[EX16] Wolfsdämmerung

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Rainer Prem
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[EX16] Wolfsdämmerung

Beitrag von Rainer Prem »

1
Mai 2137. Frühling in San Francisco. Blüten und frische Triebe. Jedermann konnte durchatmen und die Lungen mit sauerstoffreicher, wohlriechender Luft füllen.
Peter Rodriguez keuchte auf seiner sonntagmorgendlichen Jogging-Runde mit offenem Mund durch den Bay Park, ohne etwas zu riechen. Seine Nase war — mal wieder — verstopft. Dass die moderne Pharmazeutik nichts dagegen unternehmen konnte! Meerwasser versprüht in seinem Schlafzimmer ließ ihn wenigstens die meisten Nächte durchschlafen.
Nicht jedoch die letzte. Es war eine Vollmondnacht gewesen, und obwohl er alle Jalousien in seinem Schlafzimmer herunterließ, schlief er dennoch schlecht, wenn der Mond am Himmel stand. Träume quälten ihn immer in dieser Zeit. Gemessen an seinem Zustand beim Aufwachen war es diesmal etwas sehr Erotisches gewesen.
Peter hielt an und begann sein Pensum an Rumpfbeugen.
Er konnte sich nur noch an blond und schwarz erinnern. Flotte Dreier spielten oft eine Rolle in seinen feuchten Träumen.
Der Blondschopf war wahrscheinlich seine Chefin. Sandra Miller: hochgewachsen, honigblond, grüne Augen, im wahrsten Sinne des Wortes eine Traumfrau. Träumen durfte man ja wohl, oder? Aber in der Realität war sie zu weit weg, und eigentlich zu alt für seine siebenundzwanzig. Anfang vierzig wahrscheinlich, obwohl sie sich bewegte, als wäre sie viel jünger. Und unnahbar. In Besprechungen war sie ganz die eiskalte Managerin, die genau wusste, was sie wollte, und sich in praktisch allen Fachbereichen besser auskannte als ihre Untergebenen.
Obwohl … Ab und zu warf sie ihm Blicke zu, wahrscheinlich, wenn sie sich unbeobachtet glaubte. Aber das mochte auch an seinem Aussehen liegen. In seiner Jugend hatte er seine weißen Haare und bleiche Haut gehasst. Schon gar zwischen all den sonnengebräunten Texanern in San Antonio.
Als er alt genug war, hatten seine Eltern ihm lachend erzählt, wie panisch sie auf sein Aussehen reagiert hatten. Doch der Arzt hätte nur einen Blick auf Peters leuchtend blauen Augen geworfen und dann beschwichtigend abgewunken. Kein Albino. Nur eine Laune der Natur, eine Kombination rezessiver Gene von seiner irischstämmigen Mutter und seinem Vater, dessen Vorfahren aus Mexiko eingewandert waren, als die Grenze noch durchlässig war.
Jetzt an die Reckstange. Langsam, tief durch den Mund atmen.
Der schwarzhaarige Kopf aus seinem Traum verwunderte ihn. Während seiner Klimmzüge schloss er die Augen, und versuchte sich besser daran zu erinnern. Im Institut gab es keine Frauen, die dazu passten, auch nicht in seinem Bekanntenkreis. Also war sie wohl eine Kreation seiner Fantasie gewesen.
Sein Telefon begann eine Melodie zu spielen. Peter stöhnte auf. "Call of Duty", das war Sandra. Noch nicht einmal sonntags hatte er Ruhe vor dieser Workaholikerin.
Er ließ sich von der Reckstange gleiten, holte noch zweimal tief Luft und nahm das Telefon in die Hand. "Hi, Boss!"
"Sorry, Peter", hörte er ihre Stimme, und sofort war alle schlechte Meinung über sie im Hintergrund verschwunden. Mit dieser Stimme konnte sie ohne Probleme eine Erotikshow im Fernsehen moderieren. "Ich hoffe, ich störe dich nicht."
"Nein, nein. Bin —" keuch "— nur beim Joggen im Park. Muss mich sowieso —" keuch "— erst mal ausruhen."
"Ist es wieder so schlimm mit deiner Nase? Das tut mir leid. Vielleicht habe ich etwas, das dir hilft. Frische Seeluft nonstop. Hättest du Lust, einen Monat lang auf der North Star zu arbeiten?"
Das war der Name des Forschungsschiffs, das im Nordpolarmeer unterwegs war, um die Veränderungen zu dokumentieren, die eingetreten waren, seitdem das Meer dort nicht mehr zufror. Das San Francisco Aquarium, für das Peter arbeitete, hatte dort einen ständigen Laborarbeitsplatz.
"Ist es Thorsten doch zu kalt geworden?"
Der schwedische Biologe Thorsten Thorstensson war zurzeit für diesen Arbeitsplatz eingeteilt. Er hatte sich freiwillig gemeldet, weil er "so gut mit der Kälte umgehen konnte". Peter vermisste das Fachsimpeln mit dem Mann. Er war im letzten Jahr ein recht guter Freund geworden, obwohl er manchmal aufdringlich sein konnte.
"Er ist eine Treppe hinuntergefallen und hat sich das Bein gebrochen. Sie haben ihn schon nach Winnipeg gebracht, aber er muss erst einmal zwei Wochen im Gips herumlaufen, und meinte, er wollte die Zeit bei seiner Familie in Stockholm verbringen."
Manchmal wunderte sich Peter, welch altmodischen Wortschatz Sandra hatte. Kein Mensch sagte noch "Gips" zu den Hightech-Verbänden, die das Knochenwachstum anregten und die Heilung vierundzwanzig Stunden am Tag überwachten, online verbunden mit einer medizinischen Datenbank, um jedes Problem sofort erkennen und behandeln zu können.
"Und wieso sollte ich in die Kälte wollen?"
Sandra lachte auf. "Ja, ja, ihr Texaner! Wenn die Sonne nicht mit wenigstens vierzig Grad brennt, sagt ihr, es ist zu kalt. Ich besorge dir einen extra Nordpol-Schlafsack, wenn dich das überzeugt."
Peter grinste. Die Frau war wirklich mit ihm auf einer Wellenlänge. "Deal. Wann soll ich fliegen?"
"Übernächsten Samstag. Die North Star bleibt noch für eine Woche im Hafen von Alert, um Vorräte für den Sommer aufzunehmen. Ich bin dir wirklich sehr zu Dank verpflichtet."
Sollte er? Sollte er sie fragen, ob sie mit ihm ausgehen würde? Seit über einem Jahr wartete er nur auf eine Gelegenheit. Wenn es überhaupt eine gab, dann war sie jetzt. "Keine Ursache. Du tust mir ja auch einen Gefallen, wenn du mich in der Pollenzeit hier herausholst."
"Wir sehen uns dann morgen, ja?"
"Ja. Bis Morgen." Gott! Jetzt hatte er schon wieder den Schwanz eingezogen. Bei anderen Frauen war er doch auch nicht so feige.
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Rainer Prem
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

Beitrag von Rainer Prem »

(noch erstes Kapitel)

Derselbe Tag, über dreitausend Kilometer weiter nördlich. Frühling im Norden von Kanada. Früher einmal lag hier die Baumgrenze, Richtung Pol gab es damals nur noch Tundra, Krüppelkiefern und kleine Büsche.
Im letzten Jahrhundert war das Klima deutlich wärmer geworden, die Nadelbäume schossen in die Höhe, die Büsche zwischen ihnen verkümmerten aus Mangel an Sonne.
Angelina Chamberlain genoss es, zwischen den hochgewachsenen Stämmen rennen zu können. Sechs Tage in der Woche arbeitete sie als Lehrerin. Die Schule war nur ein einziger Raum, die Kinder zwischen drei und sechzehn boten schon eine Herausforderung fast zwölf Stunden am Tag. Umso mehr genoss sie es, sonntags hinauszurennen. Alleine. Weg von den Kindern, weg von den Problemen des Alltags, dorthin, wo die Beeren des Frühlings schon fast reif waren, wo eine Symphonie von Düften fast greifbar in der Luft lag.
Vielleicht sollte sie doch mit Maria reden, sich mal eine Auszeit von der Schule gönnen, es gab genügend junge Frauen im Dorf, die sie ersetzen konnten. Wenn sie ihrer Großmutter von den Träumen letzte Nacht erzählte, so wirr und verrückt sie auch gewesen sein mochten, vielleicht sah die alte Frau ja eine tiefere Bedeutung darin.
Obwohl … Sie fühlte, wie sich ihre Nackenhaare aufrichteten, wenn sie an den Mann dachte, von dem sie geträumt hatte. So fremdartig war er gewesen; ganz sicher niemand aus dem Dorf. Aber jetzt hinauszugehen, nach Süden, in eine der großen Städte, dafür war sie noch nicht bereit. In ein paar Jahren vielleicht, aber wenn, dann nicht auf der Suche nach einem Liebhaber, den sie im Traum gesehen hatte.
Liebhaber hatte sie hier im Dorf genug. Sie wollte jetzt langsam eine feste Bindung eingehen. Den Einen finden, der zu ihr passte. Ob der dann weiße Haare hatte oder nicht, war ihr egal. Sie würde sich von ihrem Herz leiten lassen.
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Rainer Prem
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

Beitrag von Rainer Prem »

2

Peter Rodriguez öffnete seine Augen. Scheiße! Das war also doch kein Traum.

Ein Dach aus Blättern leuchtete über ihm in der Morgensonne. Es schien die Tatsache zu verspotten, dass er in der kanadischen Wildnis gestrandet war. Er starrte auf die Millionen verschiedener Grün-Nuancen, die sich sachte im Wind bewegten. Wirklich hervorragend! Wenn er könnte, würde er dieses wunderschöne hellgrüne Dach sofort mit der öden Decke seines Schlafzimmers zuhause vertauschen.

Fast zwei Wochen lang war er jetzt schon auf dem Weg nach Süden, zurück in die Zivilisation. Das Flugzeug war abgestürzt, das ihn eigentlich zur North Star bringen sollte.

In den ersten Tagen war er an der Absturzstelle geblieben und hatte auf Hilfe gewartet, aber niemand war gekommen. Der Flieger war schnell in einem Sumpf versunken, und er hatte nicht vorgehabt, ihm zu folgen. Wenigstens hatte er seinen Rucksack und ein Notfallpaket aus dem Wrack retten können.

Es war das erste Mal, dass er so etwas in der Hand hatte. Mehr interessiert als betroffen hatte er sich zuerst einmal hinein vertieft.

Schwimmweste. Sehr witzig! Wären sie über dem Nordmeer abgestürzt, hätte ihm das Ding bei einer Wassertemperatur am Gefrierpunkt auch nichts genutzt.

Leuchtpistole. Wohl ganz sinnvoll. Doch dann hatte er die Gebrauchsanleitung gefunden und festgestellt, dass er sich wohl eher selbst den Kopf wegschießen würde, als das Ding sinnvoll einzusetzen.

Klettereisen zum Anbringen an den Stiefeln. Das war doch etwas Echtes. Hier kurz vor dem Breitengrad, wo früher einmal die Baumgrenze gelegen hatte, waren die Nadelbäume nicht wirklich hoch, aber wenn er weiter nach Süden kam, konnte er sich damit einen Überblick über die Umgebung verschaffen.

Essen. Nein: Kein Essen. Kein Essen? Er schüttete den Rest des Pakets aus und wühlte sich durch den Haufen.

Verbandsmaterial, Feuerzeug, Kompass. Alles nützlich, nur das Wichtigste fehlte. Noch nicht einmal ein Müsliriegel.

Jetzt wusste er plötzlich, warum die Leuchtpistole dabei war. Ehe er verhungerte, konnte er sich damit wenigstens problemlos umbringen.

Aber dann gab er den Beeren eine Chance, die um die Absturzstelle herum wuchsen. Sie sahen zwar den Abbildungen auf den Marmeladepackungen zu Hause nicht wirklich ähnlich -- er hatte Erdbeeren immer für viel größer gehalten -- und schmeckten auch nicht so süß, dennoch füllten sie seinen Bauch und schienen mehr Energie zu enthalten, als das Fertigessen, an das er von zu Hause gewöhnt war.

Drei Tage lang hatte er gewartet, ob eine Rettungsmannschaft kommen würde, aber dann lief er einfach los in Richtung Süden. Ob er hier oder unterwegs starb, war ja wohl egal; und Laufen machte weitaus mehr Spaß, als herumzusitzen.

Zumindest anfangs.

Als am ersten Tag seine Armbanduhr sechzehn Uhr anzeigte, beschloss er, es erst einmal gut sein zu lassen, und seinen schmerzenden Füßen Ruhe zu gönnen. Die Sonne würde auf dem sechzigsten Breitengrad noch lange nicht untergehen; durch das dichte Dach aus Zweigen konnte er sie sowieso nicht sehen.

Weiche, grasbewachsene Flecken am Boden sahen im ersten Moment verlockend aus, aber die Heultöne rings um ihn herum hatten ihn schnell von der Idee abgebracht sich dorthin zu legen. Also benutzte er jeden Abend die Klettereisen, um sich eine passende Astgabel zu suchen, in der er die Nacht verbringen konnte.

Die Äste der inzwischen richtig hohen Nadelbäume konnte man nicht wirklich weich nennen. Er hatte den tollen Nordpol-getesteten Schlafsack, aber nichts, um seinen Liegeplatz zu polstern. Vielleicht hätte er die Schwimmweste doch mitnehmen sollen.

Am nächsten Morgen war er schweißgebadet aufgewacht, und bei jeder Bewegung teilte ihm sein Körper haarklein mit, wie viele seiner Gelenke in der Lage waren, Schmerzen auszustrahlen. Gelenke, deren Namen er in seinem Studium einmal gelernt, in seinem Körper aber nie bemerkt hatte.

Wenigstens hatten ihn seine dicken, ebenfalls Nordpol-getesteten, Socken vor Blasen bewahrt, also gab es keinen Grund, hier weiter herumzuliegen.

Der dritte Tag war noch schlimmer. Trotz der Wasserreinigungstabletten hatte er sich wohl etwas eingefangen. Er blieb zwar vor Durchfall und Erbrechen verschont, aber jede einzelne Zelle in seinem Körper schien platzen zu wollen. Er konnte weder stehen, sitzen, liegen noch laufen, ohne vor Schmerzen aufschreien zu wollen.

Am Ende der ersten Woche ging es ihm dann endlich wieder besser.

Er hatte sich wohl der Wildnis angepasst. So sehr, dass er seinen Kompass, die einzige technische Gerätschaft, die außer seiner mechanischen Uhr den Absturz überlebt hatte, seit Tagen nicht mehr zu Rate gezogen hatte, um die Südrichtung zu bestimmen.

Genug der Träumereien. Und jetzt? Er führte einen schnellen Check durch. Füße, Rücken, Schultern, alles in Ordnung.

Das Wetter ließ nichts zu wünschen übrig, also sollte er heute wieder einen ganzen Tagesmarsch zurücklegen können.

