfes sehen.

Was zur Hölle? Sind das denn Tiere?

Ihr Verhalten war viel zu rational. Sie konnten keine Wölfe von früher sein. Sie waren auch viel zu massiv dafür. Peter kam immer mehr zur Überzeugung, dass sie dem Bild von "Werwölfen" durchaus entsprachen.

Der Wolf verschwand im Dunkel, und Peter holte langsam Luft. Was jetzt? So schnell wie möglich raus aus dem Korridor. Die nächste Tür nach innen zu war nur zehn Meter entfernt. Sie trug zwar keine Markierung, aber bevor die Wölfe das restliche Dutzend holten, musste er hier verschwunden sein.
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Rainer Prem
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Der dunkle Korridor hinter der Tür war enger und recht kurz. Der Raum dahinter war leer, hatte aber eine Tür mit der Bezeichnung 3/17. Ebene drei, Sektion siebzehn. Das war schon recht nah bei seinem Ziel. Er musste nur eine Ebene "tiefer" steigen und zwei Sektionen nach rechts.

Nicht zu hastig! bremste er sich, als er merkte, dass er fast rannte. Du bist schon so weit gekommen, nun riskiere nicht zu viel.

Eine halbe Stunde später war er endlich da, wo er hinwollte. Hinter dieser Wand sollte eines der Computerterminals stehen, von wo er die Selbstvernichtung der Station einleiten konnte.

Er blickte sich um, und schob dann eine große Kiste ein paar Meter an der Wand entlang. Hinter ihr tauchte ein kleines, vergittertes Loch auf, das ihm Zugang zu dem Raum hinter der Wand geben sollte.

Er zog seinen Anzug aus und warf ihn in die Ecke. Als er sich umdrehte, schwankte er etwas in der Schwerelosigkeit, und seine nackte Ferse glitt über die Folie. Nun, sie sollte stark genug sein, um nicht zu reißen.

****

Es gab zwei Dinge, die Peter nicht wusste. Zum einen: Er beschädigte tatsächlich die Folie, die das Graphen des Anzugs luftdicht abschloss. Zum Zweiten: Er hatte mit dieser Bewegung auch noch den Schlauch abgerissen, der den Sauerstoffbehälter mit dem Anzug verband. Beides zusammen verwandelte ein Lebenserhaltungssystem in eine tickende Zeitbombe. Das Graphen reagierte zuerst langsam mit dem Sauerstoff, doch wenn genug von seiner Nanostruktur zerstört war, würde es Feuer fangen, und mit einer Hitze brennen, das selbst ein Loch in den Stahl, auf dem der Anzug lag, und die darunterliegende Treibstoffleitung brennen würde.

Nun war das ganze Ereignis kein "purer Zufall", sondern sehr sorgfältig geplant. Nur Peter wusste nichts mehr davon, wie oft er dieses Taumeln während der Drehung trainiert hatte. Normalerweise waren Wandler fast immun gegen Hypnose, wenn einer es aber wollte, war es machbar.

Insbesondere wenn der Hypnotherapeut eine attraktive junge Frau, die das Äquivalent mehrerer Doktortitel in Neurobiologie, Medizin und Psychologie vorweisen konnte.

"Jetzt", hatte Jacqueline gesagt, "ist es sehr wohl hilfreich, wenn du auf meine Brüste starrst, oder noch besser auf den Anhänger aus Mondstein in der Mitte zwischen ihnen."

Was Peter nur zu gerne getan hatte.

****

Peter schwebte zu der Öffnung und riss das Gitter heraus. Dann verwandelte er sich und schlüpfte in das kleine Loch. Den Tunnel dahinter füllte sein Wolfskörper vollständig aus, und er stieß an ein weiteres Gitter, bevor er seine Hinterpfoten nachgezogen hatte. Der Raum dahinter war stockfinster. Peter wartete eine Minute, und drückte dann das Gitter hinaus.

Er krabbelte hinaus und verwandelte sich zurück.

Im nächsten Moment öffnete sich die Tür, und das Licht ging an.

"Ah!", knurrte jemand mit einer tiefen, rauen Stimme. "Ein 'Wandler'. Sehr interessant."