Peter stand auf, lehnte sich an den Baumstamm und begann, den Schlafsack einzurollen, den er inzwischen nur noch als Unterlage benutzte. Währenddessen glitt sein Blick am Baum hinunter.

Er erstarrte. Dort im Schatten lag ein Tier. Es hatte schwarzes Fell und sah so ähnlich aus wie ein Hund, nur größer. Viel größer.

Nicht, dass er je einen lebenden Hund gesehen hatte. Aus seiner Jugend erinnerte er sich an das ausgestopfte Exemplar im Naturkundemuseum von San Antonio. Das hier, fiel ihm ein, musste ein Wolf sein, abgesehen davon, dass die Wölfe im Museum grau, manchmal sogar in Richtung weiß gingen und nicht so rabenschwarz waren wie der unter ihm.

Als ob der Wolf Peters Blick bemerkt hätte, sah er jetzt nach oben. Sein Gesichtsausdruck schien Peter, als wollte das Tier ihn zu etwas einladen.

"Ja, genau", murmelte Peter vor sich hin. "Du lädst mich zum Frühstück ein, und dein Frühstück bin ich."

Der Wolf öffnete sein Maul, als wollte er seine gewaltigen Fangzähne zeigen -- oder aus Langeweile gähnen.

Peter blickte sich um. Er konnte nichts sehen, was er als Wurfgeschoß verwenden konnte.

Was jetzt? Mit der Leuchtpistole darauf schießen? Nein, das war keine Option. Das Tier gehörte zu einer bedrohten -- eigentlich ausgestorbenen, wenn er es recht bedachte -- Tierart, und nur, weil es vielleicht gefährlich war, hatte es nicht den Tod verdient. Es gab sich auch überhaupt nicht aggressiv ... aber es blockierte Peters Weg sehr effektiv.

Hm. Hatte er nicht gelesen, dass wilde Tiere menschenscheu waren?

"Geh weg", rief er und wedelte mit seinen Händen. "Hau ab!"

Als ob es ihn verstand, erhob sich das Tier, warf noch einmal einen Blick nach oben, und schlenderte weg. Gemütlich, als ob es beschlossen hätte, dass der Klügere nachgab.

Als es das Unterholz erreichte, blieb es stehen, drehte den Kopf noch einmal in Peters Richtung und verschwand.

Er holte tief Luft. Wenn all seine Begegnungen mit wilden Tieren so ausgingen, hatte er vielleicht tatsächlich eine Chance, wieder die Zivilisation zu erreichen.
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Rainer Prem
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

Beitrag von Rainer Prem »

3

Angelina folgte dem Außenseiter nun seit zwei Tagen.

Maria war unerwartet am Haus ihrer Familie aufgetaucht. Die ganze Familie freute sich natürlich sehr, Großmutter zu sehen, aber normalerweise blieb sie eher mit Großvater auf ihrer Seite des Dorfes und ließ die Leute zu sich kommen, mit denen sie reden musste.

Also war Angelina nicht die einzige, die die alte Frau misstrauisch beäugte. Ihr schwante schon etwas, nachdem sie sich eine Woche vorher ein Herz gefasst, und ihren Wunsch mitgeteilt hatte.

Maria hatte nur genickt, auf ihre würdevolle Art, und "Ja, das ist richtig" gesagt.

Angelina war ein Stein vom Herzen gefallen. Wenn der Wunsch nicht in die Vision der alten Frau gepasst hätte, wären jegliche Argumente vergeblich gewesen. Aber so war alles schnell geregelt.

"Angelina, Kleines", sagte Maria. Manchmal war Oma richtig nervend. Ließ den Altersunterschied heraushängen. Dabei war Angelina auch schon fast dreißig.

"Ja, ehrenwerte Älteste", antwortete sie, und versuchte dabei ernst zu bleiben.

Maia legte den Kopf schräg und grinste ihre Enkelin an. "Heute mal wieder gut drauf, Kleines? Ich habe einen Job für dich. Richard ist zurück."

Richard war einer der Späher, die das Großfeuer im Norden untersuchen sollten, das letzte Woche das Dorf in helle Aufregung versetzt hatte. Es war ein- oder zweihundert Kilometer weit weg, erleuchtete aber dennoch nächtelang den nördlichen Himmel.

So plötzlich wie es entstanden war, und so früh im Jahr konnte es keine natürlichen Ursachen haben. "Haben die Späher etwas herausbekommen?"

"Ganz Baker Lake ist weg, einfach ausradiert. Aber das ist nicht der Grund, warum ich hier bin. Er hat einen Außenseiter gesehen auf dem Weg hierher, und du kannst Begrüßer spielen; das wolltest du doch."

Angelina nickte abwesend. Es kam ab und zu vor, dass einzelne Leute sich in der Wildnis verirrten. Manchmal liefen sie mehr oder weniger genau auf New Hope zu, und die Dorfbewohner schickten ihnen einen Begrüßer entgegen. Wenn sich herausstellte, dass der Außenseiter nicht so harmlos war, wie es schien, gab es genug Möglichkeiten, ihn in die Irre zu locken.

Aber normalerweise waren das erfahrene Waldläufer. Angelina hob eine Augenbraue. "Ich? Warum gerade ich?"

Maria lächelte. "Zum einen", sagte sie, "damit du hier nicht Wurzeln schlägst. Du wolltest doch etwas tun, bei dem du aus dem Dorf herauskommst." Sie machte eine Pause, ihr Blick wurde nachdenklich.

Angelina hob die andere Augenbraue. "Und zum anderen?"

"Zum anderen scheint der Mann ungefähr in deinem Alter zu sein. Ein hübsches Mädchen wirkt bestimmt harmloser, als ein grimmiger Waldläufer wie Richard oder Mark."

Angelina hatte Probleme nicht loszuprusten. "Hübsches Mädchen" war nicht wirklich, wie sie sich selbst beschreiben würde.

Und obwohl es durchaus Sinn machte, dass sie die Aufgabe übernahm, wusste Angelina genau, dass ihre Großmutter etwas verheimlichte. Sie blickte ihr tief in die Augen, versuchte ihre Gedanken zu ergründen, aber Maria blickte nur ausdruckslos zurück. Nun ja. Oma würde sie nicht alleine in die Wildnis schicken, wenn irgendeine Gefahr bestünde, mit der sie nicht fertig werden konnte.

Also lief sie los. Wer hier aufgewachsen war, konnte die schwachen Spuren leicht wahrnehmen, die öfters begangene Wege kennzeichneten. Wenn sie in die Richtung von Baker Lake lief, würde sie den Außenseiter viel früher bemerken als er sie.

Und sie hörte ihn auch schon von weitem. Obwohl er eigentlich auf einem der Pfade lief, trampelte er mit seinen schweren Stiefeln immer wieder auf trockene Zweige, deren Brechen im Wald kilometerweit zu hören war.

Und dann sah sie ihn zum ersten Mal. Sie musste ihre Hände auf ihren Mund pressen, um nicht vor Erstaunen laut zu werden. Der Kerl hatte weiße Haare und blaue Augen. Das konnte doch nicht sein. Keine Chance, dass Richard diese Tatsache vor Maria verheimlicht hatte. Jetzt war klar, was Oma vorhatte.

Den Mann musste sie in Ruhe begutachten. Statt ihm gleich "ganz zufällig" über den Weg zu laufen, würde sie ihn zuerst einmal mit einigem Abstand beobachten.

Zwei Tage später näherte er sich dem Sumpf, der New Hope schützte. Jetzt würde sie bald sehen, wie gut der Mann sich schon angepasst hatte. Er blieb stehen, schnupperte — ja gut so — aber dann griff er in seine Tasche und holte einen Metallgegenstand heraus. Was wollte er denn damit anfangen?

Jetzt lief er weiter. Er blickte sich zwar ständig um, aber achtete nicht auf den Boden zu seinen Füßen. Angelina lief schneller. Sie hatte nicht viel Zeit.
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Rainer Prem
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

Beitrag von Rainer Prem »

4

Die Gegend sah zwar nicht anders aus als bisher, aber — Peter holte tief Luft durch seine Nase — roch anders. Mit seiner chronisch verstopften Nase hatte er noch nie viel auf Gerüche gegeben. Doch jetzt …

Der Grund unter seinen Stiefeln war immer noch der gleiche, auch die Bäume hatten sich nicht verändert. Er schnüffelte noch einmal. Vielleicht lag irgendwo ein totes Tier herum. Wenn hier Wölfe lebten, dann brauchten sie etwas, um sich die Bäuche zu füllen.

Hätte er nicht irgendwann darüber lesen sollen, dass in Kanada einige Tiere die globale Seuche überlebt hatten? Peter runzelte die Stirn, wühlte in seinen Erinnerungen, während seine Hände ein paar Beeren pflückten. Er konnte sich nicht erinnern.

Auf jeden Fall konnte ein Kadaver bedeuten, dass sich in der Nähe Raubtiere herumdrückten, also nahm er die Leuchtpistole in seine Hand. Er lief langsam weiter, hielt von Zeit zu Zeit an, um auf unvertraute Geräusche zu lauschen. Nichts zu hören.

Er war so fixiert auf Geräusche und Gerüche, dass es ihn völlig überraschte, als der Boden unter ihm nachgab. Mit rudernden Armen versuchte er, sich an irgendetwas festzuhalten. Die Leuchtpistole flog in weitem Bogen weg.

Er warf sich nach hinten, aber seine Füße verschwanden schon unter der schlammigen Oberfläche und zogen seinen Körper nach unten. Verzweifelt versuchte er, seinen Rucksack loszuwerden, aber seine verschmierten Finger rutschten vom Verschluss ab. Sein Körper sank tiefer und tiefer in den Sumpf.

Plötzlich klatschte ein großer Ast direkt neben ihm auf die Oberfläche.

Er zuckte zusammen. Was war das? Er besaß noch genug Geistesgegenwart, sich mit beiden Händen festzukrallen. Langsam wurde er mit dem Rücken voran aus dem Sumpf gezogen. Erst als er wieder halb auf festem Grund lag, konnte er aufstehen und sich umdrehen, um seinem Lebensretter ins Auge zu sehen.

"Danke", keuchte er und begann, den Schlamm von seinem Gesicht zu wischen.

"Gern geschehen."

Seine Hände erstarrten, als er sah, wer da vor ihm stand. Eine junge Frau. Hochgewachsen und schlank, so um die zwanzig. Ihr schwarzes Haar hing ungekämmt bis zu ihrer Taille. Braune Augen blickten groß aus ihrem tief gebräunten Gesicht. Die Frau — das Mädchen — war nicht wirklich schön zu nennen, eher ein Rohdiamant als ein Brillant.

Sie trug ein kurzärmeliges Kleid, das bis zur Mitte ihrer Oberschenkel reichte. Wer um Himmels willen ging in einem Kleid in die Wildnis? Es war recht eng, hob ihre beachtliche Oberweite hervor und lenkte seine Aufmerksamkeit auf ihre nackten, durchtrainierten Beine.

Und was für Beine sie hatte! Zu seinen College-Zeiten hatte er dreimal die Woche trainiert. Damals hatten seine Muskeln auch so ausgesehen. Jetzt, Ende zwanzig, ließ er es langsamer angehen, lief nur noch am Sonntagvormittag, und sah auch danach aus. Nicht direkt schlaff, aber schlimm genug, um sich in Gegenwart dieses Mädchens plötzlich sehr alt zu fühlen.

Eines Mädchens, fiel ihm da ein, das perfekt englisch sprach und wahrscheinlich auf eine Antwort von ihm wartete.

"Ich heiße Peter", brachte er endlich heraus, während seine Hände wieder begannen, den Dreck zu entfernen. "Peter Rodriguez."

"Angelina. Freut mich, dich kennenzulernen. So wird das nichts."

Angelina! Die Gedanken in seinem Kopf überschlugen sich und seine Synapsen bildeten seltsame Verbindungen. Ein Engel war zu seiner Rettung herbeigeeilt. Er spürte, wie sich sein Gesicht zu einem breiten – wahrscheinlich ziemlich dämlich aussehenden — Grinsen verzog. "Wie? Was? Was wird nichts?"

"Der Schlamm. Der ist viel zu klebrig. Du musst dich und deine Klamotten mit Seife waschen."

"O ja. Und gleich hinter den Bäumen liegt ein Fünfsternehotel." Noch nie in seinem Leben war er mit jemandem so schnell vertraut geworden wie mit dieser Frau.

Angelina lachte. Es klang wie eine Mischung aus Glockenklang und lauem Sommerwind, der über ein Feld strich.

Er schüttelte seinen Kopf. Was für einen Scheiß dachte er gerade?

Angelina wies in die Richtung, in die er unterwegs war. "Komm mit. Wir haben zwar kein Hotel in unserem Dorf, aber wenigstens sauberes Wasser." Sie grinste. "Und Seife."

Er beäugte den Sumpf misstrauisch. "Kaum hast du mich rausgezogen, willst du mich schon wieder ertränken."

Angelina schüttelte den Kopf. "Es gibt sichere Wege durch den Sumpf. Die Außenseiter kennen sie natürlich nicht. Du bist wohl einer."

"Außenseiter? Wenn du meinst …"

Sie lachte wieder. Dann wies sie auf seine schlammverkrusteten Füße. "Zieh deine Schuhe und Strümpfe aus."

Jetzt erst wurde ihm bewusst, dass Angelina barfuß herumlief. Mitten in der Wildnis. Auf hübschen, kleinen Füßchen. Er verscheuchte die seltsamen Gedanken. "Wirklich? Bist du noch zu retten? Willst du mich zum Opfer von Blutegeln machen? Nein, danke."

"Du musst hier barfuß laufen, sonst spürst du die Pfade nicht."

Er zuckte seine Achseln und setzte sich hin. Mühselig begann er, die verschlammten Schuhe auszuziehen.

Hatte er eigentlich jemals davon gehört, dass es hier in — wie hieß dieser Teil von Kanada? — Leute gab, die amerikanisches Englisch sprachen? Kanadier sprachen Varianten von britischem Englisch oder Französisch; die Inuit sprachen — er rieb seine Nase, während er versuchte, sich zu erinnern — irgendetwas anderes.

Während er immer noch mit den verkrusteten Verschlüssen seiner Schuhe kämpfte, erschien plötzlich ein Text wie auf einem Bildschirm in seinem Kopf und er las ihn ab: Nunavut, zwei Millionen Quadratkilometer, rund fünftausend Einwohner in gerade mal zwei Kleinstädten und ein paar Siedlungen — aus welcher Ecke seines Gehirns kamen denn all diese Informationen? Er erinnerte sich nicht, dass er jemals Details über kanadische Provinzen gelesen hätte. Vielleicht im Geografieunterricht in der Jugend, aber wer merkte sich so etwas?

Die Verschlüsse waren auf. Jetzt konnte er die Schuhe abstreifen. Er steckte seine Socken hinein und knüpfte sie dann an seinen Rucksack.

Und Angelina … Ihr Gesicht sah überhaupt nicht rund wie das einer Inuit aus. Wenn überhaupt, dann hatte sie mehr Latino-Züge als Peter mit seinem mexikanischen Erbe. Stumm schüttelte er seinen Kopf ob dieses neuen Geheimnisses.