Vor ihm stand ein Mann — dem Geruch nach auch ein Wandler wie er. Aber da erschöpfte sich schon die Ähnlichkeit. Peter musste seinen Kopf in den Nacken legen, um dem anderen ins Gesicht zu blicken. Der Kerl musste mindestens zwei-zwanzig messen. Er hatte übermenschlich breite Schultern und Oberarme wie Baumstämme. Er war der Hulk, nur nicht in grün.

An seiner Seite standen mit heraushängenden Zungen die beiden Werwölfe von vorhin, und obwohl Peter ihre Gedanken nicht hören konnte spürte er den Hass und die Wut, die sie ausströmten.

"Sorry", sagte Peter. "Ich suche nach der Herrentoilette."

Der Troll ging einen Schritt auf Peter zu, der unwillkürlich einen Schritt zurückrutschte. "Und er hält sich für schlagfertig. Wie hast du es geschafft, hierher zu kommen?"

Peter wies mit dem Daumen über seine Schulter. "Ich war bei McDonald's. Nur ein Big Mac und eine Coke, bevor mein Shuttle zum Mars ablegt."

Der Troll machte einen Schritt rückwärts. "Was für ein Klugscheißer!", Er blickte tief in Peters Augen. "Babys", sagte er dann kalt. "Bringt ihn um!"

Peter verwandelte sich. Die zwei Wölfe ragten nun auch turmhoch über ihm auf. Sie kamen langsam näher, erweckten den Eindruck eines trainierten Teams.

Peter bohrte seine Krallen in den nanofaserbedeckten Boden und duckte sich.

O mein Gott, die werden mich umbringen.

Plötzlich sprang sein Wolfskörper in die Höhe, drehte sich dabei um seine Längsachse, bevor er die Decke erreichte.

Die Bewegung überraschte nicht nur seine Gegner, sondern auch Peter. Was machte er da? Wollte er sich nicht gerade ergeben? Doch sein Körper war anderer Meinung.

Die beiden Wölfe blickten ihm hinterher. Sie bewegten ihre Köpfe in Zeitlupe, während er schon Pfoten voran die Decke erreichte, sich abstieß, wieder rotierte und auf dem Rücken von Narbengesicht landete.

Der Anprall drückte das Monster gegen den Boden. Peters Vorderpfoten griffen um seinen Hals herum und rissen die Kehle weit auf. Peters Fänge bohrten sich tief in den Nacken, stießen auf Widerstand. Seine Kiefer schlossen sich mit mörderischer Gewalt, Knochen brachen und der Körper unter ihm erschlaffte.

Doch während Peter noch innerlich den Kopf schüttelte, machte sein Körper schon weiter. Der andere Wolf flog auf ihn zu. Er ließ sich zwischen Leiche und Wand gleiten, und schob den Toten gegen seines Partners Schnauze.

Die beiden Körper stießen im freien Fall gegeneinander, und wurden mit einem Schlag abgebremst. Peter stieß sich ab, unter den beiden hindurch und legte seine Vorderpfoten um den Nacken des lebenden. Ein Biss in die Kehle, Blut spritzte, und dann gab auch dieses Genick nach.

Peter drehte auf der Stelle, warf sich auf den Mann … und wurde mitten im Flug von einem Vorschlaghammer getroffen — oder von etwas, das sich so anfühlte.

Die Knochen in seinem Schädel barsten, sein Körper flog sich überschlagend rückwärts und gegen die stählerne Wand. Noch mehr Knochen brachen. In normaler Schwerkraft wäre er nun zusammengebrochen, doch hier blieb er an der Wand hängen.

Er versuchte, die mörderischen Schmerzen zu ignorieren, und das Blut, das ihm die Sicht zu nehmen drohte. Er spannte seine Muskeln an, doch bevor er springen konnte, hörte er die Stimme des Trolls. "Betäubt ihn!"

Und die Welt verschwand in einem weißen Blitz.
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Rainer Prem
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

Beitrag von Rainer Prem »

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Du musst überleben. Du musst deine Mission erfüllen. Die Zukunft der ganzen Welt hängt von dir ab.

"Ja, ist ja schon gut." Peters Stimme war ein fast verständliches Murmeln. Die Stimmen in seinem Kopf übertönten alles. Schmerz blitzte dazwischen auf.

Während er langsam zu sich kam, fühlte er, wie sich die Knochen in seinem Körper bewegten, sich ausrichteten und wieder zusammenwuchsen. Er war in seinem Menschenkörper, saß in einem Stuhl, unfähig sich zu bewegen, sein Kopf in einer stählernen Klammer eingeschlossen.

Seine Arme lagen auf den Lehnen, festgehalten von dicken, breiten Stahlbändern. Er konnte es nicht sehen, aber fühlte, dass seine Brust, sein Bauch und seine Beine genauso fixiert waren. Keinen Millimeter Spiel, nicht die geringste Chance, sich zu bewegen.

Und auch keine, sich zu verwandeln. Er spürte eine scharfe Kante rings um seinen Hals. Ein Kragen, wahrscheinlich messerscharf, um seinen in Wolfsform dickeren Nacken abzutrennen.

Sie hatten eine Menge Aufwand hineingesteckt, um ihn zu neutralisieren. Er grinste. Ich habe ihnen viel mehr geboten als sie — und ich — dachten. Seine Erinnerung war wieder komplett.

"Ein Kampf auf Leben und Tod", hatte Angelina gesagt, "ist ganz etwas anderes als dieses Herumalbern."

Das "Herumalbern" hatte ihn all seine Kräfte gekostet; jeder Knochen in seinem Leib schien geprellt, jeder Muskel zerrissen.

"Du gehst ihm an die Kehle, du brichst ihm das Genick durch. Fertig. Lass ihn deine Beine brechen, lass ihn deinen Bauch aufschlitzen, das alles ist uninteressant."

Es würde noch mehr schmerzen, als alles, was die eine geliebte Ehefrau mit ihm gemacht hatte, während die andere grinsend auf der Zuschauertribüne saß.

Sie wies auf seine Kehle und seinen Nacken. "Wir können das nicht üben. Es würde dir mehr schaden als helfen. Merk dir nur: Spring auf seinen Rücken oder unter seinen Bauch, benutz die Klauen und die Fänge."

Ja klar!

"Je erfahrener dein Gegner ist, desto mehr hat er einen eigenen Stil entwickelt. Wenn er den Kampf auf Leben und Tod geübt hat, wird er unwillkürlich einen tödlichen Angriff bremsen, um seinen Sparringspartner nicht zu töten."

"Du …" und damit stach sie ihm mit dem Zeigefinger in die Brust. "Wenn du jemals kämpfen musst, bring ihn mit deiner ersten Bewegung um. Du hast keine Zeit für eine zweite."

Dann nickte sie zu Jacqueline, die ihren glänzenden Mondstein zwischen ihren perfekten Brüsten hängen hatte, und Peter wusste, was ihm jetzt wieder bevorstand.

Sein Körper hatte sich im richtigen Moment erinnert und war ihren Anweisungen aufs i-Tüpfelchen gefolgt. Doch was hatte ihm das gebracht?

Die Tür öffnete sich, und der Troll kam herein.

"Ah, du bist schon wach!", knurrte er. "Dann haben wir die Gelegenheit für eine gepflegte Unterhaltung. Glückwunsch, das war eine wirklich gute Show, die du da abgeliefert hast."

Unterhaltung, pah! Peters Lippen waren zusammengepresst, sein Kiefer fixiert. Er konnte nichts dazu beitragen.

Der andere drehte Peter den Rücken zu und begann zu rumoren. Was hatte der Kerl mit ihm vor? Zumindest hatte er sich das "Bringt ihn um" anders überlegt.

"Du wunderst dich bestimmt, was ich mit dir vorhabe, Nun, ich werde es dir erzählen. Ich nehme mir immer die Zeit, meine Klienten darüber aufzuklären, was während meiner Behandlung auf sie zukommt."

Er brachte etwas in Peters Gesichtskreis, das verdammt nach einer Bohrmaschine aussah. "Du hast schon meine treuen Diener kennengelernt. Unglücklicherweise hast du zwei von ihnen umgebracht, eine Meisterleistung, die ich nicht genug würdigen kann.

Also brauche ich Ersatz." Er richtete die Maschine auf Peter. "Dich. Ich werde dich außerdem als lebenden Genpool benutzen — ich habe nämlich noch keinen Weißen in meiner Sammlung — doch das kommt später."