"Wirst du eigentlich heute noch fertig?", riss ihn Angelina aus seinen Tagträumen. "Oder soll ich morgen nochmal wiederkommen?"

Ohne nachzudenken stand er freihändig auf — eine Woche vorher hätte er, mit dem zwanzig-Kilo-Rucksack auf dem Rücken, noch seine Hände gebraucht. Vielleicht sollte er sich später nochmal seine Waden anschauen. Der Marsch hatte offensichtlich Wunder an seinem Trainingszustand bewirkt.

Dann fühlte er den Boden unter seinen Füßen. Zum ersten Mal in seinem Leben stand er barfuß im Freien. Das Gras unter seinen Sohlen und zwischen seinen Zehen fühlte sich gut an — frisch, kühl, weich … lebendig. Nur schwer konnte er vermeiden schon wieder in Gedanken abzudriften. Er hatte keine Zeit sich der neu gefundenen Naturverbundenheit hinzugeben. Der Abend rückte näher, und er wusste nicht, wie weit es zu Angelinas Dorf war.

Sie war schon weiter gegangen. In der Nähe der Stelle, an der er versunken war, stand sie auf einem Flecken Gras und wartete auf ihn.

Er setzte sich in ihre Richtung in Marsch, blieb aber plötzlich stehen. Seine Füße fühlten tatsächlich einen Unterschied. Ein Blick nach unten zeigte ihm, dass das Gras unter seinem vorderen Fuß dunkler war und sich anders anfühlte. Das "normale" Gras ersteckte sich weiter nach rechts, und nach vorne und links begann der Schlamm.

Er wandte sich nach rechts und lief einen Umweg.

Warum hatte er das vorhin nicht gesehen? Der Unterschied war doch völlig offensichtlich. Aber auf der anderen Seite hätte er Angelina wohl nicht getroffen, wenn er den Sumpf vermieden hätte.

Ruckartig hielt er an. Wie zum Henker konnte Angelina genau in dem Moment auftauchen, als er in den Schlamm fiel? Das konnte kein Zufall gewesen sein. "Wie lange bist du mir schon nachgelaufen?"

Wieder lachte sie. "Den ganzen Tag. Ich habe dich aus einem Kilometer Entfernung gehört. Du bist durch den Wald gestapft wie eine Herde Elefanten." Sie wandte sich um und lief los. "Ich habe mit mir gewettet, ob du den Sumpf rechtzeitig bemerkst."

Er folgte ihr. "Schon vergessen? Ich bin der tollpatschige Außenseiter hier."

"Du wirst besser." Dann drehte sie den Kopf und musterte ihn. "Wo kommst du eigentlich her?"

"Ursprünglich? Aus San Antonio, Texas. Im Moment aus Winnipeg. Ich bin Meeresbiologe."

"Soweit ich weiß, liegen aber weder San Antonio noch Winnipeg am Meer."

Er lachte. "Da hast du Recht. Ich arbeite für das Meeresaquarium in San Francisco. Wir haben ein Labor auf einem Schiff im Arktischen Ozean. Ich war eigentlich auf dem Weg dahin, als mein Flugzeug abgestürzt ist."

"Ach! Das Feuer letzte Woche?"

"Ich erinnere mich an kein Feuer. Ich vermute, ich habe während des Fluges geschlafen. Ich bin erst wieder auf dem Boden aufgewacht, fünfzig Meter entfernt von dem Flugzeug."

"Der ganze Himmel hat gebrannt, und dann ist das Feuer weiter im Norden heruntergekommen. Unsere Späher erzählen, dass die Stadt Baker Lake und alles darum herum verbrannt ist. Alle Häuser sind verschwunden. Sogar die Autos und Boote der Einwohner sind zerstört."

Was seine Information über Nunavut abrupt veralten ließ. Dort — in Baker Lake, oder Qamanittuaq, Hauptort der Region Kivalliq — hatten über tausend Menschen gelebt. Wie auf einem Bildschirm konnte er die Zahl 1.318 sehen. Was genau geschah mit ihm?

Peter schüttelte seinen Kopf; die Zahl verschwand. "Vom Himmel herunter?" Er kratzte sich am Kopf. "Das kann aber kein Meteor gewesen sein. Mein Telefon hat sich in meine Jackentasche gebrannt."

"Du hast Recht. Ein Meteor würde so etwas nicht tun."

"Habt ihr denn Telefone in eurem Dorf?"

Sie schüttelte den Kopf. "Wir leben … naturnah."

"Würde man als Hippies nicht besser in Kalifornien leben als hier in Nordkanada?"

"Hippies!" Angelina brach in Kichern aus. "Das muss ich Papa erzählen." Dann zeigte sie nach vorne. "Da sind wir. Unsere 'Hippie-Kommune'."

Er hielt an und drehte sich um. Sie hatten den Sumpf hinter sich gelassen.

Soweit er sich erinnerte, hatte er kein einziges Mal zu Boden geschaut. Er war zwar hinter Angelina gelaufen, aber nicht in ihren Fußstapfen. Während sie geredet hatten, war er neben ihr gegangen, flott, ohne sich um den Zustand des Bodens zu kümmern. Warum war er kein einziges Mal gestolpert? Warum hatte er keinen einzigen Stein mit seinen Zehen angestoßen? Machte es wirklich so einen großen Unterschied, barfuß zu laufen?
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

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Angelina fühlte sich so nervös wie schon lange nicht mehr. Nicht mehr, seit sie damals mit Thomas zum ersten Mal bei Vollmond durch den Wald gerannt war im Bewusstsein, dass er sie zur Frau machen würde.

Damals war es schnell gegangen, zu schnell für ihren Geschmack — ein typischer junger Mann eben — und er war nur der erste gewesen. Aber sie alle hatten sie zwar körperlich befriedigt, aber seelisch leer zurückgelassen. Sie hatte im Prinzip ihr ganzes erwachsenes Leben auf der Suche nach dem Richtigen verbracht.

Diesmal würde sie es besser machen. Warten, bis dieser Außenseiter sich akklimatisiert hatte, und ihn in der Zeit besser kennen lernen.

Peter wandte sich wieder von dem Sumpf ab und blickte in Richtung Dorf. Seine Augen weiteten sich.

Die meisten reagierten so, wenn sie New Hope zum ersten Mal sahen. Das Dorf bestand aus zwei Dutzend Blockhäusern in unterschiedlichen Größen, kreisförmig angeordnet um ein das gemeinschaftliche Lager- und Versammlungshaus in der Mitte.

Peters Augen huschten hin und her. Wie lange würde er wohl brauchen, bis ihm etwas auffallen würde?

Eine Gruppe Männer baute gerade das neue Blockhaus für Theresa und Joe. Mit jetzt zwei Kindern wurde es langsam Zeit für die Familie, bei den Eltern auszuziehen.

Mama kam zusammen mit den anderen Frauen zurück, die heute Waschtag hatten. Sie trugen große Bastkörbe mit der sauberen Wäsche und warfen kurze Blicke in Angelinas — oder besser gesagt in Peters — Richtung.

Ihre Geschwister drückten sich natürlich in der Nähe herum und taten, als würden sie Fangen spielen. Hoffentlich merkte Peter nicht, wie intensiv sie ihn musterten.

Er wandte sich ihr zu. "Ich kann keine Maschinen sehen", stellte er fest.

Das war also seine erste Wahrnehmung. "Wie ich schon sagte —"

"— 'naturnah'", vervollständigte er. "Ja, ja, ich verstehe schon. Es scheint, eine Menge von deinen Leuten hat Rousseau gelesen."

Warum mussten die Leute immer diese archaischen Philosophen zitieren? Damals hatten die Menschen noch nicht einmal etwas von Hygiene gewusst. "Wir sind nicht wirklich Philosophen. Ich kann nicht darüber sprechen. Noch nicht."

Gewöhne dich erst einmal an uns, dann sehen wir weiter.

*

Peter runzelte die Stirn und wandte sich wieder dem Dorf zu.

Was war hier anders? Klar, dieses Dorf war ganz anders als die großen Städte, in denen er in seinem Leben gewesen war. Es war auch ganz anders als die typischen Wohngebiete von Pendlern, die jede dieser großen Städte umgaben.

Er blickte noch einmal genauer hin. Irgendetwas war seltsam in dem Bild vor ihm. Er konnte fast riechen, dass diese Leute etwas verbargen. Was stimmte hier nicht?

Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.

Wo waren die alten Leute, die sich unter einem Baum trafen, um über die Zeiten zu erzählen, wo alles besser gewesen war? Hier gab es Kinder, junge Leute, Leute im mittleren Alter. All das konnte er sehen, aber keine Senioren. Das Wetter war doch viel zu schön, um den Nachmittag in einer Blockhütte zu verbringen.

Es schien auch viel mehr Frauen als Männer zu geben. Angelina hatte von Spähern erzählt. Vielleicht waren die meisten Männer ja im Wald auf der Jagd?

"Komm mit", sagte Angelina in seine Gedanken hinein. "Ich stelle dich meinen Eltern vor."

Einen Moment lang durchzuckte Panik seine Gedanken bei Angelinas Formulierung. Eine Vorstellung bei "den Eltern", was um Himmels willen mochte da noch alles passieren? Aber dann schob er den Gedanken beiseite. Eine Stunde lang einen Sumpf zu durchqueren, war doch nichts Kompromittierendes.

Angelina steuerte ihn zu einer der größeren Hütten. Eine Frau war gerade dabei, Wäsche zum Trocknen aufzuhängen.

"Mama, schau mal", rief Angelina. "Ich habe mir einen waschechten Außenseiter eingefangen."

Er konnte gerade noch vermeiden, sein Gesicht zu verziehen.

Angelinas Mutter war ein älteres Spiegelbild ihrer Tochter, nur ihre Haut war mehrere Schattierungen dunkler. Sie wandte sich um und lächelte. "Hallo, Außenseiter."

"Ich heiße Peter Rodriguez, Ma'am. Erfreut, Sie kennen zu lernen." Er streckte seine Hand aus.

"Freut mich auch, Peter. Nenn mich einfach Annie." Ihr Lächeln war warm, aber sie griff nicht nach seiner Hand. "Wir sind hier nicht so förmlich."

Ganz entgeistert blickte Peter auf seine Hand. Dann ließ er sie langsam sinken. O-kay. Dann würde er wohl mit den Wölfen heulen müssen. Er zuckte seine Schultern.

Angelina stand an der Tür und winkte. "Komm her, Peter. Hier ist der Rest der Familie."

Plötzlich wurde ihm klar, dass auch Angelina ihn nicht berührt hatte. Die ganze Zeit, seitdem sie ihm den Ast hingeworfen hatte, war sie immer auf Abstand geblieben. Er folgte ihr ins Haus. Licht fiel durch mehrere unverglaste Fenster in den Raum.

"Mama, das ist Peter. Peter, das ist Jessica, meine zweite Mutter. Und da drüben ist Ruth, meine dritte."

Bumm! Toto, wir sind nicht mehr in Kansas. Er hatte das Gefühl, seine Kinnlade wollte herunterfallen.

Beide Frauen trugen ähnliche Kleider wie Angelina, wenn auch ihr Saum etwas tiefer ging.

Mama Jessica, eine zierliche Blondine mit blauen Augen, bereitete Gemüse für das Essen vor und lächelte warmherzig in Peters Richtung. "Hi, Peter."

"Hi, Jessica." Seine Antwort kam mehr oder weniger automatisch.

Mama Ruth, rothaarig und größenmäßig zwischen den beiden anderen, faltete Wäsche. "Guten Tag, Peter."

"Guten Tag, Ruth." Er verzichtete darauf, den beiden die Hand zu reichen. Er verzichtete auch darauf, ungläubig seinen Kopf zu schütteln.

Angelina feixte ihn von der Seite an. "Spuck es aus!"

"Drei Mütter?"

"Hm, ja. Hast du ein Problem damit?"

Hatte er das? Er kaute auf seiner Lippe. "Nein, nicht wirklich. Ich musste nur daran denken, wie wohl jemand mit drei Schwiegermüttern umgehen würde. Hast du auch drei Väter?" Und wieso kamen ihm ständig Gedanken, die sich um das Heiraten rankten?

Angelinas Gesicht war ernst geworden. "Nein. Nur einen sehr zufriedenen Papa, aber es könnte sein. Unsere Gemeinschaft ist sehr offen, wenn es darum geht, Familien zu gründen."

"Ich bin Angelinas leibliche Mutter", sagte Annie, die gerade das Haus betrat.

Peter grinste. "Das dachte ich mir schon. Auch wenn wir 'draußen' einen anderen Lebensstil pflegen, halte ich mich nicht für einen Heuchler."

Plötzlich wurde er von Kindern umringt. "Schau", sagte ein kleines Mädchen. "Er sieht nicht viel anders aus, abgesehen von —"

"Was hast du denn von Außenseitern gehört?", unterbrach er sie.

Die Kleine errötete.

"Er benimmt sich auch nicht viel anders", sagte ein Junge — der einzige in der Horde. "Mama", wandte er sich an Ruth. "Sagtest du nicht, alle Außenseiter wären blöde?"

"John!" Ruth war allem Anschein nach seine leibliche Mutter. "Benimm dich!"

"Und er ri—" kam von einem anderen Mädchen hinter Peter.

Was wollte sie sagen? Wie ich rieche?

Das war es. Er merkte plötzlich, dass er all die Leute riechen konnte, dass jeder seinen eigenen unverwechselbaren Geruch hatte. Ruth roch wie Orangen, John wie Limonen. Jessica, die Kleine, die wahrscheinlich ihre Tochter war, und das Mädchen hinter ihm rochen nach unterschiedlichen Apfelsorten. Annie roch wie eine Sonnenblume, und Angelina —

Angelina duftete fruchtig wie eine Rose … aber da war etwas anderes darunter. Er wusste nicht wieso, aber es erinnerte ihn an … Sex. Er wandte sich um und sah ihr in die Augen. War sie erregt? Seinetwegen?

"Sorry", murmelte er und lief aus dem Haus. Draußen nahm er erst einmal einen tiefen Atemzug, um die Nase frei zu bekommen.

War das der Grund, warum das Mädchen ihn in das Dorf gebracht hatte? "Was hast du vor, Angelina?", flüsterte er.

"Du hast es ganz richtig gerochen, Peter", sagte sie hinter ihm. "Aber ich werde dich nicht unter Druck setzen. Niemand hier wird Druck auf dich ausüben. Nimm erst einmal ein Bad, und iss dann mit uns zu Abend. Hier …" Sie reichte ihm einen Bademantel. "Sieh zu, dass du deine dreckigen Klamotten loswirst und zieh das an. John zeigt dir, wo die Badewanne für die Männer ist."
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Rainer Prem
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

Beitrag von Rainer Prem »

6

Als Peter in einer Ecke hinter dem Haus seine Sachen auszog, begann seine Haut zu prickeln. Es wurde stärker, während er, in den Bademantel gekleidet, mit John durch das Dorf lief.