Heiße Wut schoss in Peter hoch, und er verkrampfte sich in seinen Fesseln und stöhnte. Dieser Kerl würde es nicht überleben, ihn zu einem "Diener" zu machen.

"Ah, was für eine Leidenschaft. Du hast keine Wahl." Er kam näher und drückte die Spitze des Bohrers gegen Peters Stirn. Diesmal ohne Smalltalk schaltete er den Bohrer ein und drückte zu.

Schmerz schoss durch Peters Kopf. Dieses Arschloch hatte ihn noch nicht einmal betäubt. Er wollte vor Schmerz schreien, aber nur ein leises Winseln kam heraus.

"Der Schmerz lässt nach, sobald ich durch die Dura Mater bin", erklärte das Monster in Menschengestalt. "Ein Werwolf-Gehirn ist eine faszinierende Konstruktion. Ich brauche überhaupt nicht vorsichtig sein. Da ist so viel Redundanz eingebaut — wenn ich zu tief bohre, heilt es sofort wieder."

Der Mann legte den Bohrer weg und nahm eine große Spritze in die Hand. Fast dieselbe, die Peter im Regal des uralten DNS-Analysators gefunden hatte. "Bevor das Loch sich wieder schließt, kriegst du noch meine Spezialbehandlung. Das hier ist etwas, das ich 3,7,8-Poly-Estradiol nenne. Oral zugeführt, erodiert es ganz langsam alle Werwolfs-Fähigkeiten. Aber mit einer Injektion in den Frontalllappen erodiert es nur das Bewusstsein und die Willenskraft."

Er drückte den Kolben der Spritze hinein. Peter fühlte keinen Schmerz, aber es erschien ein kleiner schwarzer Fleck in seinem Gesichtskreis, der sich langsam ausdehnte.

Der Mann legte die Spritze weg und griff wieder zu dem Bohrer. "Wenn du wieder erwachst, ist deine Erinnerung für immer verschwunden. Ich werde dein einzig wahrer Alpha sein. Wann immer du mich siehst, wirst du auf die Knie fallen und darum betteln, mich anbeten zu dürfen. In Wolfsgestalt wirst du mindestens ein Jahr brauchen, bevor du mir nicht automatisch deine Kehle anbietest." Der Bohrer lief wieder an. Dieses Mal war der Schmerz noch stärker, aber Peter konnte überhaupt keinen Laut mehr von sich geben. Der schwarze Fleck füllte inzwischen ein Viertel seines Gesichtskreises aus.

"Ich denke, ich werde deinen Körper so lassen, wie er ist. Ich brauche einen Botschafter auf der Erde, und der soll so normal aussehen wie möglich." Er lachte auf. Ein hässliches Lachen. "Es nutzt ja nichts, wenn sie gleich über dich herfallen. Es ist nämlich Zeit, aus der Versenkung aufzutauchen und sie in eine neue, bessere Zukunft zu führen."

Eine weitere Dosis aus der Spritze, und der schwarze Fleck wuchs schneller.

"Meine Kleinen sind dafür nicht geeignet. Sie mögen ja gute Kämpfer sein, aber sie leiden unglücklicherweise an Lupus." Er lachte wieder böse auf. "Wölfe mit Lupus, was für ein Witz!"

Mit einer Taschenlampe leuchtete er direkt in Peters Auge, und nickte. Dann lehnte er sich gegen eine Wand. "Wir wurden einander noch nicht vorgestellt. Mein Name ist Gibson. Doktor Elias Gibson."

Hätte Peter es gekonnt, dann hätte er in dem Moment aufgestöhnt, aber die Schwärze füllte jetzt schon die Hälfte eines Gesichtskreises. Ich hätte es mir denken können. Und dieses arrogante Arschloch will ein Alpha sein? Gibson klang in dem Moment wie ein typischer Oberbösewicht aus einem schlechten Film.

"Ich mag ja wie ein typischer Oberbösewicht in einem schlechten Film klingen, aber es ist schon lange her, dass ich mit jemand sprechen konnte, der mich verstehen kann." Er lachte auf. "Der mich noch verstehen aber nicht weglaufen kann."

Peter wollte nur noch die Augen schließen. Er konnte das hämische Grinsen auf dem Gesicht dieses mörderischen Monsters nicht länger ertragen. Glücklicherweise nahm ihm die Droge das ab.