Die Leute begrüßten ihn freundlich, obwohl doch jeder in so einer kleinen Gemeinschaft wissen musste, dass er ein Außenseiter war. Aber dennoch blickte ihn keiner von ihnen böse an, und die Gerüche, die der Wind mitbrachte, waren angenehm.

Zu guter Letzt kamen sie an die "Badewanne der Männer". Auf einer Lichtung umgeben von Büschen war ein großer Holzbottich in den Boden eingelassen. Aus einer hölzernen Leitung floss Wasser in die Wanne.

Immer noch meinte er jeden Sonnenstrahl und jeden Windhauch durch den Bademantel hindurch auf seiner Haut zu spüren. Ihn auszuziehen, änderte seltsamerweise nichts an dem Gefühl.

Vorsichtig senkte er seinen Zeh in das vermeintlich kalte Wasser und war positiv überrascht. Offensichtlich kam die Wasserleitung von einer warmen Quelle.

Mit einem tiefen Aufseufzen ließ er sich in das Wasser gleiten. "O mein Gott", stöhnte er auf. "Fühlt sich das gut an!"

"Hier." John drückte ihm ein Stück Seife in die Hand. Er hatte sich schon halb abgewandt, doch dann zögerte er. "Darf ich dich etwas fragen?"

"Danke. Klar doch. Quetsch mich einfach aus."

"Sind noch mehr Außenseiter so weiß wie du?"

Jetzt fiel Peter zum ersten Mal ein, wie fremd er doch auf diese Leute wirken musste.

Er war tatsächlich etwas Besonderes.

Sein Haar war nicht einfach blond, sondern reinweiß ohne jeden Schatten. Seine Haut färbte sich nie in der Sonne, und er bekam auch keine Sommersprossen. Zum Glück zeigten seine Augen ein leuchtendes Blau und nicht das krankhafte Rot von Albinos. Mit all diesen Merkmalen und einer Körpergröße von eins-neunzig ragte Peter schon unter seinen Nachbarn in San Francisco heraus. Umso mehr unter diesen Dorfbewohnern, die alle Schattierungen von Sonnenbräune aufwiesen.

"Nicht wirklich. Ich bin auch zu Hause eine Ausnahme."

"Wie ist es denn, dort zu wohnen?"

"San Francisco?" Was sollte er so einem Jungen von der Großstadt erzählen, der wahrscheinlich noch nie in seinem Leben etwas anderes als dieses Dorf gesehen hatte? "Es ist laut, voller Leute, und keiner hat Zeit stehenzubleiben und etwas zu genießen. Wie haben eine Menge Parks, aber die Leute joggen einfach nur durch. Keiner setzt sich hin, um den Duft der Bäume und Blumen zu genießen."

"Aber ihr habt Restaurants, Kinos und Theater."

Der Junge war doch nicht so weltfremd. "Und die sind alle so teuer, dass nur die reichsten Leute sich das erlauben können."

"Büchereien."

"Okay." Peter lachte. "Punkt für dich. Habt ihr keine Bücher?"

"Nicht die Sorte wie ihr. Unsere sind uralt und aus Papier."

"Papier? Du meinst …" In seinem Geschichtsunterricht hatte Peter davon gehört, dass bis ins einundzwanzigste Jahrhundert Bücher "gedruckt" worden waren. Schwarze Farbe auf dünne Schichten aus getrocknetem Holzbrei. Einmal gedruckt, veränderten sie sich nicht mehr, also musste man für jede einzelne Seite ein eigenes Blatt vorsehen, und sie am Ende alle zusammenbinden. Was für ein unbeholfener und Ressourcen-verschlingender Prozess! Ganze Landstriche hatte man abgeholzt, so sein Geschichtslehrer, um die immer wachsende Druckindustrie zu füttern.

Die Büchereien in San Francisco hatten noch ein paar der alten Dinger herumstehen, man durfte sie aber nicht anfassen. Alles andere waren richtige Bücher.

Er holte tief Luft. "Ihr habt wirklich Bücher aus Papier? Wie alt sind die denn?"

John zuckte die Achseln. "Manche aus dem zwanzigsten Jahrhundert, die anderen aus dem einundzwanzigsten."

"Die würde ich mir gerne einmal anschauen. Kannst du mir eure Bücherei zeigen?"

"Ich muss erst fragen."

"Wen denn?"

Der Junge antwortete nicht. "Es ist Zeit zum Essen. Bist du fertig?"

Peter stand auf. Er hatte sich überall eingeseift und der Schlamm war verschwunden. "Ich denke schon."

"Hier ist ein Handtuch. Ich habe auch saubere Kleidung für dich dabei."

Die Kleidung war das männliche Gegenstück zu den Kleidern der Frauen, ein kurzärmeliges Hemd zum Überstreifen und weit geschnittene kurze Hosen mit einer Kordel um den Bauch. Der Stoff fühlte sich glatt auf seiner Haut an, und inzwischen hatte sich Peter auch an das ständige Prickeln gewöhnt.

Unglücklicherweise ließ diese Kleidung seine Arme und Beine unbedeckt und betonte noch das Weiß seiner Haut. Unvermeidlich brachen dann auch alle Frauen und Mädchen in Gekicher aus, als er wieder beim Haus auftauchte.

Nun, er hatte diese Art von Gekicher sein Leben lang ertragen. Als Erwachsener stand er über diesen Dingen.

*

Das Abendessen bestand aus verschiedenen Sorten Gemüse und Früchten zum Nachtisch. Es schmeckte viel besser als er es in einer solchen Gemeinde erwartet hätte, die mit wenig oder keinem Kontakt zur Außenwelt auskommen musste.

Sein Appetit wuchs mit dem Essen und jeder Bissen brachte ihm eine neue Geschmacksexplosion. Er vergaß alles um ihn herum und schwelgte in diesen neuen Erfahrungen.

Zuletzt schob er seinen Stuhl nach hinten. "Das war Spitzenklasse. Vielen Dank für das Essen."

Jessica blickte ihn an. "Wie war das im Vergleich zum Essen bei den Außenseitern?"

"Das mit Abstand Beste, was ich je gegessen habe."

Jessica nickte, offensichtlich zufrieden mit seiner Antwort. Dann blickte sie zum Himmel.

Peter folgte ihrem Blick und sah, dass der fast volle Mond aufgegangen war und den Osthimmel beherrschte. Er konnte sich nicht erinnern, wann er den Mond zuletzt wirklich gesehen hatte. Zuhause bedeckte der allgegenwärtige Smog den ganzen Himmel mit dünnen Wolken. Einen hellen Fleck zu sehen, wo der Mond stand, war das Beste, auf das ein Kalifornier hoffen konnte.

Jetzt bemerkte er auch, dass das Prickeln auf seiner Haut stärker in der Richtung war, wo der Mond stand.

Er schüttelte seinen Kopf. "Ich muss noch meine Klamotten waschen. Der Schlamm hat sich so auf meiner Haut festgebacken, ich weiß nicht, was er mit meinen Sachen anrichtet."

"Darum haben wir uns schon gekümmert", meinte Ruth. "Du kannst sie morgen zurückhaben — wenn du sie haben willst."

Eine unangenehme Pause folgte. Meinten diese Leute, er würde länger hierbleiben?

"Ich hoffe", sagte Peter zuletzt, "ich kann euch den Gefallen erwidern. Ihr wart mir eine große Hilfe."

Angelina feixte ihn wieder an. "Mir fällt da bestimmt etwas ein."

Peter unterdrückte ein Aufstöhnen. Entweder hatte er seinen Instinkt völlig verloren, oder dieses Mädchen wollte ihn mit aller Gewalt in ihr Bett bekommen. Seine Nase erzählte ihm, dass Letzteres wohl die richtige Vermutung war. Besser jetzt abhauen, bevor es zu spät war. Er trank seinen Kräutertee aus und stand auf. "Bitte entschuldigt mich. Ich bin sehr müde und wünsche euch allen eine erholsame Nacht."

John hatte ihm gezeigt wo im Haus er schlafen sollte, also drehte er sich um und flüchtete, während hinter ihm das Gekicher anfing.
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Rainer Prem
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

Beitrag von Rainer Prem »

7

Sein Körper brannte. Der Mond stand hoch am Himmel und heizte seine Haut auf. Haut? Nein, sein Körper war von einem kurzen weißen Fell bedeckt.

War das ein Traum?

Das letzte, woran er sich erinnerte, war, dass er sich schlafen gelegt hatte. Das Dach des Hauses müsste eigentlich seinen Blick auf den Mond versperren.

Das musste ein Traum sein.

Angelina kam in den Raum, nackt, ihr Körper bedeckt mit schwarzem Fell. "Komm, mein Gefährte. Lass uns rennen." Sie streckte ihre Hand aus.

Jetzt war er sicher, dass es sich um einen Traum handelte.

Aber was soll's? Ich kann auch mitmachen.

Er griff nach ihrer Hand und eine unglaubliche Hitzewelle überflutete ihn.

Im nächsten Moment waren sie draußen, rannten durch das Gras in den Wald. Seine Augen waren viel näher am Boden als er gewohnt war. Er konnte sehen, dass er auf vier Pfoten lief. Zu seiner Rechten, fast auf Hautkontakt, rannte derselbe schwarze Wolf, den er am Morgen gesehen hatte. Jetzt wusste er es, dies war Angelina, seine Gefährtin. Jeden seiner Schritte und jede Wendung kopierte sie in perfekter Harmonie. Sie erreichten die Schwelle zum Sumpf, und Peter konnte Pfade riechen, fühlen, sehen. Pfade, die seine Kameraden, die anderen Wölfe, über Jahrzehnte hin mit ihren Gerüchen gezeichnet hatten.

Kameraden? Wölfe? Was denke ich da? Ich bin doch kein Wolf? Ich bin …

Doch die Freunde zu rennen überflutete ihn wie eine Woge und brachte ihn von diesen Gedanken ab. Er öffnete seine Schnauze und heulte vor Begeisterung.

Angelina stimmte darin ein und auch die drei Wölfe, die hinter ihnen rannten, mit schwarzem, blondem und feuerrotem Fell.

Wer kümmerte sich jetzt um die Kinder?

"Sie sind alt genug, um allein zu Hause zu bleiben", hörte er Angelinas Stimme direkt in seinem Kopf.

Er blickte sie an. Ihr Wolfsgesicht sollte eigentlich gar nicht in der Lage sein, Gefühle auszudrücken. Trotzdem konnte er ihr Feixen erkennen.

"Sie sind allerdings", fuhr sie fort—und jetzt war er auch in der Lage, ihre Belustigung in ihren Gedanken zu lesen —"noch zu jung für die Art von Vergnügen, die wir noch vorhaben."

Irgendwie war er von dieser Bemerkung nicht überrascht. "Nun", dachte er zurück, "dann versuch mich doch zu fangen", und beschleunigte.

Sie kreuzten die Grenze des Sumpfes, und er rannte schneller, schneller und noch schneller. Ein dunkler Streifen erschien vor ihm, ein Wasserlauf. Mit einem Satz war er darüber hinweg. Ein großer Baum lag quer. Peter duckte sich und raste darunter hindurch. Angelina blieb die ganze Zeit dicht neben ihm.

Er brauchte nicht länger seinen Kopf zu drehen, um genau zu wissen wo sie war. Nun, dies war ja schließlich ein Traum. War es doch, oder?

Als er wieder durch einen schmalen Durchlass raste, blieb sie zurück, war aber kurz dahinter wieder neben ihm. "Normalerweise", hörte er ihre Gedanken, "solltest du eigentlich mich jagen."

"Normalerweise", sendete er zurück, "bin ich ein Stadtmensch aus San Francisco und kein Wolf, der in Kanada durch den Wald rennt."

"Aber das hier ist nicht dein normales Leben." Ihre Gedankenstimme war jetzt viel ernster als Angelina jemals an diesem Tag gewesen war.

Nichts in diesen ganzen zwei Wochen seit seinem Absturz — zehn Tage, neunzehn Stunden, achtundsiebzig Minuten, behauptete sein Gehirn — war auch nur ansatzweise normal.

"Doch", behauptete Angelina. "Du musst es nur akzeptieren."

Er bemerkte, dass die einen großen Halbkreis gerannt waren. Nun lag der Sumpf wieder vor ihnen. Er lief langsamer über die schmalen Pfade bis zum anderen Ufer, und da war Annie plötzlich an seiner linken Seite.

"Und, hast du Spaß?", fragte sie, dasselbe Feixen in der Stimme wie ihre Tochter.

Peter lachte bellend. "Den besten Spaß meines Lebens."

"Und die Nacht hat gerade erst begonnen", kam von Angelina.

Plötzlich rannte sie von rechts in ihn hinein, und Annie blockierte seinen Weg nach links.

Er stolperte, fiel und überschlug sich; landete auf seinem Rücken auf einem weichen Flecken Gras.

Sofort war Angelina über ihm, und leckte seine Schnauze. Er konnte die anderen nicht mehr sehen, die waren wohl weitergerannt. Aber den Körper von Angelina zu fühlen — Fell auf Fell und dann plötzlich Haut auf heißer Haut …

Lust übermannte ihn. Er warf seine Arme um seine Gefährtin und zog ihr Gesicht zu seinem; küsste sie voller Verlangen. "Angelina", keuchte er. "Ich liebe dich." Nach einem halben Tag konnte das eigentlich gar nicht sein, aber irgendwie hörte es sich richtig an.

Ihr menschliches Gesicht grinste nur eine Handbreit von seinem, doch dann wurde ihre Miene ernst. "Ich liebe dich auch, mein Gefährte", flüsterte sie und rutschte an seinem Körper entlang, um ihn in sich aufzunehmen.
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Rainer Prem
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

Beitrag von Rainer Prem »

8

Peter öffnete die Augen und war mit einem Schlag hellwach. Was für ein Traum! Er lag auf seinem Bett im Blockhaus, immer noch mit demselben Hemd und Shorts bekleidet, mit denen er am Vorabend schlafen gegangen war.

Er musste dringend zu seinem Therapeuten, sobald er wieder zu Hause war. Von Sex mit Angelina zu träumen war, nach Wochen der Abstinenz, durchaus menschlich. Aber sie und er als Wölfe — das war fast schon pervers.

Er stand auf, und lief nach draußen, kratzte sich dabei gedankenverloren seinen Rücken. Plötzlich fanden seine Finger etwas. Er blickte hin. Ein Haar. Ein langes schwarzes Haar.

Das konnte doch nicht sein!

In dem Moment kam Angelina lächelnd um die Ecke. "Morgen, Liebling." Sie umarmte ihn und küsste seine Wange.

Peters Kopf wurde plötzlich ganz heiß. "Liebling?" Hilflos blickte er sich um. Die drei Mütter saßen mit einem wissenden Lächeln am Tisch. Sogar die Kinder schienen zu ahnen, was geschehen war.

O-kay. Dann hatte er also wirklich mit Angelina geschlafen. Aber die ganze Sache mit den Wölfen …

Und da fiel ihm auf, wie sehr sich die Szenerie seit gestern verändert hatte. Wo immer er auch hinsah, liefen Menschen herum - und Wölfe. Alles um ihn herum begann sich zu drehen.