"Siehst du, ich brauche jemand, der eine Expedition zur Erde leitet, und mir eine Ladung Muster von weiblichen Werwölfen besorgt. Erinnerst du dich an den Sonnensturm im Frühjahr? Nun, er hat meine Brutstation getroffen, und jetzt wird mein Drogenvorrat langsam knapp."

Während die Schwärze Peters Augen umschloss, schien sein Gehirn noch gut zu funktionieren. Die Droge wurde nicht künstlich produziert? Wie kam sie dann in die ganzen Wasseraufbereitungsanlagen?

"Diese Hampelmänner, die sich Forces nannten, habe ich jetzt erst einmal ausgeschaltet. Die waren mir schon immer ein Dorn im Auge. Der Rest der 'Menschheit' genauso. Und diese Tussi, die damals für mich gearbeitet hat? Genauso wie ihre 'freien Wandler'. Ich brauchte nur eine gute Gelegenheit. Und dann bamm, bamm, bamm. Alle auf einen Streich!"

Da war keine KI beteiligt? Was ist mit — wie war der Name? - Krieger?

Gibson lachte wieder auf. "Naja, es waren schon ein paar mehr Streiche. Aber eine der seltenen Gelegenheiten wo ein Shuttle auf dem Mond war? Diese Hühner auf dem Mond würden auf jeden Fall ihre Küken aus dem Gefahrenbereich bringen. Nur dumm, dass das Shuttle es nicht überlebt hat. Ich habe schon am Aufzug auf sie gewartet."

Nur — dumm — äh — dass — äh — sie —

Und die Schwärze um Peter wurde noch schwärzer.
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Rainer Prem
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

Beitrag von Rainer Prem »

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Er erwachte und blickte sich um. "Wo bin ich?", murmelte er vor sich hin. Ein dunkler, rechtwinkliger Raum ohne eine Einrichtung. "Wie bin ich hierhergekommen?" Doch da war keine Erinnerung, auch nicht … "Wer bin ich?"

Er hatte das seltsame Gefühl, als würde etwas auf ihn herabregnen, aber es war nichts zu sehen oder zu hören. Doch da war ein Geräusch, ein leises, auf- und abschwellendes Heulen. Ein Gedanke tauchte in ihm auf. "Feueralarm?"

Er musste fliehen. Doch das war nicht möglich. Dicke Metallbänder hielten ihn an der Wand fest, Arme und Beine weit ausgestreckt.

Der Alarm wurde lauter. Er drehte den Kopf, versuchte in der Dunkelheit der Zelle etwas zu erkennen. Irgendwo musste doch jemand sein, der ihm helfen würde. Irgendwo musste jemand sein, der ihm sagen konnte, was er tun sollte. Er brauchte einen — Anführer? — nein, es musste einen besseren Namen dafür geben.

Die Feuersirenen wurden lauter. Er ruckte an seinen Fesseln, doch sie gaben nicht nach. Dann hörte er andere Geräusche, Zischen und Stöhnen. Etwas wie "popp, popp, popp" und dann Stille.

Eine der Wände glitt zur Seite. Eine schwarzhaarige Frau betrat den Raum, in einer Hand ein stinkendes Metallteil, in der anderen ein langes Messer mit Flecken.

"Hallo, Liebling", sagte sie. "Hast du mich vermisst?"

"Bist du meine Alpha?" Er war glücklich, dass ihm dieses Wort noch rechtzeitig eingefallen war. Er durfte seine Alpha nicht durch Unwissenheit enttäuschen.

"Aber klar doch", antwortete sie. "Das war ich, bin ich und werde ich auch immer sein."

Puuuh! Jetzt wird sich alles zum Guten wenden.

"Komm schon", fuhr sie fort. "Wir müssen hier raus. Dein explodierender Raumanzug hat mir Zeit genug verschafft, noch ein paar mehr Brandbomben zu legen. Aber das hält sie nicht ewig beschäftigt."

"Raumanzug? Habe ich einen Raumanzug?" Verwirrung machte sich in ihm breit. Sie schien so viel von ihm zu wisssen.

"Peter", sagte sie vorwurfsvoll. "Spiel jetzt keine Spielchen."