"Nein!", schrie er auf. "Das kann nicht sein!"

Er stieß Angelina von sich, wandte sich ab und lief los. Nur weg von hier. Das mussten Halluzinationen sein. Er musste all das hinter sich lassen. Er lief schneller … und plötzlich schien es ihm das Natürlichste von der Welt, sich auf seine Hände fallen zu lassen und auf vier Pfoten weiterzurennen.

"Oh mein Gott!", heulte er. "Oh mein Gott!"

Er erreichte einen Teich, stoppte abrupt, und seine Verzweiflung holte ihn ein. Sollte er es wirklich glauben? Dann fasste er sich ein Herz und blickte in das Wasser. Auf sein Spiegelbild. Ein weißer Wolf mit blauen Augen starrte zurück.

Ich bin ja sowas von am Arsch.

Plötzlich tauchte das Spiegelbild des schwarzen Wolfes auf. "Komm mit!", befahl Angelina und wandte sich ab.

Was sollte er auch sonst tun. Zögernd lief er hinter ihr her.

Sie führte ihn durch das Dorf, wo ihn all die Menschen und Wölfe anstarrten, auf der anderen Seite wieder hinaus und hoch auf einen Hügel.

Die Kuppe des Hügels war kahl. Es gab keine Bäume, nur große Felsbrocken lagen herum.

Auf einem von diesen saß ein alter Mann. Peter hatte noch nie einen so alten Menschen gesehen. Das Gesicht vor ihm hatte tiefe Gräben, die Haare waren schütter und schlohweiß.

Und trotzdem leuchtete Leben in den Augen des Mannes und Kraft lag in der Bewegung, mit der er Peter zu sich winkte, ihn einlud, neben ihm Platz zu nehmen.

Ganz in Gedanken lief Peter zu ihm hin, wurde wieder zum Menschen und setzte sich auf den Felsen. Der Wechsel lief ab, als hätte er ihn Millionen Male geübt.

Angelina sprang auf den Felsen, legte sich hinter Peter, so dass er ihren Wolfskörper wie eine Rückenlehne benutzen konnte.

"Ich bin Stephen." Der alte Mann lächelte. "Ich weiß, dass du Fragen hast. Hier ist der Ort und jetzt ist die Zeit sie zu stellen."

Peter lachte auf. Klar hatte er Fragen. Die ganze Situation war so surreal.

Bevor er noch den Mund aufmachen konnte, kam ein anderer Wolf. Er — nein, es war eine weiße Wölfin — hüpfte zu Stephen auf den Felsen und schmiegte sich an ihn.

"Peter, das ist Maria, meine Gefährtin."

Da war das Wort wieder. Peter holte Luft, aber seine Gedanken rasten noch immer im Kreis.

"Ach komm, Junge. Kein Grund zu zögern. Du bist beileibe nicht der erste Außenseiter, den ich in unsere Welt einführen muss."

"Was … was seid ihr Leute? Werwölfe?"

Stephen lachte auf, und die Wölfe stimmten ein. Peter wurde klar, dass das wahrscheinlich die häufigste aller möglichen Fragen war.

"Wir bevorzugen den Begriff 'Wandler'. Werwölfe hatten in meiner Jugend eine schlechte Presse."

Was meinte der alte Mann mit diesem Ausdruck? Wieso sollte jemand eine Presse haben? Und wann war Stephens "Jugend", dass er so altmodisch sprach?

"Wie alt bist du?"

"Eine gute Frage", lachte Stephen. "Eine sehr gute Frage. Ich wurde im Jahr 2021 geboren. Mein hundertsechzehnter Geburtstag ist noch nicht lange her. In dieser Zeit habe ich viel zu viele Wandler sterben sehen, aber keinen an Altersschwäche."

Peter schüttelte langsam seinen Kopf. Fast das Doppelte der normalen Lebensdauer. Wie konnte das sein? "Woher kommt ihr?"

"Ich? Ich wurde in einer Kleinstadt in Kansas geboren. Wir? Wir Wandler? Keine Ahnung."

Peter öffnete seinen Mund, aber Stephen redete weiter.

"Der erste dokumentierte Fall eine Wolfsverwandlung passierte im Jahr 2050. Unglücklicherweise gab es zur selben Zeit eine ganze Reihe grausamer Morde. Nachher wurde das dann alles dem zugeschrieben, was die Zeitungen 'Die Werwolf-Seuche' nannten. Niemand hat, soweit ich weiß, jemals herausgefunden, was unser Ursprung ist."

Peter starrte ihn an. Dann wird das ja langsam Zeit. "Morde?", fragte er. "Heißt das, wir sind Mörder? Heißt das, mir steht das auch bevor?"

"Nein!" Stephens Stimme war plötzlich hart und bestimmt. Sein Lächeln war verschwunden. "Wir sind nicht die bösen Werwölfe aus schlechten Filmen. Wir sind nicht gezwungen, bei Vollmond unsere Gestalt zu verändern und alle um uns herum umzubringen."

Stephen machte eine Pause und blickte Peter tief in die Augen.

"Wir sind Wandler!"

Eine Welle von Autorität schwappte über Peter, als ob Stephen ihn an die Wand drücken wollte. Aber gerade das brachte ihn dazu, seine nächste Frage zu stellen. "Und die Morde?"

Stephen entspannte sich. "Nun, dazu habe ich so meine private Theorie." Er begann wieder zu lächeln. "Stell dir eine Hausfrau vor, die Wandler geworden ist. Ihr besoffener Ehemann will sie mit Gewalt nehmen. In schierer Verzweiflung wird sie zum Wolf und reißt ihm die Kehle heraus. Unsere Fänge und Klauen sind schon ziemlich scharf."

Peter nickte und sah auf seine Hände. Das klang einleuchtend.

"Oder nimm einen Drogenabhängigen in der Bronx, der seinen Stoff braucht", fuhr Stephen fort. "Er hat kein Geld, und sein Dealer will ihm das nicht mehr geben, was er mehr als alles andere braucht. Wäre er kein Wandler, würde er ein Messer nehmen und die Zeitungen würden es nicht eine 'bestialische, schreckliche, blutige Gräueltat' nennen."

Er hielt inne, schaute fragend zu Peter hin. Als er weitersprach, klang seine Stimme anders, intimer. "Nimm den Besitzer einer Bar in Lower Manhattan, der dem Mob all das Geld abtreten soll, dass er eigentlich braucht, um den Doktor für seine kleine Tochter zu bezahlen. Eines Abends kommen sie zu ihm, sagen ihm, wie gefährlich die Zeiten mit all diesen Werwölfen geworden sind, und dass sein Schutzgeld ab sofort das Doppelte beträgt. Natürlich haben sie die Knarren schon in der Hand, um jedem Angriff zuvorzukommen. Und natürlich schwimmt die Bar fünf Minuten später im Blut, und der Besitzer hat zwanzig Einschusslöcher im Leib, die er heilen muss. Und natürlich sucht die Polizei am nächsten Morgen nach einem 'blutdürstigen Massenmörder'."

Peter hatte aufgehört zu atmen. Diese Geschichte war viel zu detailliert, als dass sie ein ausgedachtes Beispiel sein könnte. Und es kamen viel zu viele Begriffe darin vor, mit denen er nichts anfangen konnte. Mob? Knarren? Einschusslöcher?

Er holte tief Luft. "Bronx? Manhattan? Wo ist das?"

"Das waren Stadtteile von New York. Einst die größte Stadt in Amerika. An der Ostküste, dort wo jetzt der Bluewood Forest steht. Die Regierung entschied, ein für alle Mal mit der Werwolf-Seuche aufzuräumen und autorisierte einen —" er malte Gänsefüßchen in die Luft "— begrenzten Nukleareinsatz. Es gab an die fünfzehn Millionen Opfer, von denen vielleicht eine halbe Million wirklich Wandler waren."

Stephens Stimme brach. Der Wolf hinter ihm wurde zum Mensch, zu einer Frau im mittleren Alter mit weißen Haaren, weißer Haut und hellblauen Augen. Sie umarmte Stephen und streichelte ihn, murmelte beruhigende Worte.

Peter konnte nur starren. Die weißen Haare kamen nicht vom Alter. Diese Frau hatte dieselbe Mutation wie er.

Irgendwann fand er seine Stimme wieder. "Dieser Barbesitzer. Was ist aus ihm geworden?"

"Ich war ein Feigling. Nach der Schießerei bin ich nach Atlantic City abgehauen. Als die Bombe fiel, war ich nicht in New York. Aber meine Frau und meine Tochter. Dann bin ich geflohen. Zuerst nach Chicago, dann nach Minneapolis, dann nach Winnipeg. Die Forces haben nicht noch einmal eine Atombombe abgeworfen, aber sie sperrten ganze Städte ab, und führten DNS-Tests an allen Einwohnern durch."

Peter runzelte seine Stirn. "Forces? Was ist das denn für ein Name?"

"Die Nachrichten nannten sie so. Es waren keine normalen Soldaten. Ich habe nie erfahren, wo die plötzlich herkamen. Wann immer sie Wandler fanden, brachten sie sie um, und jeden, der in den letzten Wochen mit ihnen in Kontakt gekommen war."

Peters Gehirn arbeitete an viel zu vielen Fragen gleichzeitig. "Und was ist das jetzt? Ein Virus?"

Stephen zuckte seine Schultern. "Ein Virus, ein Bakterium, Gas, keine Ahnung. Niemand hat eine Ahnung. Es ist etwas, das aus Menschen Wandler macht."

"Und ich? Wie bin ich infiziert worden? Ich habe die Veränderungen gespürt, lange bevor ich auf Angelina getroffen bin."

Stephen blickte ernst in seine Augen. Peters Blut schien zu gefrieren. Er wusste die Antwort, bevor Stephen sie aussprach. "Die Forces konnten die Infektion nicht stoppen. Alle Männer, Frauen und Kinder auf der Erde sind Wandler."
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

Beitrag von Rainer Prem »

9

Peters Gehirn schien in den nächsten Gang zu schalten. Ein Teil von ihm begutachtete das von außerhalb. Naja, wenn die "Seuche" so eine Wirkung auf ihn hatte …

Ein weiterer Teil war plötzlich dabei, einen riesigen Entscheidungsbaum aufzubauen aus lauter Vorbedingungen und Konsequenzen, raste durch die Struktur, fand neue Informationen, knüpfte neue Verbindungen.

Wenn alle Menschen auf der Erde Wandler waren, aber niemand, den er kannte, bevor er hier angekommen war, irgendwelche Symptome zeigte, dann mussten diese Forces einen Weg gefunden haben, die Infektion zwar nicht zu stoppen, aber alle Symptome verschwinden zu lassen. Und was blieb zurück? Ganz "normale" Leute, die sich für Menschen hielten und eine Lebensspanne von gerade einmal sechzig Jahren hatten.

Eine einzige Woche in Kanadas Wildnis hatte gereicht, um seinen Metabolismus zu reinigen. Wovon? Eine Droge, etwas im Trinkwasser, eine Strahlung von den immer-präsenten Energiesatelliten, etwas in dem fertigen Essen, das jeder aß, seit eine andere Seuche (oder vielleicht dieselbe?) alle Haustiere getötet hatte?

Peter schloss seine Augen, atmete ganz langsam, damit er all das verdauen konnte.

Ein anderer Gedankengang ploppte in seinem Hirn hoch. Energiesatelliten, das musste die Ursache gewesen sein, die ihn vom Himmel geholt hatte. Keine andere Katastrophe würde eine von zwei Kleinstädten auf zwei Millionen Quadratkilometern so genau ausradieren und ihn selbst nur ein paar Kilometer entfernt unversehrt lassen. Irgendeine Überladung musste stattgefunden haben. Der Satellit zerstört, die Strahlung abgeschaltet? Vielleicht. "Fünfzehn Prozent Wahrscheinlichkeit" stand an dem Zweig. Wie auch immer sein Geist das bewertet hatte, viel es war nicht.

Wieder zurück zum ersten Pfad. Siebzig Prozent Wahrscheinlichkeit für die Droge. Die musste spottbillig sein, leicht zu produzieren, wenn Milliarden von Leuten so leicht vergiftet werden konnten. Wer steckte dahinter? Die Regierung, multinationale Konzerne, eine weltweit agierende kriminelle Organisation.

Diese Forces. Er hatte nie zuvor von ihnen gehört. Gab es eine Chance, sie auszumanövrieren? Zu wenig Information, sagte sein Gehirn, zu viele Fragezeichen.

Und dann war da noch …

"Es könnte sein", hörte er jemand murmeln. Maria!

"Was?" Sein Gehirn schien auf Standby zu schalten, Wahrnehmung statt Denkarbeit.

"Du könntest der Eine sein."

Er schnaubte. "Der Eine? Erzähl mir nicht, dass es irgendwo eine Prophezeiung über einen 'Retter' gibt. Das ist ja so ein Klischee."

Maria blickte ihn an, lächelte und sagte nichts.

Er stöhnte auf. Alles, nur das nicht! "Ernsthaft? Eine Prophezeiung? Glaubst du an Magie oder sowas?"

Stephen lachte auf. "Okay, Herr Wissenschaftler. Ich bin ganz wild auf deine Interpretation. Wie funktioniert die Gestaltwandlung?"

"Was weiß ich?" Peter zuckte seine Schultern. "Fragmentierte DNS, eine spontane Mutation vielleicht?"

"Angelina, Kleine", sagte Stephen. "Zeig es ihm."

"Was zeigen?"

Angelina glitt elegant von hinter seinem Rücken auf den Boden. Sie blickte ihn an, dann begann ihr Körper langsam zu verschwimmen. Während der Wolf immer transparenter wurde, entstand ihn menschlicher Körper an seiner Stelle. Stehend, nicht auf allen Vieren. Komplett — was für eine Schande — angezogen. Nicht nur ihr Körper veränderte sich.

"Hm — ich sehe. Meine Theorie erklärt keine Kleidung."

"Ein cleverer Junge", sagte Maria grinsend. "Wie lange ist er schon da?"

"Eine Nacht", sagte Angelina, setzte sich auf Peters Schoß und legte ihre Arme besitzergreifend um seinen Nacken. "Ich habe ihn gestern Morgen eingeholt. Er lief schnurstracks hierher. Am Nachmittag ist er durch den Sumpf gelaufen, ohne auf den Weg zu achten. Fünf Minuten nachdem er in unserem Blockhaus angekommen war, begann er uns zu riechen. Ganz alleine. Ich habe ihm bei nichts geholfen."

Er runzelte die Stirn und holte seine Hände da weg, wo sie ohne sein Zutun hingekrabbelt waren. "Warum sagst du, dass ich nach …" Er zeigte umher.

"Wir nennen unser Dorf New Hope", warf Stephen ein.

"Ich war doch nicht auf dem Weg hierher. Ich lief von der Absturzstelle genau nach Süden."

"Angelina?"

"Er hat nach zwei Tagen zum letzten Mal auf seinen Kompass geschaut. Er hat New Hope viel genauer anvisiert als jeder Außenseiter vor ihm."