Tränen stiegen in ihm hoch. "Entschuldigung", schluchzte er. Alles in ihm drängte, sich vor ihre Füße zu werfen, doch seine Fesseln hielten ihn fest." Kannst du mir vergeben, o Alpha? Ich wollte dich nicht kränken."

"Peter", schrie sie auf. "Was ist mit dir geschehen?"

"Ich weiß es nicht", jammerte er. "Ich weiß es nicht, o Alpha. Ich bin aufgewacht, kurz bevor du kamst."

"Nenn mich nicht dauernd 'Alpha'. Ich bin nicht zum Spielen hier."

"Ja, Al —" Er unterbrach sich. Was konnte er sonst sagen? "Ja, Herrin."

"Peter, sag meinen Namen."

Scham überschwemmte ihn. Er versuchte den Kopf zu senken. Er konnte wenigstens den Blick senken, auf seine eigenen Füße starren. "Vergib mir, Herrin", flüsterte er. "Ich weiß deinen Namen nicht. Du hast ihn mir noch nicht gesagt."

Sie blickte durch die offene Tür, dann steckte sie die beiden Gegenstände in ihren Gürtel und kam näher. Er wollte vor Scham im Boden versinken. Sie hob die Hände. Das war gut. Jetzt würde sie ihn für seine Dummheit betrafen. Doch stattdessen nahm sie seinen Kopf zwischen ihre Hände und blickte ihm in die Augen. "Peter", wiederholte sie. Das musste wohl sein Name sein. "Was haben sie mit dir getan?"

Tränen drangen aus seinen Augen. "Ich kann deine Frage nicht beantworten, Herrin. Ich kann es wirklich nicht. Ich weiß nicht, wer 'sie' sind und ich kann mich an nichts erinnern, was 'sie' mit mir gemacht haben." Er schluchzte vor Verzweiflung auf. Wie konnte er ein guter Diener sein, wenn er so wenig wusste? Sie würde ihn sicher fallen lassen.

Doch was war das? Jetzt füllten sich ihre Augen mit Tränen? "Kannst du wenigstens diese Fesseln zerreißen? Die Vollmondnacht hat begonnen. Du kannst doch sicher noch dein Auserwählten-Ding machen, und deine Energie herausziehen."

Er konnte nicht viel von dem verstehen, was sie gesagt hatte, doch er spürte, dass sie Vertrauen zu ihm hatte. Und ihr erster Satz war zwar als Frage formuliert, doch sicher als Befehl gedacht. Sie vertraute darauf, dass er diese Fesseln zerbrechen konnte. Er durfte sie nicht noch einmal enttäuschen. Ihre Tränen zu sehen, hatte ihm fast das Herz gebrochen.

Also versuchte er "sein Ding" zu tun und "Energie herauszuziehen." Doch woraus? Er spürte den Regen immer noch. War es das etwa? Er konzentrierte sich und irgendwie wurde der Regen stärker. Er stellte sich vor wie die Energie aus dem Regen in seinen rechten Arm floss. Dann spannte er seine Muskeln an. Der Stahl gab nicht nach, doch er produzierte ein protestierendes Geräusch.

Es schien zu funktionieren. Er blickte auf die Hand, schob noch mehr Energie in sie hinein. Noch mehr … "Arrgh!", brach ein Schrei aus ihm heraus, und die Fessel gab nach. Der Stahl platzte auf. "Es tut mir leid, Herrin", schluchzte er. "Ich wollte in deiner Gegenwart nicht so laut sein."

Sie lachte. Es klang begeistert. "Das macht mir nichts aus! Ich liebe es! Schrei so laut du willst, doch mach endlich die verdammten Fesseln kaputt."

"Ja, Herrin. Danke, Herrin." Er lächelte.

"Und hör auf mich so zu nennen."

Er spürte, wie er errötete. Das war ja so peinlich. Dann konzentrierte er sich auf seinen linken Arm. "Arrgh!", schrie er, und die Hand war frei. Noch einmal — der Unterarm — und zum dritten — jetzt konnte er den ganzen Arm bewegen.

Es ging immer leichter. Mit der Hand konnte er die Fesseln um den anderen Arm und um seinen Körper wegreißen, ohne so peinliche Geräusche von sich zu geben. Die Fesseln an seinen Beinen waren Formsache.