"Du Schwindlerin", grinste Peter. "Wie weit bist du mir in Wirklichkeit schon nachgelaufen?"

Angelina setzte ihr Feixen auf. "Wir haben Späher in die Gegend geschickt, wo das Feuer vom Himmel fiel. Als sie dich sahen, haben sie sofort einen Begrüßer angefordert."

Jetzt fiel Peter etwas wie Schuppen von den Augen. Er zeigte mit seinem Finger auf Maria. "Ist es mein Haar?"

Sie nickte. "Und deine Augen. Das ist Teil der Prophezeiung."

Diesmal unterdrückte er sein Aufstöhnen. "Und was steht sonst noch drin?"

"Das kann ich dir nicht sagen."

"Kannst nicht oder willst nicht?"

Sie zögerte, lachte unsicher. "Ich werde dir ganz sicher nichts erzählen. Wenn du der Eine bist, würde ich dich unter Erfolgszwang setzen, entweder der Prophezeiung zu folgen oder sie zu vermeiden."

Er nickte langsam. Auf eine verrückte Art machte das sogar Sinn.

Maria zuckte mit ihren Schultern. "Außerdem ist es schon acht Jahrzehnte her, dass ich sie geschrieben habe. Ich habe nicht mehr so viele Einzelheiten im Kopf."

Seine Augen wurden groß. "Du? Du hast diese Prophezeiung geschrieben? Was bist du denn? Ein Orakel?"

"Ah!", fiel Stephen ein. "Nun beginnst du auch, an Magie zu glauben. Sehr gut. Aber vergiss deine Wissenschaft darüber nicht. In meiner Jugend gab es einen Autor, der schrieb 'Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden.' Technologie oder Magie, wen juckt's?"

Peter wollte das nicht weiterführen. Er musste etwas wissen, das ihm sein Supergehirn noch nicht hatte verraten können.

"Ein Wandler zu sein, das heißt verschärfte Sinne. Riechen und Schmecken habe ich schon bemerkt."

Angelina nickte. "Die anderen kommen langsamer. Aber wir hatten gestern beim Abendessen kein Licht an."

Es war fast Mitternacht, als er ging; der Mond stand schon am Himmel. Der Mond …

Er wies auf einen Punkt zwischen seinen Füßen. "Gehe ich Recht in der Annahme, dass der Mond gerade an dieser Stelle steht?"

Angelina nickte wieder.

"Und jeder Vollmond ist wie letzte Nacht?"

Stephen blickte ihn an. "Das war kein Vollmond. Es sind noch zwei Tage bis dahin."

"Also wird es noch schlimmer?"

"Schlimmer?"

"Die … Begierde, Lust, Erregung."

Stephen warf einen Blick auf Angelina. "Was habt ihr mit dem armen Jungen gemacht?"

Sie feixte. "Nur die Standardbehandlung."

"Standard!", rief Peter. "Das war 'Standard'? Gibt es auch eine 'Spezialbehandlung'? Lädst du dann das ganze Dorf ein, mit mir Sex zu haben?"

Stephen legte eine Hand auf Peters. "Beruhige dich. Unsere typische Lebensweise ist nicht so." Er grinste. "Abgesehen vom Vollmond."

Peter hob eine Augenbraue. "Also kein stereotypisch blutdürstiges Werwolf-Verhalten an Vollmond, sondern was? Zeit für Orgien?"

Stephen zuckte die Schultern. "Wir sind schon sehr körperbetonte Leute."

Und jemand hatte es geschafft, all das in allen Wandlern weltweit abzuschalten.

Wer? Warum? Wie?
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

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10

"Bist du immer noch böse auf mich?" Angelina stand am Eingang zu Peters Schlafzimmer.

"Nicht wirklich." Die letzte Nacht war tatsächlich die fantastischste Erfahrung seines Lebens gewesen.

"Darf ich dann zu dir in dein Bett kommen?"

"Du hast gestern auch nicht gefragt." Aber er öffnete seine Arme.

Sie glitt neben ihn, eine Hand auf seiner Brust.

"Du hast es gebraucht", murmelte sie ganz nah an seinem Ohr.

Was ihm unmittelbar Gänsehaut sprießen ließ.

"Wenn du", murmelte sie weiter, "eine Woche früher gekommen wärst, hätten wir es langsam angehen lassen. Aber wenn wir nicht letzte Nacht mit dir gerannt wären, hättest du vielleicht das Haus umgelegt."

"Klar doch. Ich bin Samson, der Meeresbiologe."

Sie lachte glockenhell, ihr Rosengeruch wurde stärker. "Du hast noch gar nicht gemerkt, wie stark du geworden bist?"

Ihre Hand machte sich auf den Weg von seiner Brust zu seinem Bauch.

"Nein. Es sei denn du meinst mein Durchhaltevermögen letzte Nacht."

Wieder lachte sie. "Du warst ein … Tier. Wenn wir nicht so schnell heilen würden, wäre mein Rücken immer noch voller Kratzer."

Ihre Hand war jetzt unter seinem Hemd und bewegte sich wieder nach oben. Noch mehr Gänsehaut.

"Was ist mit Verhütung?"

"Kein Thema. Wir können unsere Fruchtbarkeit steuern."

"Du hast mich 'Gefährte' genannt."

"Nimm das nicht so ernst. Ich bin noch jung. Ich brauche noch keinen Lebensgefährten."

Ihr Finger malte kleine Kreise um seine Brustwarzen.

"Ist es das? Wie Wölfe, die sich für ein Leben binden?"

"Hmmm", sagte sie, während ihre Hand wieder auf dem Weg nach unten war.

Er fing sie ein, bevor sie zu tief rutschen konnte.

"Kann ich jetzt noch in die Zivilisation zurück?"

Das war die eine Frage, die er Stephen nicht gestellt hatte, obwohl sie den ganzen Tag ohne Pause weitergeredet hatten.

"Hmmm", wiederholte sie, ihren Mund dicht an seiner Wange.

"War das ein 'ja'?"

Sie setzte sich auf. "Ja, das war ein 'ja'. Du kannst hier jederzeit abhauen, aber wenn du das machst, kommst du wahrscheinlich nie mehr nach New Hope zurück. Nicht wenn du wieder in deiner großen Stadt bist und wieder dumm wirst. Du wirst das alles hier schon bald für Einbildung halten."

"Sagt dir deine Erfahrung als 'Begrüßer'?"

"Nicht wirklich. Du bist mein erster Fall. Aber ich habe mit den anderen gesprochen."

Er runzelte seine Stirn. "Und wodurch bin ich dein erster Fall geworden?"

Ihre Hand streichelte seine Wange. Wenn sie damit versuchte, ihn abzulenken, lag sie schief. Ein Teil seines Geistes konnte durchaus diese Berührung genießen, während der andere hochkonzentriert auf ihre Antworten hörte.

"Maria sagte, wir hätten das gleiche Alter."

"Hu?" Jetzt setzte er sich auch auf. Ja, sein Gesichtssinn war auch verbessert. Er konnte sie sehen wie am helllichten Tag. "Wie alt bist du denn? Ich dachte, du wärest gerade mal zwanzig."

"Wir altern langsamer. Ich bin siebenundzwanzig, geboren 2109."

"Ich auch, dann sind wir wirklich gleich alt. Wann ist denn dein Geburtstag?"

"Mom hat immer gesagt, dass ich wohl unbedingt die Mondfinsternis sehen wollte, am—"

"—neunten September." Peter war verblüfft. "Neun-Neun-Neun. Wir sind genau gleich alt."

Angelina legte den Kopf schief. "Ich weiß ja, warum wir so versessen auf alles sind, was mit dem Mond zu tun hat. Woher weißt du denn von der totalen Mondfinsternis in der Nacht?"

"Ich bin ganz zufällig darüber gestolpert, als ich meinen Geburtstag in der Almanacia nachgeschlagen habe."

"Was ist das denn?"

"Eine Website, wo alles unnötige Wissen gesammelt ist."

"Hu? Ach du meinst so Computerzeug."

"Ja, aber ist das nicht ein toller Zufall?"

Angelina legte ihm die Hand auf die Brust und drückte ihn nach unten. "Zufälle machen mich immer ganz scharf."

Peter lachte auf. "Du warst doch schon scharf, als du hier hereingekommen bist." Er tippte an seine Nase. "Du suchst doch nur nach einer Ausrede."

Sie hob die Decke von seinem Unterkörper. "Nein, ich suche nach ganz etwas Anderem. Und es sieht aus, als freue er sich, mich zu sehen."

*

Peter erwachte auf einer Lichtung, an Angelinas Rücken geschmiegt. Er war nicht ganz sicher, wie sie hierhergekommen waren, aber er erinnerte sich an mehrere Runden "Fang mich, wenn du kannst", und Angelina hatte immer gewonnen.

Während einer dieser Runden hatte er natürlich ausprobiert, was wahrscheinlich für jeden männlichen Wandler auf der Fantasieliste ganz oben stand: Sex in Wolfskörpern. Es war nicht wirklich überwältigend gewesen. Bei Wölfen war die — äh — Hundestellung sozusagen fest verdrahtet. Alles andere würde schwerwiegende Verletzungen zur Folge haben. Ihre Klauen waren nicht zum Streicheln gedacht. Alles in allem: Einmal und nie wieder.

Er reckte sich, versuchte dabei, Angelina nicht zu wecken. Die Sonne ging gerade auf, also hatte er wohl nur eine Stunde geschlafen. Nichtsdestoweniger fühlte er sich vollständig erholt. Das war wohl noch ein Vorteil, ein Werwo… Wandler zu sein.

Aber wenn das doch so viele Vorteile hatte, und keinen der Nachteile, die das Klischee des Werwolfs bildeten, warum gab es da Leute, die mit aller Gewalt versuchten, sie zu töten? Selbst auf die Gefahr hin, Millionen Unschuldiger zu verbrennen oder Milliarden zu vergiften.

Sein Gehirn fing wieder an, nach Antworten zu graben. Eine Liste tauchte auf, sortiert nach absteigender Wahrscheinlichkeit.

"Furcht vor dem Unbekannten" rangierte ganz oben. Aber es gab auch Fragezeichen. Dieser ganze Prozess, so billig er sein mochte, brauchte eine riesige Zahl an Installationen, und viele Leute, die ihn überwachten. Wer konnte die Geldmittel aufbringen? Und wer waren die, welche ihre Gleichgestellten unterdrückten? Eine neue Fragestellung formierte sich in seinem Hirn: Was, wenn sie das nicht waren? Wenn manche gleicher waren als der Rest?

Er setze sich mit einem Ruck auf.

Angelina öffnete ihre Augen. "Was ist los, Liebling?"

"'Fortschrittliche Technologie', hat Stephen gesagt. Sind wir vielleicht nur menschliche Versuchskaninchen für eine Horde Außerirdischer? Ist die ganze Welt nur ein riesiges Versuchslabor?"

Sein Gehirn kam mit einer Wahrscheinlichkeit dafür an. Zu hoch um sie zu ignorieren.

"O mein Gott!" Er sprang auf. "Ich muss hier verschwinden. Jetzt!"

"Liebling, sag mir, was ist."

"Ich kann nicht hierbleiben. Ich bin eine Gefahr für euch alle. Wo sind meine Klamotten und mein Rucksack?"

"In deinem Zimmer im Blockhaus? Warum?"

"Ich muss so schnell wie möglich nach San Francisco zurück."

Angelinas Gesichtsausdruck veränderte sich von Besorgnis zu Furcht. Dann holte sie tief Luft. "Steck alles in den Rucksack und renn als Wolf. Du bist auf die Weise viel schneller."

*

Peter rannte nach Süden, versuchte, keine Spuren zu hinterlassen. Wer auch immer hinter all dem steckte, konnte eine Möglichkeit haben, ihn zu aufzuspüren. Selbst wenn der Satellit über West-Kanada zerstört war, würde es nicht lange dauern, einen neuen in Position zu bringen. Er konnte nicht länger in New Hope bleiben. Er musste so viel Abstand zwischen sich und Angelina und die anderen bringen wie möglich.

Er musste immer noch tausend Kilometer überwinden, bevor er die Zivilisation erreichen würde. Angelina meinte, er könnte es in sieben Tagen schaffen. Danach wüsste keiner mehr, wo er gewesen war.

Vielleicht konnte er es auch schneller schaffen. Als die Sonne an diesem Tag unterging, fühlte er sich noch nicht erschöpft, also beschloss er, ein wenig weiterzurennen.

Es war Vollmond. Schon vor Sonnenuntergang konnte er den Mond wahrnehmen, danach ging er viel größer auf als Peter erwartet hatte. "Supervollmond", hatte Stephen es genannt; die Zeit, wenn der Mond der Erde am nächsten war.

Mit den Strahlen des Mondes fühlte Peter auch Energie und Kraft auf sich herunterregnen. Er beschleunigte. Noch mehr. Die Bäume um ihn herum verschwammen. Die Welt umher verschwand; nur ein Pfad vor ihm leuchtete, wies ihm den Weg.

Ein Bach. Ein Sprung und er war darüber hinweg. Er wagte nicht, sich umzuschauen. Das waren bestimmt zwanzig oder dreißig Meter gewesen.

Ein breiterer Bach, fast ein Fluss. Seine Geschwindigkeit war so hoch, dass sie ihn einfach darüber trug. Er rannte über das Wasser, seine Pfoten berührten die Oberfläche beinahe nicht. Yippie-ki-yay! Und immer noch fühlte er sein Herz langsam und kraftvoll schlagen. Kein Anzeichen von Überanstrengung.

Keiner hatte ihm erzählt, was der Vollmond mit seinem Körper machte. Wussten sie das überhaupt? Sie nutzten diese Nacht für Orgien, statt zu rennen wie er es tat.

Nun, sie mussten ja auch nicht schnell woanders hin.

Beim Einsetzen der Morgendämmerung brachte der Gegenwind neue Düfte mit sich. Rauch, Öl, menschlichen Körpergeruch. Er wurde langsamer. Eine Stadt musste vor ihm liegen. Diese Gerüche waren viel zu stark um von einem Dorf zu stammen.

Der Mond ging unter, sein Energiestrom ließ nach.

Als Peter die ersten Häuser durch das Unterholz sehen konnte, hielt er an und verwandelte sich.

Er zog seine eigenen Kleider an und vergrub Hose und Hemd, die er in New Hope erhalten hatte. Dann warf er sich in das nächste Dreckloch, damit die Sachen, die jetzt wieder gewaschen waren, nach zwei Wochen in der Wildnis aussahen.

Er stolperte aus dem Wald, auf den Fußweg zwischen den Häusern, und dann hinauf auf die Veranda des ersten Hauses. "Hilfe", rief er schwach. "Hilfe!" Dann schlug er gegen die Haustür und ließ sich auf der Veranda zusammensacken.
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

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12

Peters Nase brauchte nur vier Tage nach seiner Rückkehr in die Zivilisation, bevor sie wieder komplett dicht war. Er musste sich einen Inhalator kaufen, um überhaupt etwas Schlaf zu bekommen. Statt das Mittel zu benutzen, das beilag, fuhr er kurz an die See und füllte sich eine Gallone Meerwasser ab.

Trotz alledem war sein verbesserter Riechsinn verschwunden. Während der vierundzwanzig Stunden, die er unter Beobachtung in einem Krankenhaus in Winnipeg verbrachte, war er noch eine echte Belästigung gewesen. Auf der anderen Seite bekam er so viel an Information über die Menschen um ihn herum, dass er manchmal meinte, sogar riechen zu können, ob jemand ihn die Wahrheit sagte oder nicht.

Aber jetzt war er wieder komplett auf seinen gesunden Menschenverstand angewiesen.

Sandra Miller hieß ihn mit wortwörtlich offenen Armen willkommen. "Ich bin so erleichtert", schluchzte sie fast, während sie ihn wild umarmte. "Ich dachte, du wärest tot."

"Du siehst l aus", meinte Thorsten Thorstensson.

Das Gesicht des schwedischen Biologen war rot vor Begeisterung. Er quetschte Peters Hand wie in einem Schraubstock. "Gutes träning, är du?"

Peter nickte und quetschte zurück.

"Man sagt die kanadische vildmarken ist gefährlich. Viele rovdjuren — äh — Raubtiere. Welche getroffen?"

"Nicht wirklich. Ich habe nur das Heulen von Wölfen in der Entfernung gehört."

"Ich beneide dich", warf Sandra ein. "All dieses wilde und ungezähmte Land."

Peter grinste. "Unglückerweise ist die Zahl der Meereslebewesen in Kanadas Bächen nicht hoch genug, um eine Expedition zu rechtfertigen."

Allgemeines Gelächter.

"Ich war außerdem viel zu beschäftigt mit Überleben, dass ich gar nicht daran gedacht habe, Proben zu nehmen."

"Jaha", meinte der Schwede. "Vielleicht können wir mal zusammen vandring gehen."

Peter lachte, obwohl es ihm einen Stich gab. "Mein Bedarf daran ist erst einmal gedeckt."

*

Die kleine Gruppe an Doktoranden, die für Peter arbeiteten, war halb erleichtert und halb enttäuscht. Sie hatten wohl alle auf seine Stelle gehofft.

Ihre Enttäuschung wuchs noch, als Sandra bekanntgab, dass Peter erst einmal nicht zu seinen täglichen Pflichten zurückkehren würde. "Spann dich aus", sagte sie zu ihm, "und erhol dich von den Strapazen."

Sie hatte keine Idee, wie entspannt und erholt sein Körper war. Zumindest bevor er wieder anfing, in San Francisco zu leben.

Dieselben vier Tage ließen auch seine anderen körperlichen Vorteile verschwinden. Er versuchte, sich von fertigem Essen fernzuhalten, und nur frisches Obst zu essen, aber schon bald merkte er, wie hungrig er war. Er konnte auch schlecht Meerwasser trinken, also gab er es schon bald auf und verfiel in seine alten Gewohnheiten.

Er nahm jedoch Proben von dem, was er aß oder trank. Bis spät in der Nacht blieb er im Institut und ließ alles durch das Massenspektrometer laufen. Seine Erwartung, eine exotische Substanz zu sehen, wurde aber bitte enttäuscht.

Dann wurde ihm klar, dass die teure Maschine von einer der großen multinationalen Gesellschaften hergestellt und dem Institut gestiftet worden war, die ganz oben auf seiner kurzen Liste von Verdächtigen stand. Wenn die für die Vergiftung der Wandler verantwortlich waren, würden sie es sicher nicht herausposaunen.

Das reduzierte seine Möglichkeiten enorm, die Quelle zu finden, aber dann fiel ihm ein, dass es tatsächlich noch eine Alternative gab.

Im alten Flügel des Instituts stand noch ein DNS-Analysator in einem der unbenutzten Räume. Es handelte sich um ein uraltes Modell von einer kleinen Firma, die schon lange nicht mehr existierte. Vor fünfzig Jahren hatte sie als Top-Modell gegolten; sie war auch in der Lage andere Proteine zu analysieren, aber dann wurde sie zugunsten "verbesserter" Modelle in den Ruhestand geschickt. Sie stand nur noch herum, um in einem Zweifelsfall eine zweite Meinung zu liefern. Aber Peter hatte nie erlebt, dass eine der neueren Maschinen ein zweifelhaftes Ergebnis lieferte.

Bis jetzt.

Vielleicht bot es ihm eine bessere Chance. Peter starrte auf das alte Ding, und wischte erst einmal den Staub weg. Dann schaltete er es an und setzte sich davor. Es war nicht einmal mit dem Netzwerk des Labors verbunden, also musste er es lokal bedienen.

Nun stand ihm die nächste Herausforderung bevor. Anstatt eine Spracherkennung zu benutzen, musste er seine Kommandos über eine Tastatur eingeben, die außer Buchstaben und Ziffern noch viele andere Tasten aufwies. Das Menu auf dem Bildschirm sah auch ungewohnt aus. Es zeigte als Hintergrund ein Logo mit vier quadratischen Feldern in verschiedenen Farben. Das ganze Gerät wirkte und benahm sich, als hätte man es aus beliebigen Teilen zusammengeschustert.

Da dämmerte ihm etwas. Die neuen Maschinen verfügten alle über Spracherkennung, und das bedeutete eine Vielzahl an offenen Mikrophonen im Labor. Einige Geräte reagierten sogar durch eingebaute Kameras auf Fingerzeige, und jede einzelne von ihnen war online mit ihrem Hersteller verbunden, offiziell zu Wartungszwecken. Also konnten diese Gesellschaften leicht feststellen, wenn sich jemand auf verbotenes Territorium wagte.

Er blickte sich um, ob es in diesem Raum eine Video-Überwachung gab. Nichts. Der alte Flügel stand schon lange leer, also sollte er sich vielleicht eher darüber wundern, dass es hier überhaupt noch elektrischen Strom gab.

Es mochte ein Zeichen von Paranoia sein, aber er vermutete eine groß angelegte Verschwörung.

Schulterzuckend machte er sich an die Arbeit und programmierte eine komplette Testreihe aller seiner Proben.

Erwarteter Abschluss 5:30 a.m.

Das Ding hatte sogar noch dieses mittelalterliche Zeitformat.

Es würde eine lange Nacht werden. Da er ja sowieso schon dabei war, nahm er auch noch DNS-Proben von sich selbst. Dann fiel ihm ein, dass die ja ohne eine Vergleichsprobe recht nutzlos wären. Woher sollte er die bekommen?

Wo konnte er DNS-Proben von einer Person vor dem ersten Ausbruch finden? Auf einem Friedhof? Oder wo sonst würde man Körperteile von Leuten aus einem anderen Jahrhundert aufbewahren?

Er starrte aus dem großen Fenster, und sein Blick fiel auf das Museumsgebäude. Dort stellte man Skelette von Walen, Haien und anderen großen Meerestieren zu Schau. Besaßen die nicht auch ein menschliches Skelett zum Größenvergleich? Vielleicht bestand es aber auch aus Plastik. Trotzdem, versuchen konnte er es.

Würden die ein Mitglied einer anderen Fakultät Proben vom Knochenmark nehmen lassen? Insbesondere, wenn es sich um ein altes Skelett handelte?

Einige der Nachtwächter kannte er vom Sehen, und die rotierten doch durch die einzelnen Stationen. In dem Fall musste Peter ihm nur eine glaubhafte Geschichte auftischen, und er würde ihn ohne Aufsicht hineinlassen.

Und dann brauchte er nur noch … Sein Blick fiel auf das Regal, in dem glücklicherweise das ganze Zubehör für den DNS-Analysator lag.

Er stand auf, lief zum Regal, holte eine der großen Spritzen heraus und steckte eine Stahlnadel darauf.

Auf dem Weg über den Campus merkte er, dass seine Nachtsicht wohl noch nicht ganz verschwunden war. Er konnte noch recht gut im Dunkeln sehen.

"Zwei Wochen", hörte er plötzlich Thorstens Stimme hinter sich.

Peter erstarrte. Der Schwede musste sich wohl gut versteckt haben. Ohne seinen Geruchssinn …

"Zwei Wochen", wiederholte Thorsten und kam aus dem Dunkeln heraus. "Weißt du, dass ich auch einmal zwei Wochen in Lappland verschollen war?"

"Nein, davon habe ich noch nichts gehört."

"Mein Essen hatte ich nach ein paar Tagen aufgebraucht. Die zweite Woche war schlimm. All die Hitze, die durch meinen Körper strömte. Hast du auch so etwas bemerkt?"

Peter konnte gerade noch vermeiden zusammenzuzucken. Was wollte der Schwede da andeuten? Und wo war eigentlich sein Akzent geblieben? Peter richtete sich auf.

"Ich nehme das als ein 'ja'", fuhr Thorsten fort. "Glaubst du wirklich, du bist der einzige mit so einer Erfahrung? Verbesserte Sicht und Geruch, schnellere Reaktionen, mehr Körperkraft."

Peter bemerkte, dass der andere vermied, ihm in die Augen zu schauen. Seine Körperhaltung war … unterwürfig. Stephen hatte doch etwas erwähnt …

"Sprich weiter", sagte er, und versuchte dabei seine Stimme autoritär klingen zu lassen.

"Und dann kam die Vollmondnacht. Mein Körper von Haaren bedeckt, meine Kleidung in Fetzen. Ein Monster blickte mich aus meinem Spiegelbild im Wasser an. Ich rannte. Ich rannte, bis ich am Morgen zusammenbrach. Und die ganze Zeit wollte ich nur mein Rudel finden."

"Rudel?"

Thorsten blickte auf. "Wölfe leben in Familien. Wir Biologen nennen sie Rudel. Ich denke, Werwölfe haben die gleiche Organisation."

"Wandler", korrigierte ihn Peter ohne nachzudenken.

"Was?"

"Sie nennen sich — ach was — wir nennen uns 'Wandler'. Der Begriff 'Werwolf' hat im letzten Jahrhundert zu viel schlechte Presse bekommen."

"Woher weißt du das?"

"Sagen wir mal, ich habe mein Rudel gefunden. Aber im Moment brauche ich etwas Anderes. Willst du mitkommen?"

Der Schwede nickte.
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Rainer Prem
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

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13

(Hinweis: Das Kapitel ist sehr wissenschaftlich. Ich hoffe es ist verständlich. Wenn nicht, bitte melden.)


Im Endeffekt war es ganz leicht, in das Museumsgebäude zu kommen. Der Wächter kannte Peter, und ließ ihn hinein. Während Thorsten sich angeregt mit dem Mann unterhielt, sein schwedischer Akzent wieder in voller Blüte, nahm Peter eine Probe aus dem Rücken des Skeletts.

"Ich habe sie gefunden", rief Peter, als er wieder herauskam. Er winkte mit seiner Brieftasche. "Ich bin ja so ungeschickt."

*

"Du sagst, sie haben zu wenige Männer in dem Dorf?" Thorsten war immer noch verblüfft. "New Hope, hier komme ich. Ich besorge dir eine Karte und du zeigst—"

Piep!

Es war fünf Uhr morgens, und der alte Analysator begann, Ergebnisse anzuzeigen.

Peter zeigte auf den Bildschirm. "Wie sieht das für dich aus?"

Auf dem Bildschirm sah er ein komplexes Protein, das die Maschine in achtzig Prozent der Proben gefunden hatte, aber nicht identifizieren konnte.

Thorsten legte den Finger auf eine Stelle. "Diese vier Ringe heißen Gonane. Es ist der zentrale Teil eines jeden Steroids. Aber hier gibt es die gleichen Ringe noch einmal und hier auch. Also ist es ein Polysteroid."

"Wo kommt das her?"

"Nirgendwo. Laut meinem Studium gibt es so etwas überhaupt nicht."

"Bist du sicher?"

"Wir können natürlich in der Alman—"

"Nein!", unterbrach ihn Peter. Mit leiserer Stimme fuhr er fort. "Du glaubst immer noch nicht an unsere eigenen Schlüsse. Wir können keine Online-Ressourcen benutzen. Hast du keine eigene Offline-Bibliothek?"

Thorsten schüttelte den Kopf. "Zu Hause ja, aber nicht hier."

Peter runzelte seine Stirn. "Ich sollte eigentlich noch ein paar Bücher aus meiner Universitätszeit in meinem Haus haben. Ich muss mich durch die Kartons in meiner Mansarde wühlen, aber ich muss ihre Online-Verbindungen zuerst deaktivieren."

"Du bist ja noch paranoider als ich!"

Peter zuckte seine Schultern. "Auch Paranoiker können Feinde haben."

Dann piepte die Maschine wieder. Die Resultate der DNS-Analyse lagen vor. Peter war sicher, dass selbst ein Laie die gewaltigen Unterschiede sehen konnte, obwohl die DNS des Skeletts nach zweihundert Jahren teilweise zerstört war.

"Telomerase", sagte er. "Eine Menge Telomerase."

"Das ist nicht mein Bereich. Was bedeutet das?"

Peter wies auf die DNS des Skeletts. "Hier, das hier ist eine Telomerase-Fabrik. Das ist eine Art Reparatur-Kit für Gene. Jedes Mal, wenn sich eine Zelle teilt, werden einige Telomere am Ende des DNS-Strangs zerstört. Telomerase repariert sie wieder, aber Menschen haben zu wenige von den Fabriken. Also werden sie alt und sterben."

Er sah Thorsten an und studierte dessen Gesichtsausdruck, bevor er die Bombe platzen ließ.

"Wir hingegen haben etwa zehn Mal so viele Fabriken. Wir sollten in der Lage sein, mehr oder weniger unbegrenzt zu leben."

Und das ist definitiv ein Grund, uns alle zu vergiften.

"Aber die Leute um uns her werden alt und sterben." Thorsten schüttelte den Kopf. "Also muss dieses Polysteroid die Arbeit der Telomerase blockieren."

Peter nickte. "Nicht nur das. Hier ist die Stelle, wo Hormone gebaut werden, welche die Regeneration steuern. Neunzig Prozent dieser Region ist abgeschaltet."

Er holte tief Luft. "Und das sind nur die physischen Effekte. Irgendetwas blockiert unsere Fähigkeit zur Verwandlung; und diese Blockierung muss — äh —"

"— magisch sein?"

"Ich bevorzuge 'metaphysisch'."

"Ist doch egal."

*

Die Holztreppe in dem alten Haus protestierte, als Peter herunterkam. "Ich hab's!" rief er, seine Hände voller Bücher.

Er legte den Stapel dünner, flexibler Blätter auf den Tisch.

Thorsten griff zu. "Biologie der Meeressäuger, erstes Semester bis Zusatzstudium", las er laut. "Ja, das habe ich auch."

"Wirbellose des Ozeans." Peter seufzte. "Wie habe ich das geliebt! Die vielen Mikroskop-Videos."

"Das Oxford-Lexikon der Biologie, da könnte etwas drin sein." Thorsten schaltete es ein. "Nichts", sagte er zwei Minuten später.

"Welche Auflage ist das?"