Er merkte nun, dass er frei im Raum schwebte und auf seine Herrin hinabschaute. Das war nicht richtig. Er benutzte die Fesseln um sich nach unten zu stoßen und kniete sich vor sie hin, den Kopf gesenkt.

"Ich habe deinen Befehl befolgt, Al — Her — Wie soll ich dich nennen?"

Er hörte ein Seufzen. "Sag einfach Angie zu mir. Wir diskutieren den Rest dieses Themas, wenn wir Zeit dafür haben."

"Ja, Angie. Hast du noch Befehle für mich?"

"Dich an deine Mission zu erinnern, aber das wäre wohl zu viel verlangt."

Er zuckte zusammen. Jetzt hatte er sie schon wieder enttäuscht. "Ich versuche es, Angie. Ich denke ich muss jemanden retten, aber ich weiß nicht wen oder wie."

Er riskierte einen Blick nach oben, und sah, wie sie die zerfetzten Fesseln musterte. "Vielleicht", sagte sie, "brauchst du nur eine größere Dosis."

"Alles, was du willst, Angie. Ich möchte deine Befehle befolgen."

"Dann steh auf, und folge mir." Sie warf einen Blick auf die Mitte seines Körpers. "Du solltest dich vielleicht verwandeln."

Er richtete sich vorsichtig auf und suchte Halt. "Verwandeln, Angie?"

"Äh — komm einfach mit."

Sie drehte sich herum und ging mit vorsichtigen Schritten nach draußen. Er versuchte, das auch zu tun, doch seine nackten Füße fanden keinen Halt, also stieß er sich von der Wand hinter ihm ab, und griff nach dem ersten Halt, sobald er die Tür passiert hatte.

Im Raum außerhalb seiner Zelle schwebten mehrere pelzige Körper. Ihre Köpfe hatte jemand abgetrennt. Rote Kugeln aus Flüssigkeit drifteten durch den Raum. Angie! Ja, es musste seine Alpha gewesen sein, die "sie" getötet hatte.

Freude und Anerkennung überwältigten ihn. Er liebte seine Alpha. Er stieß sich ab und schwebte hinter ihr durch eine weitere Tür.

"Hier", sagte sie auf dem Korridor dahinter und wies zur Decke. "Das ist der schnellste Weg. Ganz bis zum Ende."

"Ja, Angie." Er blickte nach oben. Dort war eine runde Öffnung in der Decke; eine weitere dahinter und noch eine, bis er ein helles Licht am Ende ausmachen konnte.

Er drückte sich gegen den Boden und sprang. Ein Korridor nach dem anderen flog an ihm vorbei, bis er einen Raum erreichte, dessen eine Wand völlig unsichtbar war. Sein Schwung trieb ihn dagegen und er bremste sich mit seinen Händen und Füßen ab.

Mit großen Augen starrte er auf das Licht. Von dort kam der Regen, der jetzt noch stärker war. Sein Gedächtnis schien zu erwachen. "Der Mond", sagte er.

"Ja, Peter", antwortete Angie, die ihm nachgekommen war und jetzt ihren Arm um seine Schulter legte.

"Angie, darf ich etwas fragen?"

Sie holte tief Luft. "Natürlich. Du brauchst auch nicht um Erlaubnis zu bitten."

"Du sagtest doch vorhin, es wäre Vollmond. Doch —" er wies nach draußen "— dort ist nur eine schmale Sichel."

"Ja", sagte sie. "Und das ist genau der Grund, warum wir diese Nacht für deine Mission gewählt haben."

Es wurde dunkel. Der Mond war komplett verschwunden. Doch dann war sanftes rotes Licht zu sehen. Der Regen wurde stärker und stärker. Peter atmete tief ein, ließ den Regen durch sich hindurch fluten, und das Gift aus seinem Gehirn spülen.

"Peter", murmelte Angelina neben ihm. Ihre Stimme klang fassungslos. "Du leuchtest!"

"Ja, Angelina", antwortete er und wandte sich ihr zu. "Du leuchtest aber auch, geliebte Ehefrau." Er griff zu, zog sie in eine Umarmung und küsste sie, als wäre es das allererste Mal.
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