"Die achtundzwanzigste. Wieso?"

Peter wühlte in dem Stapel. "Ich meine, da müsste auch noch eine ältere sein, die mir Grandpa vererbt hat. Hier. Die zehnte Auflage. Hoffentlich ist die Batterie noch nicht tot."

Seine Augen weiteten sich. "O Scheiße!"

"Hast du etwas?"

"Viel zu viel. 'Polysteroide werden vom weiblichen Körper beim Eintritt in die Menopause produziert.'" Er blätterte weiter. "Der männliche Körper produziert sie erst viel später. Sie fressen andere Hormone auf und bereiten den Körper auf das Sterben vor."

Seine Augen flogen über einen ellenlangen Artikel mit vielen anklickbaren Verweisen auf andere. "Und die neuere Ausgabe hat nichts davon?"

Thorsten schüttelte den Kopf. "Nichts. Und niemand, der moderne Hardware benutzt, kann diesen Text sehen."

Peter runzelte seine Stirn. "Das heißt, 'die da' fluten unsere Körper mit …"

"… einem Antagonisten der Telomerase-Fabriken."

"Und wem können wir das erzählen?"
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

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Eine Woche später steckten sie immer noch an der gleichen Stelle fest wie in der ersten Nacht.

Peter lief vom Institut nach Hause, schon vor seinen Erfahrungen in Kanada hatte er es genossen, die zwei Kilometer zu laufen, und manchmal auch zu rennen. Umso mehr jetzt, als er den Kopf voller Fakten hatte, die sein, nun wieder abgeschlafftes, Gehirn mühselig zusammensortieren musste.

Er hatte die drei Fragen Wer? Warum? und Wie? an seine Tafel geschrieben, um sich immer wieder an die Ziele zu erinnern, die er erreichen wollten.

Selbst das "Wie?" war nicht wirklich klar. Das Polysteroid gefunden zu haben, war eine Sache. Herauszubekommen, wie es in das Essen und ins Trinkwasser gelangte, stand auf einem ganz anderen Blatt. Sicher, in Kalifornien war Wasser eine knappe Ressource. Es regnete selten, also hing das Gedeihen aller Feldfrüchte von künstlicher Bewässerung ab. Hier konnte er vielleicht ansetzen.

Weiter im Norden bedeckten, soweit er das wusste, Gewächshäuser die Felder, um sie wetterunabhängig zu machen und die Niederschläge gleichmäßig zu verteilen. Früher einmal, so hatte er gehört, konnten die Bauern nur einmal im Jahr ernten. Heutzutage gab es, selbst in dermaßen weit nördlich gelegenen Gebieten wie Chicago oder Seattle, drei Ernten pro Jahr.

Aber er und Thorsten konnten nicht einfach in das nächste Wasserwerk hineinstiefeln und fragen, ob es irgendwo eine Stelle gab, wo dem Wasser eine fremde Substanz zugesetzt wurde. Vor allem nicht, weil derjenige, den sie fragten, womöglich der Verantwortliche für diese Verunreinigung war.

Peter hatte im alten Lexikon alles über diese offiziell nicht existierenden Substanzen gelesen. Einige der Links führten zu Artikeln, die Gegenstücke in der achtundzwanzigsten Auflage hatten. Dort konnte er ein anderes Muster erkennen. Die neueren Artikel stellten offensichtlich sorgfältig überarbeitete Versionen dar, in denen man nicht nur alle Rückverweise entfernt hatte, sondern auch der kleinste Hinweis fehlte, dass es den Artikel über Polysteroide je gegeben hatte.

Es musste sich wirklich um eine groß angelegte Verschwörung handeln, wenn die eine solch teure Aktion bezahlen konnten. Wie viele Bücher dieser Art mochte es geben und wie viele Wissenschaftler hatten sich an den Aktionen beteiligt?

Er öffnete die Vordertür seines Hauses, warf seine Schlüsselkarte auf das Sideboard und schaltete das Licht ein. Es funktionierte nicht. Das Haus blieb komplett finster.

Was war das? Alle Straßenlaternen brannten, und auch aus dem Nachbarhaus drang Lampenschein. Irgendein Defekt musste wohl eine Sicherung im Haus abgeschaltet haben. Er hörte ein Geräusch und wollte sich umdrehen. Aber da explodierte etwas an seinem Rücken und die Welt um ihn wurde schwarz.

. . .

Als er wieder zu sich kam, lag er bäuchlings auf dem Boden. Seine Finger fühlten eine klebrige Flüssigkeit unter ihm. Er stützte sich auf seine Hände. Flackerndes Licht beleuchtete den Flur, und er konnte eine große dunkle Pfütze unter sich sehen. Es sah für ihn aus wie Blut.

Er stand auf, und ließ seine Finger über seinen Rücken wandern. Dort, wo ihn die Explosion getroffen hatte, war sein Hemd kaputt. Es hatte ein ziemlich großes Loch, aber die Haut darunter schien unverletzt. Währenddessen blickte er an sich herab und sah ein weiteres Loch auf seiner Brust. Was auch immer ihn getroffen hatte, es war nicht so tödlich gewesen, dass seine glücklicherweise noch gut funktionierende Regeneration nicht damit fertig geworden wäre.

Dann wurde ihm klar, was das Flackern bedeutete. Sein Haus stand in Flammen! Meine Bücher! Er rannte ins Wohnzimmer, aber alle Bücher waren verschwunden.

Sie!

Irgendwie hatten "sie" Wind von seinen Forschungen bekommen. Schnell und effizient hatten sie ihn außer Gefecht gesetzt. Seine Bücher zu stehlen und ihn kampfunfähig zu machen und sein Haus anzuzünden, schoss allerdings ziemlich über das Ziel hinaus.

Das enthob ihn aber nicht der Notwendigkeit, hier abzuhauen. Er blickte sich um. In dieser Situation das Haus durch die Vordertür zu verlassen, wäre wohl etwas fahrlässig. Der dunkelste Teil der Umgebung lag hinter dem Haus. Ja! Er rannte die Kellertreppe hinunter — glücklicherweise hatten sie das Feuer in der Küche gelegt — dann nach hinten und hinaus durch eines der kleinen Fenster, durch das er gerade so durchzwängen konnte. Was hätte er jetzt darum gegeben, wenn er sich verwandeln könnte. Als Wolf brauchte er viel weniger Platz für seine Schultern.

Dann war er im Freien. Und jetzt?

"Ihr" offensichtlich nächstes Ziel war das Institut. Vielleicht hatten sie die Speicherchips mit seinen Resultaten noch nicht gefunden. Die Daten darauf waren der einzige Beweis, für die schockierenden Fakten, die er gefunden hatte. Außerdem musste er dringend mit Thorsten reden. Um diese Uhrzeit konnte der Schwede noch an seinem Arbeitsplatz sein.

Die Sirenen der Feuerwehr erklangen in der Ferne, und die blau-roten Lichter der Polizei am Himmel blinkten. Sie würden bald da sein, und er hatte kein Bedürfnis, ihnen Rede und Antwort zu stehen.

Er blickte nach rechts und links. Die kleinen Hinterhöfe dieser Gegend waren durch Holzzäune voneinander abgetrennt. Selbst so abgeschlafft wie er war, boten sie keine echten Hindernisse.

Schnell kletterte er über den ersten, zweiten und dritten dieser Zäune. Dann noch ein paar mehr, bis er die Querstraße erreichte. An der Ecke riskierte er einen kurzen Blick. Vor seinem Haus hatte sich schon eine Menschenmenge versammelt, um der Feuerwehr bei der Arbeit zuzusehen.

Auf der anderen Seite der Straße parkte ein schwarzes Auto ohne Kennzeichen. Es mochte ja purer Zufall sein, dass es da herumstand, aber vielleicht gehörte es ja auch "Ihnen". Sollte er einen Blick riskieren?

Doch bevor er sich entscheiden konnte, gingen die Scheinwerfer des Autos an, seine Rotoren begannen zu wirbeln, und es verschwand im Nachthimmel.

Naja, eine Entscheidung weniger. Er warf noch einmal einen Blick zurück auf sein Haus, das inzwischen unter Schaum verschwunden war, und lief los in Richtung Institut.
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Re: [EX16] Wolfsdämmerung

Beitrag von Rainer Prem »

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Eine Stunde vor Mitternacht kam er an. Der Himmel war pechschwarz. Es war Neumond, und der übliche Dunst verbarg die Sterne. Das Institut lag weitestgehend im Dunkeln, nur die Pfade auf dem Campus waren beleuchtet.

Ein kurzer Blick zum Gebäude zeigte als einziges Licht das in Sandras Büro. Seine Chefin war eine entschiedene Verfechterin von Management by example. Sie arbeite immer als erste am Morgen, und ging oftmals als letzte abends nach Hause.

Ihre Beziehung in den letzten beiden Jahren, seit sie den Posten übernommen hatte, war größtenteils geschäftsmäßig gewesen. Er mochte sie — er stand schon immer auf hochgewachsene, gutaussehende Frauen — und von Zeit zu Zeit schwelgte er auch schon einmal in unsittlichen Fantasien …

Aber dabei blieb es dann auch. Ihr Rang war viel zu hoch, als dass er versucht hätte aus seinen Fantasien mehr zu machen. Außerdem war sie zu alt, eine Mittvierzigerin schätzungsweise. Als sie ihn bei seiner Rückkehr umarmt hatte, war das ihr erster richtiger körperlicher Kontakt gewesen. Der Kontakt war allerdings so gewesen, dass er ernsthaft begonnen hatte, über die Art ihrer Beziehung nachzudenken.

Wieder einmal in Tagträume versunken, rannte er beinahe in eine Glastür und das, obwohl "sie" hinter ihm her waren.

"Konzentrier dich, Junge", murmelte er und lief die Treppe hoch.

Im alten Flügel herrschte Stille. Peter schaltete kein Licht ein. Alle paar Schritte hielt er inne und lauschte.

Den Raum mit dem DNS-Analysator erreichte er ohne Zwischenfall. Er öffnete die Tür einen Spalt und wartete wieder.

Plötzlich wurde ihm klar, wie bescheuert das war. Wenn wirklich jemand hinter der Tür auf ihn wartete, konnte er nur davonkommen, indem er wegrannte. Und dazu war er gerade nicht in der Stimmung.

Also stieß er die Tür weit auf und ging hinein.

Der Raum war leer.

Die Maschine war verschwunden, und die Regale leergeräumt. Er blieb in der Mitte des Raumes stehen. Plötzlich wusste er nicht mehr, was er als nächstes tun sollte.

"Ich habe ihnen gesagt, dass du kommen würdest", hörte er Thorstenssons Stimme vom Eingang. "Aber sie wollten mir nicht glauben."

Peter war nicht wirklich überrascht. "Ich dachte mir schon, dass du es warst. Woher sollten sie sonst von meinen Büchern wissen. Sag mir nur eins: Warum?"

"Warum? Sie haben mich zurück in die Zivilisation gebracht. Sie haben mich nicht alleine draußen in der Wildnis gelassen, und sie haben mir die Möglichkeit gegeben, anderen dieses Schicksal zu ersparen. Sie sind schon in Kanada und suchen nach diesen Leuten. Nur dumm, dass du mir nicht verraten hast, wo dieses New Hope liegt."

Nur gut, dass ich dir nichts von den tausend Kilometern verraten habe, die ich in einer Nacht gelaufen bin. Sie würden wohl hoffentlich an der falschen Stelle suchen.

Peter drehte sich um und schaute dem Mann in die Augen, den er für einen Freund gehalten hatte. "Und was hast du jetzt vor?"

In dem schwachen Licht, das von draußen hereinfiel, sah er Thorstensson näherkommen. In seiner Hand schimmerte Metall.

"Du hast zu viel herausbekommen", knurrte er. "Und du hältst zu große Stücke auf dein 'Rudel'. Du musst sterben."

Er hob das Ding in seiner Hand und zeigte damit auf Peter.

Peter hob seine Hände. Bewegte sich da etwas im Schatten hinter dem Schweden? "Wie willst du mich umbringen? Was hast du da in der Hand?"

"Das", knurrte Thorsten, kam einen Schritt näher und drückte Peter das Metallrohr in den Bauch, "ist einer der vergessenen Errungenschaften der alten Zeit. Man nennt es eine 'Pistole', und die wirst die erste Person sein, die seine Funktionsweise kennenlernen wird nach über fünfz…"

Thorsten begann am ganzen Körper zu zittern, und im selben Moment fühlte Peter einen Schock durch seinen Körper rasen. Er hatte noch Zeit zu sehen, wie Thorstens Augen aus den Höhlen traten, bevor es dunkel um ihn wurde.

Schon wieder!

. . .

"Es tut mir leid. Es tut mir ja so leid."

Peter kam langsam zu sich. Er hätte nie erwartet, diese Worte in diesem Moment aus diesem Mund kommen zu hören.

Er öffnete seine Augen. Sandra Miller hatte das Licht eingeschaltet.

"Ich wollte dir nicht weh tun", schluchzte sie und schüttelte ihn. "Peter, bitte wach auf."

"Okay, okay, ich bin ja wach." Er blickte in ein Paar rotverweinte Augen. "Was zum Henker hast du gemacht?"

Sie zeigte ihm ein Kästchen in ihrer Hand, aus dem ein Paar Drähte herausschauten. "Das ist ein 'Taser', ein elektrischer Werwolf-Betäuber. Er ist ziemlich alt, und ich habe so etwas noch nie benutzt. Um sicher zu gehen habe ich ihn ganz aufgedreht, und dann habe ich in Thorstens Rücken geschossen." Sie brach wieder in Schluchzen aus. "O Peter! Ich wusste doch nicht, dass er dich mit seiner Pistole berührte."

Langsam aber sicher kam Peter zu der Überzeugung, dass viel zu viele Zufälle zusammenkamen. Zuerst ein Mann, der dieselbe Erfahrung gemacht hatte wie er und mit "denen" zusammenarbeitete. Dann eine Frau, die "ganz zufällig" eine Waffe besaß, mit der man einen Wandler außer Gefecht setzen konnte.

Werwolf-Betäuber, wirklich? Er stand langsam auf, all seine Muskeln brannten, dann probierte er all seine Gliedmaßen durch. Es war wohl nichts ernsthaft beschädigt. Aber Thorsten lag immer noch unbeweglich auf dem Boden.

Sandra hatte sich zu Thorsten gehockt und schien seinen Puls zu fühlen. "Er ist tot, er ist tot!", schluchzte sie dann. "O mein Gott, ich habe ihn umgebracht. Ich bin auch nicht besser als diese Bestien!"

Peter ging hinüber. "Bestien? Welche Bestien?"

Sie blickte ihn an. Wenn er jemals ein Gesicht gesehen hatte, über das widersprüchliche Gefühle huschten, dann war es jetzt. Abscheu, Verzweiflung, vielleicht auch Begehren, eine sehr seltsame Kombination. "Ihr. All ihr Werwölfe."

Peter runzelte seine Stirn. "Aha, und, wenn ich mal fragen darf, was bist du dann?"

"Ein Mensch natürlich."
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